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Interview

"Es gibt nur eine wie Catherine Deneuve"

Interview mit Hirokazu Kore-eda über LA VERITÉ

Hirokazu Kore-eda ist einer unser absoluten Lieblingsregisseure, seit uns NOBODY KNOWS (2004) um vier Geschwisterkinder, von denen das älteste gerade mal zwölf Jahre alt ist und die sich umeinander kümmern, als die Mutter eines Tages spurlos verschwindet, mit seiner Zartheit und Präzision einfach umgehauen hat. Dann kamen unter anderem der rührende LIKE FATHER, LIKE SON (2013) und im vorletzten Jahr dann der verdiente Cannes-Gewinn mit SHOPLIFTERS (2018). LA VERITÉ ist nun Kore-edas erste im Ausland realisierte internationale Produktion. Thomas Abeltshauser hat sich auf dem Filmfest Venedig mit dem Regisseur über seinen neuen Film unterhalten.


INDIEKINO: LA VERITÉ ist Ihr erstes Projekt außerhalb Japans und in einer Ihnen fremden Sprache. Was hat Sie zu dem Stoff bewogen?

Hirokazu Kore-eda: Wenn Sie einen Regisseur nach seiner Inspiration fragen, ist die Antwort nicht immer die Wahrheit. Aber im Ernst: Es begann im Grunde mit einem Theaterstück, das ich vor 15 Jahren geschrieben hatte und das von einer gefeierten Schauspielerin handelte und davon, was passiert, bevor sie auf die Bühne geht und danach. Alles spielte sich in der Garderobe ab, aber ich habe das Stück nie beendet. 2009 begegnete ich Juliette Binoche und wir begannen darüber zu reden, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln. Als ich mein altes Stück vorschlug, verbanden wir es mit der Idee einer erwachsenen Tochter und ihrer Mutter, einer älteren Schauspielerin. Ich fing dann 2015 an, das Drehbuch zu schreiben.

Hatten Sie schon lange den Wunsch, außerhalb Japans zu drehen?

Überhaupt nicht. Ich hatte nie das Bedürfnis oder den Ehrgeiz, im Ausland zu arbeiten. Aber in den letzten zehn Jahren kamen immer mehr solcher Angebote. Und das konkreteste war das hier von Juliette Binoche, die einfach nicht lockerließ. Zum Glück!

Was waren dabei die Herausforderungen? Und wie haben Sie Klischees vermieden, denen andere Filmemacher, die außerhalb ihres Kulturkreises arbeiten, wie Woody Allen oder Asghar Farhadi, immer wieder verfallen sind?

Ich wollte auf keinen Fall diese Postkartenbilder von Paris, deswegen habe ich die Handlung auf Fabiennes Villa und den Garten sowie auf das Studio, in dem sie den Science Fiction-Film dreht, beschränkt. 90 Prozent finden an diesen Locations statt, und das reduziert das Risiko, Stereotype zu reproduzieren immens. Aber ich hatte auch früher nie das Gefühl, einen japanischen Film zu machen, genauso wenig wie LA VERITÉ jetzt ein spezifisch französischer Film ist. Die Crew, die Darsteller und ich haben schlicht den uns bestmöglichen Film gemacht.

Trotzdem: Wäre diese Geschichte so auch in Japan denkbar? Gab es Überlegungen, in Ihrer Heimat mit japanischen Darstellern zu drehen?

Das wäre nicht möglich gewesen. Ich hatte auch von Anfang an Catherine Deneuve im Kopf, weil ich eine Schauspielikone in dieser Rolle brauchte, die nicht nur die Filmgeschichte ihres Landes repräsentiert, sondern auch weltweit berühmt ist. In Japan gibt es keine noch lebende Filmdiva, die auf eine ähnliche Karriere zurückblicken könnte. Der Film lebt wegen Catherine Deneuve und dem, was sie verkörpert. Es gibt nur eine wie sie.

Beim Dreh selbst habe ich dann mehr auf Rhythmus und Tonfall geachtet als den Dialog selbst.

Wie haben Sie sie für die Hauptrolle der Fabienne gewonnen?

Meine Erinnerung an die erste Begegnung ist, dass sie ohne Pause rauchte. Und ich dachte nur: Wow, das sind eine Menge Zigaretten! Und dann sagte sie: „Ich habe keine Lust, Paris zu verlassen.“ Damit war die Sache klar. Der Rest war Plauderei. Welche Filme wir gesehen haben und mochten, welcher Regisseur in ihren Augen nicht besonders gut war und welche japanischen Restaurants ich in Paris besuchen sollte. So sprangen wir von einem Thema zum anderen, bis sie plötzlich aufstand und sich verabschiedete. Beim Rausgehen winkte sie noch kurz und meinte: „Ich glaube, wir könnten gut miteinander auskommen.“

Inwieweit haben Sie mit ihr die Parallelen zwischen ihr und der Figur gesprochen? Etwa über ihre Schwester, die 1967 tödlich verunglückte Schauspielerin Françoise Dorléac?

In all unseren Gesprächen wurde ihre Schwester nie erwähnt, aber den Rollennamen Fabienne hat Catherine Deneuve selbst gewählt. Es ist ihr realer zweiter Vorname, so wollte sie wohl zu verstehen geben, dass es in Ordnung ist, dass es Verbindungen zwischen ihrer Biografie und der Figur gibt und diese auch sichtbar sind. Ich habe sie viel über ihr Leben als Filmstar und ihr Verhältnis zu ihrer Tochter befragt. Dabei hat sie auch die Unterschiede deutlich gemacht, etwa dass sie sich im Gegensatz zu Fabienne sehr gut mit ihrer Tochter Chiara Mastroianni versteht, sie standen ja mehrmals gemeinsam vor der Kamera. Sie betonte auch, dass sie niemals mit einem Mantel oder Schuhen in Leopardenprint erwischt werden würde. Letztlich spielt sie sich nicht selbst, aber dieser leicht sarkastische, aber liebevolle Duktus etwa ist natürlich ganz Deneuve. Zu Beginn des Films etwa, wenn der Interviewer Fabienne fragt, welche Schauspielerin in Frankreich ihre DNA habe, und sie sagt „keine“, das ist original Catherine.

Es geht in Ihrem Film auch um das Spielen von Rollen, vor der Kamera, aber auch im realen Leben, im Alltag. Was hat Sie daran interessiert?

Das ist für mich der Kern der Geschichte. Wie durch den Akt des Schauspielens Mutter und Tochter die Chance haben, wieder eine Beziehung zueinander aufzubauen. Aber ist Schauspielen wirklich Illusion und Lüge? Ist der Vortrag eines geschriebenen Monologs zwangsläufig weniger ehrlich oder weniger wahrhaftig als etwas spontan Gesagtes? Wir präsentieren uns ja auch im echten Leben. Mit diesen Fragen und Themen setzt sich auch der Film auseinander und spielt damit.

Wie arbeiten Sie dabei derart sensibel mit den Darsteller*innen und dem französischen Dialog, ohne selbst die Sprache zu sprechen?

Ich hatte für sechs Monate eine herausragende Dolmetscherin, die dafür sorgte, dass ich zu keinem Moment wegen der Kommunikation und fehlender Sprachkenntnisse in Stress geriet. Aber es stimmt natürlich, ich konnte nicht unmittelbar Regie führen oder direkt Anweisungen geben, es ging immer über sie. Ich bin zunächst mit der gesamten Filmcrew und danach mit allen Darsteller*innen das Drehbuch durchgegangen und wir haben dabei über jede Szene konkret gesprochen, die unterschiedlichen Stimmen herausgearbeitet, damit wir uns alle über den Ton des Films einig sind. Und sobald wir dieselbe Vorstellung von dem Film hatten, den wir zusammen machen wollten, war die Sprachbarriere nicht mehr relevant. Beim Dreh selbst habe ich dann mehr auf Rhythmus und Tonfall geachtet als auf den Dialog selbst.

Ton und Tempo sollten leicht und trocken sein, wie das klare Herbstlicht am Ende des Films.

Sie arbeiten immer wieder mit Kinderdarstellern zusammen, so auch hier. Wie haben Sie das Mädchen gefunden und hat sich Ihre Art der Regieführung verändert?

Wir haben sie durch ein Casting gefunden, sie hatte bis dahin nur in ein paar Weihnachtsstücken mitgewirkt, aber nie vor der Kamera gestanden. Bei meinen bisherigen Filmen hatte ich den Kindern immer erst morgens erzählt, was heute gedreht wird, und immer erst bei jeder Szene ins Ohr geflüstert, was sie sagen sollen. Das ging hier natürlich nicht, ich musste mich auf die Dolmetscherin verlassen. Aber auch das Mädchen kannte das Drehbuch nicht, sie wusste anfangs nur, dass sie zu ihrer Großmutter zu Besuch fahren. Sie lernte immer nur genau das, was für den jeweiligen Moment notwendig war.

Es gibt einen Film im Film, die Dreharbeiten eines Science Fiction-Dramas. Warum?

LA VERITÉ spielt auf mehreren Erzählebenen, neben der Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Catherine Deneuve und Juliette Binoche in der realen Gegenwart gibt es Rückbezüge zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Und das wollte ich durch diese fiktive Ebene des Films im Film verbinden, in der eine weitere Mutter-Tochter-Verhältnis wie ein Echo das Geschehen reflektiert.

Wie haben Sie den Tonfall des Films gefunden, der sehr elegant zwischen feinem, scharfzüngigem Humor und Reflektionen über das Altern und Bereuen changiert?

Ich wollte ernsthafte Themen mit leichtem, komödiantischem Ton verhandeln. Manche Szenen und Dialoge wirken auf dem Blatt fast böse und grausam, ich wollte ihnen die Schwere nehmen, ohne ihnen die Tiefe zu nehmen oder sie albern wirken zu lassen. Ton und Tempo sollten leicht und trocken sein, wie das klare Herbstlicht am Ende des Films.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser