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Interview

„Es sollte nicht das Gefühl entstehen, dass wir in eine weit entfernte Vergangenheit zurückschauen.“

Interview mit Andreas Dresen über IN LIEBE, EURE HILDE

Andreas Dresen ist einer der erfolgreichsten deutschen Filmregisseure. Dresens Durchbruch im Kino war der Spielfilm NACHTGESTALTEN (1999), ein Film über drei Paare in einer Nacht in Berlin. HALBE TREPPE, erzählte über eine Liebesaffäre in einer Plattenbausiedlung, unterbrochen von Ständchen der Berliner Gruppe „17 Hippies“, war bis dahin Dresens größter Erfolg. In WOLKE 9 ging es um Sex im Alter, in HALT AUF FREIER STRECKE ums Sterben. Zuletzt drehte Dresen das Biopic GUNDERMANN über den Lausitzer Sänger, Baggerfahrer, Liedermacher und Stasi-Spitzel Jakob Gundermann und RABYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH über die Mutter des als mutmaßlicher Terrorist unrechtmäßig in Guantanamo inhaftierten Bremers Murat Kurnaz.

Pamela Jahn hat sich mit Andreas Dresen über seinen neuen Film IN LIEBE, EURE HILDE unterhalten.

INDIEKINO: Selten redet man beim Film zuerst über die Ausstattung, aber bei IN LIEBE, EURE HILDE scheint es angebracht. Können Sie sich denken, warum?

Andreas Dresen: Es gibt sowas wie einen Nazifilmkanon in Deutschland, ein ungeschriebenes Gesetz, das vorschreibt, wie Filme, die in der Kriegszeit spielen, auszusehen und sich anzufühlen haben: Sepiafarben, dramatische Musik, polierte Stiefel, wehende schwarz-rot-weiße Fahnen. Wir wollten das verhindern. Aber das heißt nicht, dass wir historisch unpräzise sind. Es sollte nur nicht das Gefühl entstehen, dass wir in eine weit entfernte Vergangenheit zurückschauen, sondern durchaus junge Leuten beobachten, die auch was mit jungen Menschen von heute zu tun haben. Dadurch entstand eine Form von Durchmischung in der Ausstattung, insbesondere bei den Kostümen, den Frisuren. Es hatte Auswirkungen auf den Look des Films insgesamt.

Ihre Titelfigur, Hilde, ist ein Beispiel für einen anständigen Menschen. Wer oder was hat Ihr persönliches Wertesystem geprägt?

Menschen wie Lothar Bisky, der ehemalige Rektor an der Babelsberger Filmhochschule, später in den 1990er Jahren eine Weile Chef der PDS, dann der Linkspartei. Das war eine hochanständige Person, einer, der in der DDR in seiner Position sehr viel riskiert hat. Er hat zum Beispiel verhindert, dass mein Kommilitone Andreas Kleinert und ich von der Schule fliegen, weil wir Filme gemacht hatten, die politisch nicht ins damalige System passten. Es ist leicht den Mund aufzumachen, wenn man jemanden hat, der schützend vor einem steht. So einer war Bisky. Ihn selber hat niemand geschützt, das hat er riskiert.

Was haben Sie von ihm gelernt?

Mut im Alltag. So wie man es auch bei Hilde und Hans sehen kann. Die Frage ist immer die gleiche: Bin ich bereit, mich einem System anzupassen, das mir nicht genehm ist? Oder wann ist der Moment, wo ich den Mund aufmache und mich dagegen auflehne? Die Antwort muss jeder selbst finden.

Sie haben sich entschieden, die Geschichte aus der privaten Perspektive zu erzählen. Die politische Motivation bleibt außen vor.

Aber es gibt sie. Man trifft eine politische Entscheidung ja nicht, indem man sie für politisch erklärt, sondern sie wird durch die Handlung politisch.

Zum Beispiel?

Wenn Hilde mit Hans darüber redet, was es bedeutet, Funksprüche über Truppenbewegungen der Nazis an die Sowjetunion zu übermitteln. Diese Informationen kamen damals von Harro Schulze-Boysen aus dem Reichsluftfahrtministerium. Das war eine gefährliche Aktion. Oder als Hilde die Heimatpost-Sendung im Radio hört, wo deutsche Kriegsgefangene an ihre Angehörigen zu Hause Nachrichten übermitteln, dass sie noch am Leben sind. Ihre Entscheidung, diesen Angehörigen Briefe zu schreiben, ist auch eine politische. Denn feindliche Sender abzuhören war streng verboten, darauf standen schwere Strafen, in dem Fall sogar die Todesstrafe.

Würden Sie Hilde als politische Person bezeichnen?

Sie ist jedenfalls nicht unpolitisch, nur weil sie keine Klassenkämpferin ist, die das Kommunistische Manifest gelesen hat und dann mit erhobener Faust losmarschiert. Vielmehr hat sie ein Gefühl, einen feinen Instinkt dafür, was richtig und was falsch ist. Hilde ist eher eine stille Heldin und die sind manchmal wichtiger als die lauten.

Die Liebesgeschichte ist rückwärts erzählt.

Noch etwas fällt auf in Ihrem Film: Auch die Nazis sind Menschen. Das macht alles umso perfider.

Ja, man kennt sie aus den Filmen meistens als Schreihälse, als prügelnde SA und SS-Horden. Ich glaube aber, dass der Großteil der Gesellschaft auch in dieser Zeit von den Mitläufern lebte, von den Opportunisten. Von denen, die einfach die gegebenen Regeln erfüllten und mitspielten. Denn das ist das Fundament, auf dem die Gewalt von Einzelnen oder eine institutionelle Gewalt wächst, die sich dann in der furchtbaren Hinrichtung von Hilde ausdrückt. Das wird nur möglich gemacht durch das Schweigen der breiten Masse. Und die finde ich deswegen interessant, weil ihr Handeln in der Konsequenz zwar nicht weniger schrecklich ist, man sich aber nicht so leicht von ihr abgrenzen kann.

Eine besonders spannende Nebenfigur ist die der Wärterin Frau Kühn, gespielt von Lisa Wagner. Warum ist sie so wichtig?

Anneliese Kühn ist eine historisch belegte Person. Sie war in Wirklichkeit allerdings noch viel hilfreicher als im Film. Sie hat für die Gefangenen geschmuggelt und sie auch sonst sehr unterstützt. In unserer Dramatisierung wird sie mehr zu einer Entwicklungsfigur. Zu Beginn ist sie eine Frau, die sich permanent auf die Vorschriften beruft und in ihrem Befolgen den Lebensinhalt zu sehen scheint. Nach und nach gewinnt sie jedoch einen gewissen Respekt gegenüber Hilde. Sie sieht, wie diese junge Mutter kämpft, wie sie sich für ihr Kind einsetzt, selbst hinter Gittern. Aus diesem Respekt wächst Zuneigung, und aus der Zuneigung heraus lässt sie kleine Regelverstöße durchgehen. Wenn sie plötzlich weghört, als Hilde ihrer Mutter von ihrem Urteil erzählt. Oder als sie die Nachbarzelle für sie aufschließt.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, Frau Kühn fängt in dem Moment an, die Regeln zu hinterfragen?

Es gibt von Hannah Arendt das Buch über Adolf Eichmann, „Die Banalität des Bösen“. Eichmann hat sich stets darauf berufen, eigentlich nur Befehle ausgeführt und Regeln befolgt zu haben. Deshalb treffe ihn keine Schuld. Aber hat man nicht immer auch eine moralische Verpflichtung, die Regeln auf den Prüfstand zu schicken? Darin liegt der Kern des Problems. Und bei Anneliese Kühn scheint dieser Prozess langsam einzusetzen. Das hat mich fasziniert.

Der Film beginnt mit Hildes Verhaftung. Warum haben Sie sich entschieden, diesen Aspekt ihrer Geschichte, ins Zentrum zu rücken?

Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gelesen habe, war es noch chronologisch erzählt. Die Geschichte war dadurch in zwei Teile geteilt. Die erste Hälfte erzählte die Liebesgeschichte inklusive des Widerstandskampfs, die zweite drehte sich um Hildes Zeit im Gefängnis mit der Geburt des Kindes, ihrem inneren Reifeprozess während der Gefangenschaft bis hin zur Hinrichtung.

Was hat Sie an dieser Erzählweise gestört?

Ich hatte das Gefühl, der Film würde dadurch auseinandergerissen werden. Außerdem war das Ende unheimlich düster. Durch die Verschränkung der verschiedenen zeitlichen Ebenen haben wir versucht, etwas von der Schwere rauszunehmen. Die Liebesgeschichte ist rückwärts erzählt, damit wir dem Schrecken des Todes am Ende die Hoffnung eines Anfangs gegenüberstellen konnten. Dazu hat dieses Spiegeln der beiden Ebenen für mich auch immer den Vorteil gehabt, dass man in der Tristesse des Gefängnisalltags immer wieder auch spürt, dass es ein Vorher gab, eine Freiheit, die nicht nur vom Kampf bestimmt war, sondern genauso vom Baden mit Freunden, vom gemeinsamen Eis essen, von Sorglosigkeit.

Ich finde, dass man Menschen, die ihren Anstand bewahrt haben, für ihren Mut feiern darf

Gab es eigentlich genügend zuverlässiges Material über Hilde und Hans Coppi und die Rote Kapelle?

Ja. Das Thema wurde von den Historikern gründlich erforscht, unter anderem auch von dem Sohn von Hilde und Hans, der quasi sein gesamtes Leben in den Dienst dieser Geschichtsschreibung gestellt hat. Allerdings stammen die Dokumente, die man in den Archiven findet, vor allem von den Nazis. Wir hatten Zugang zu den Gerichtsprotokollen und, was eigentlich das Schönste war, zu den Briefen, in denen Hilde einem wirklich sehr nahe kommt. Den Abschiedsbrief haben wir deshalb auch ungekürzt in den Film übernommen. Da merkt man schon am Ton, was für ein feiner, berührender Mensch sie war.

Recht und Gerechtigkeit ist ein Grundthema in Ihren Filmen. Hat das auch mit ihrem außerfilmischen Engagement zum Beispiel als Verfassungsrichter in Brandenburg zu tun?

Ich war elf Jahre in der Position tätig und habe mich in der Zeit natürlich ausführlich mit allen möglichen Rechtsfragen beschäftigt. Es ist aber keineswegs so, dass meine Arbeit am Gericht direkt in die Filmarbeit reinstrahlt. Mich hat die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft schon vorher interessiert. Es ist spannend, wie ich mich in einem Gemeinwesen als Individuum einordne, ohne meine innere Moral, meinen inneren Kompass zu verraten. Das kann man bei GUNDERMANN sehr gut sehen, der sich komplett an der Welt reibt, in der er unterwegs ist. Gleichzeitig wird er als Außenseiter behandelt. Er ist als Stasi-Mitarbeiter tätig, später wird er selbst bespitzelt. In RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH hat mich dagegen das Thema interessiert, inwieweit sich eine einzige Frau gegen die Mächte dieser Welt auflehnen kann, um Unrecht zu bekämpfen? Und bei Hilde ist das ähnlich. Das sind immer auch Fragen, die ich mir auch selbst stelle: Wie weit kann ich die Gesellschaft, in der ich lebe, beeinflussen? Oder sagen wir es noch einfacher: ein bisschen besser machen.

Gab es einen Schlüsselmoment, wo Sie gedacht haben, ich muss jetzt auch was tun?

Als die Mauer fiel, 1989, das war für mich wirklich eine einschneidende Erfahrung. Am 10. November, also am Tag danach, bin ich mit einem Freund nach West-Berlin rüber und wir standen auf diesem sehr breiten Stück Mauer am Brandenburger Tor. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich in meine ehemalige Heimat blicken konnte, aus Westperspektive. Ich dachte: Das ist ja ein Tor! Da kann man ja durchgehen! Bis dahin war das für mich immer nur das Ende meiner Welt gewesen, ein Synonym für Grenze. Ich hatte es einfach nie infrage gestellt. Aber in dem Moment hat sich für mich alles vom Kopf auf die Füße gedreht. Und ich wusste: Man sollte die Dinge, wie sie sind, nie als gottgegeben hinnehmen, sondern immer noch mal versuchen, sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Leider denken so die wenigsten Menschen. Viele leben in der Überzeugung, dass man eh nichts ändern kann.

Ja, und dann gehen die Leute eben auch nicht wählen, wo es ja eigentlich anfängt, dass man was machen kann. Dazu kommt: Nicht zur Wahl gehen spielt erfahrungsgemäß immer den Falschen in die Hände. Eine Demokratie ist eben immer nur so gut, wie diejenigen, die sich für sie einsetzen.

Wie begegnen Sie dem Vorwurf, Filme über NS-Widerstandskämpfer*innen würden es den Deutschen leicht machen, sich von der Schuldfrage zu lösen?

Dem würde ich widersprechen. Ich finde, dass man Menschen, die ihren Anstand bewahrt haben, für ihren Mut feiern darf, weil sie auch eine Vorbildfunktion haben. Das bedeutet ja nicht, dass man gleichzeitig die Täter entlastet. Es kommt auch hier wieder auf die Perspektive an und darauf, dass man den Opfern ihre Würde geben muss. Deswegen finde ich es wichtig, von diesen Menschen zu erzählen, nicht nur in der NS-Zeit - ich würde das immer wieder tun.

Das Gespräch führte Pamela Jahn.

Pamela Jahn