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Filme für die Kinopause: Der Serienklassiker „Akte X“

Erstaunliche Parallelen zur Corona-Krise

Als es losging mit dem Coronavirus, als auch hier angekommen war, dass man die komische Krankheit aus China ernstnehmen musste, als Debatten über Eindämmungsmaßnahmen geführt wurden und Ängste sich ausbreiteten, hatte ich ein Déjà-vu-Gefühl. Die Themen, die herumschwirrten und mit denen man sich plötzlich beschäftigen musste, kamen mir seltsam bekannt vor, nicht aus dem eigenen Leben, aus einem fiktionalen Universum (aber auch das kann sich ja wie Erlebtes anfühlen). Irgendwann wusste ich woher: Aus 25 Jahren „Akte X“.

Das (teilweise) Wiedersehen mit elf zwischen 1993 und 2018 entstandenen Serienstaffeln und zwei Kinofilmen macht in dieser Zeit großen Spaß. Die inhaltliche Nähe zur Gegenwart ist überraschend, die aktuelle Resonanz und Relevanz von Themen, die bis vor kurzem noch in die fantastische Science-Fiction-Ecke gehörten. Das fiktionale Spiel mit Fragen und Konflikten, die momentan jede Nachrichtensendung dominieren, wirbelt die ob der Ernsthaftigkeit der Lage mitunter etwas verengten Gedanken angenehm auf. Die dynamisch TV-tauglich erzählten Geschichten taugen als erholsamer Spiegel und Kontrast zu den Detaildebatten und Jammermelodien der meisten Medien. Der Klassiker der Vor-Streaming-Ära ist interessanterweise mit allen Stärken und Schwächen, mit seinen großen Fragen, die immer neue Fragen generieren, in vielem die Serie zum Thema.

Ein unbekanntes Virus. Paranoia. Gesellschaftliche Ausnahmezustände. Verschwörungstheorien. Regierungen, die verschleiern, die Krise für sich ausschlachten und auf billigste Weise von Ängsten profitieren. Das Rennen um den Impfstoff. Profite, die man mit Impfstoffen machen kann. Um Impfstoff bettelnde Menschen (diese Horrorfilmszene habe ich einmal live in meiner Hausarztpraxis erlebt: Wenn es schon keinen Corona-Impfstoff gibt, dann doch wenigstens die Grippeimpfung, bettelte eine Frau mit ausgefeilten Argumenten, warum ausgerechnet ihr diese zustünde. Der Impfstoff war aber auch schon lange ausgegangen.). Und Protagonisten, die versuchen, durchzublicken, Desinformationen aufzudecken, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden und irgendwie richtig zu handeln.

Es scheint fast so, als hätte Serienerfinder Chris Carter mit seinen oft als abseitig und versponnen angesehenen kalifornischen New-Age-Interessen Ideen verfolgt und Themen gesetzt, die 27 Jahre nach Start seines fiktionalen Universums tatsächlich die ganze Welt beschäftigen. Interessant für die Gegenwart sind dabei weniger die Außerirdischen, für die „Akte X“ je nach Geschmack verspottet oder geliebt wird, als das, worum es ihnen geht und womit sie handeln: Krankheitserreger und Gegenmittel, Krankheiten und ihre Heilung. Als hätten die Autoren den Punkt vorausgespürt, an dem unsere Gesellschaftssysteme besonders vulnerabel sind, steht in der Haupthandlung der Serie eine Virusthematik im Zentrum - der beängstigende Punkt, an dem die Natur etwas Destruktives entwickelt und für die Menschen unbeherrschbar wird. Damit geht die Hoffnung und Verführung einher, sie wieder beherrschbar zu machen, mit welchen Mitteln auch immer.

Krankheit und Heilung und das große Feld an beunruhigenden Fragen, Möglichkeiten, moralischen Dilemmata, die sich auftun, sobald man sich tiefer in dieses Thema hineindenkt; die große Frage nach der Wahrheit, ob sie existiert, wer sie kennt und wer sie mit welchen Motiven verkündet oder nicht; ob wir dem von Regierung und Medien vermittelten Gesamtbild einigermaßen trauen können oder ob wir uns gigantischen Manipulationen gegenüber sehen – die Themen des Frühlings 2020 sind die immer wiederkehrenden Themen des „Akte X“- Universums.

Viele Folgen und Handlungsstränge der Serie und der erste Kinofilm imaginieren eine Situation, in der die größte Bedrohung nicht mehr ein Atomkrieg ist, die Todesgefahr nicht mehr in Bomben oder Schusswaffen lauert, sondern in unsichtbaren Viren. Dieses Szenario und seine Folgen konnte man in den letzten Wochen real beobachten, in den Diskussionen der Politik, den neuen Herausforderungen unseres Alltags, als zentrales Narrativ jeder Nachrichtensendung. Der wertvollste Schutz ist in diesen Zeiten nicht mehr militärische Macht, kein Bunker oder äußerer Panzer, sondern Immunität. Mit dieser Währung wurde in „Akte X“ schon immer gehandelt, und sie ist bis zur letzten Folge der vorerst letzten Staffel die heißeste Ware in den Deals zwischen Aliens, Regierungsverschwörern, Wissenschaftlern und FBI-Agenten. Soweit man den Wirrwarr unterschiedlicher Antworten aus der „Akte X“- Mythologie einigermaßen konsistent zusammenfassen kann, ist das Hauptziel diverser Player: Eine aus außerirdischem und menschlichem Erbgut zusammengesetzte Hybridenrasse zu schaffen, die immun wäre gegen alle Krankheiten. Die Frage, ob das gut oder böse ist, ob für die potentielle Rettung der Menschheit jedes Mittel recht wäre oder ob das die kranke Gottphantasie eines machtbesessenen Zynikers ist, gibt in der Serie Anlass für unendliche Drehbuch-Twists. Und ist im Abgleich mit der Wirklichkeit gar nicht mehr so leicht abzutun als pure Sci-Fi-Spinnerei, sondern erinnert – minus die Außerirdischen - an moralische und philosophische Fragen, die Wissenschaft und Politik heute zum Beispiel beim Thema Stammzellenforschung umtreiben. Wobei auch die Außerirdischen gar nicht mehr so befremdlich sind, wenn man sie liest als Metapher für das Unbeherrschbare in der Natur, im Kosmos, als Kräfte, die sich menschlicher Kontrolle entziehen.

Auch die zentrale Rolle von Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen hat „Akte X“ auf einmal mit unserer gesellschaftlichen Gegenwart gemeinsam. Diejenigen, die das rettende Wissen um die unbekannte Gefahr haben und wie Ärztin Scully überhaupt erst mal die Fakten etablieren können, sind die Protagonisten im Kampf zwischen Gut und Böse, Polizisten- und Detektivfiguren tauchen meist als naive Handlanger des Systems auf. Die Serie wimmelt von ambivalenten Wissenschaftlerfiguren, mächtig durch ihr Wissen und erpressbar durch persönliche Schwächen, potentielle Retter der Menschheit, die oft durch Teufelspakte an die bösen Mächte gebunden sind. Die beunruhigende Grundfrage, die sich durchs „Akte X“ – Universum zieht, stellt sich hier besonders dringend: Wem kann man trauen und woher weiß man das? Wer weiß wirklich, was gerade passiert, wie gefährlich es ist und was man jetzt tun sollte? Eine Frage, die wir uns mit Beginn der Coronapandemie mehr oder weniger intensiv sicher alle gestellt haben, angesichts widersprüchlicher Informationen, überforderter Politiker und eigener Ratlosigkeit. In die Rolle der öffentlichen Meinungsmacher und Ratgeber sind die Wissenschaftler gerutscht (ohne *innen – oder gibt es eine einzige weithin bekannte Wissenschaftlerin, deren Thesen medial eine Rolle spielen?), Virologen werden wahlweise zu Heilsbringern stilisiert oder als interessengeleitete Teufel bekämpft. Natürlich setzen hier die Verschwörungstheorien unserer Tage an: Wer steckt hinter den vermeintlich wahrheitsverbreitenden Koryphäen? Wer bezahlt die Forschungsprojekte des Charité – Virologen Christian Drosten? Die WHO, größter Geldgeber: Die Bill – und – Melinda – Gates – Stiftung. Dann zu fragen, ob der Ausbruch der Pandemie wirklich auf natürlichem Weg erfolgt ist, ob die Entwicklung eines Impfstoffs wirklich nur altruistischen Interessen folgt, wer ein finanzielles Interesse daran hätte und ob sich hier eventuell jemand den größten Absatzmarkt geschaffen hat, den eine Pharmafirma sich erträumen kann – diese paranoide, hartnäckig die sozialen Medien durchwuchernde Theorie ist nicht weit entfernt von der Verschwörungsebene, die ein zentrales Narrativ von „Akte X“ ist. Hinter allem Unbill stecken hier immer die Spieler im Hintergrund, die alle Fäden in der Hand halten, die Regierungen, Behörden, Medien manipulieren und nach Belieben Versionen der Wahrheit inszenieren. Wer dieser Teufel genau ist? Im Universum von Chris Carter konkret eine Gruppe soignierter älterer Herren, vor allem einer, der im Laufe der Zeit auch seine Kollegen dezimiert, der meist rauchend vor einem Kaminfeuer sitzt und bei einem guten Cognac die Menschheit als Einsatzmasse in einem gigantischen Machtmonopoly behandelt. Letztgültig überprüfen, verifizieren können wir dieses Bild, diese Version der Wahrheit nicht, uns nur entscheiden, ob wir sie für möglich halten oder zumindest in unseren Breiten für Unsinn halten wollen...

Auch wenn einem das zu weit geht, diese Deutung zu abenteuerlich ist: In ihren besten Momenten inspiriert die Serie zum Hinterfragen aller vermeintlichen Gewissheiten und erzählt von der Schwierigkeit einer klaren Einteilung in gut und böse, sehr gegenwärtig, luzide und überhaupt nicht versponnen. Den immer geltenden Wert an sich gibt es nicht im „Akte X“ –Universum. Forschung ist nicht immer gut, Versuche mit Menschen sind nicht immer böse, Machtausübung und den Umgang mit Herrschaftswissen gibt es auch in beide Richtungen; die Komplexität der Themen erfordert feinere Unterscheidungsraster, angepasst an die jeweiligen Umstände. Das phasenweise drehbuchtechnisch in alle Richtungen wuchernde Erzählkonstrukt vermittelt in seiner Gesamtheit eine verunsichernde Komplexität der Bilder und Wertaussagen, die die Serie zur Ausnahme macht im Kreis der meist donnernd für bestimmte Werte einstehenden amerikanischen TV-Produkte und Blockbuster.

Wiedererkennungseffekte gab es jedenfalls in den letzten Wochen einige. Zum Beispiel das Monster of the Week aus der Folge „Vollmond (OT: „Cops“)“ in Staffel 7, das sich wandelt und für jedes Opfer die Gestalt der eigenen größten Angst annimmt. Ansteckend ist es auch, und es ging wohl an vielen Orten um in der letzten Zeit, auch in Berlin. Seine unterschiedlichen Gesichter waren und sind Ansteckung, Isolation, der Verlust geliebter Menschen, der Zusammenbruch der Wirtschaft, und sicher noch einige Varianten mehr, je nachdem, wie das individuelle Konstrukt aussieht, das ein Gefühl von Sicherheit verschafft.

Mit seinen Protagonisten präsentiert „Akte X“ zwei der hartnäckigsten Wahrheitssucher der TV-Geschichte und mit seinen Geschichten die hartnäckige Verweigerung, uns jemals die Wahrheit erfahren zu lassen. Das lag zeitweise am unstrukturierten Vorgehen der Autoren, wurde dann Methode und Markenzeichen. Inzwischen wirkt es wie ein Kommentar zu einer Sichtweise, die man in unserer hochkomplexen Gegenwart oft nicht umhin kann zu übernehmen: Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Wahrnehmung.
Verschiedene Perspektiven führen zu verschiedenen Wirklichkeitskonstrukten, geprägt von persönlichen Erfahrungen, Interessen, Vorteilen, Zielen. Wie radikal unterschiedlich die Realitäten sind, von denen verschiedene Gesprächspartner in der Auseinandersetzung mit Corona ausgehen, ist für mich das frappierendste Erlebnis dieser Zeit. Die meisten Gespräche funktionieren genau soweit, wie die Wahrnehmungsfilter der Beteiligten Überschneidungen aufweisen, das ist nicht neu, aber zeigt sich im Moment mehr denn je. Fiktionale Identifikationsfiguren, große fesselnde Geschichten als Spiegel für dieses Erleben gibt es nicht viele. Mulder und Scully und die X-Akten eignen sich gut dafür. Die Momente der Wahrheit entstehen in diesen Geschichten, die konsequent das Bild von der Lösung, die Erklärung, den alles enthüllenden Fund verweigern, immer diskursiv, im Gespräch zwischen den beiden Helden. Vielleicht ist das auch das Beste, worauf wir hoffen können. Und noch ein Hinweis für den Umgang mit Krisen steckt in den Figuren: Mulder und Scully sind Herz und Kopf, Intuition und Ratio und funktionieren am besten im Austausch.

Riesige Fragen, unverdrossene Suche, die Wahrheit ist vielleicht irgendwo da draußen. Oder mehrere. Und ob es jemals Staffel 12 oder weitere Kinofilme geben wird, entscheiden die dunklen Player im Hintergrund (bei Disney).

Susanne Stern