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Interview

"Es kommt einem vor, als sei das alles erst gestern passiert, oder morgen"

Interview mit Kathryn Bigelow zu DETROIT

Kathryn Bigelow ist immer noch die einzige Frau die jemals mit einem Oscar für die beste Regie ausgezeichnet wurde (für THE HURT LOCKER, 2010), und sie war eine der ersten Frauen, die sich an die „Männergenres“ Action, Thriller, Sportfilm und Kriegsfilm heranwagte. In BLUE STEEL (1990) verliebt sich eine Polizistin in einen Serienmörder und liefert sich schließlich einen erbitterten Kampf mit ihm, POINT BREAK (1991) erzählte einen Actionthriller im Surfermilieu und machte Keanu Reeves und Patrick Swayze zu Sexgöttern, im Sci-Fi-Krimi STRANGE DAYS (1995) wird mit Erinnerungen gedealt und in ihren beiden jüngsten Filmen THE HURT LOCKER (2010) und ZERO DARK THIRTY (2012) verhandelt sie den „War on Terror“ im Irak und in Afghanistan. Mit DETROIT hat sie nun ein historisches Drama über den "Long Hot Summer of 1967“ gedreht. Pamela Jahn hat sich für INDIEKINO BERLIN mit Kathryn Bigelow über DETROIT unterhalten.

INDIEKINO BERLIN: Frau Bigelow, Sie sind Ende der Sechziger Jahre selbst auf die Straße gegangen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Damals waren Sie noch ein Teenager - wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Kathryn Bigelow: Ich bin im nördlichen Kalifornien aufgewachsen, und damals bei den Demonstrationen dabei gewesen zu sein, hat mir vor allem gezeigt, was es heißt, eine kollektive Stimme zu haben, und wie kraftvoll und stark diese Stimme sein kann. Das war sehr wichtig für mich.

Als Mark Boal zum ersten Mal mit der Idee zum Drehbuch an Sie herantrat, war der Polizist, der im August 2014 den jungen Schwarzen Michael Brown erschossen hatte, gerade von der Anklage befreit worden.

Ja, es war etwa um diese Zeit. Das war... es ist kompliziert: Rassismus, Polizeigewalt, da ist immer unheimlich viel Emotionalität im Spiel. Aber als ich parallel von dem Fall im Algiers Motel erfuhr, dachte ich mir: Das ist jetzt fünfzig Jahre her und trotzdem kommt es einem vor, als sei das alles erst gestern passiert, oder morgen. Ich hatte das Gefühl, die Ereignisse würden sich permanent wiederholen – ob Trayvon Martin oder Philando Castile, Freddy Gray oder Eric Garner. Es ist höchste Zeit, dass wir in Amerika einen sinnvollen Dialog darüber führen, was da passiert. Natürlich geht es mir als Regisseurin immer auch darum, spannende Geschichten zu erzählen, aber das Material muss für mich in erster Linie eine soziale Bedeutung haben. Und diese unmittelbare Relevanz habe ich hier gespürt. Das hat mich motiviert, den Fall zu verfilmen. Kein Mitgefühl zu zeigen, heißt Gleichgültigkeit zu praktizieren.

Geht es Ihnen in erster Linie darum, Mitgefühl zu wecken?

Ich denke schon. Wobei es jedem Zuschauer selber überlassen bleibt, wie er mit dem letzten Teil des Films umgeht. Wir haben uns bemüht, die Situation so gut recherchiert, akkurat und authentisch wie möglich darzustellen. Nun ist es am Publikum, sich das Ergebnis anzuschauen und in irgendeiner Form darauf zu reagieren.

Das Material hätte sicherlich auch eine mehrteilige Miniserie hergegeben

Bis auf den Polizisten Philip Krauss, gespielt von Will Poulter, sind alle Figuren im Film den realen Personen nachempfunden, die in besagter Nacht im Algiers Motel anwesend waren. Haben Sie noch woanders zugunsten der Handlung auf Wahrheit verzichtet?

Krauss ist zwar ein Gemisch aus verschieden Charakteren, aber man darf auch nicht vergessen, dass es sich hier nicht um eine Dokumentation handelt. Der Film ist die Dramatisierung einer Reihe von Ereignissen. Das heißt, vieles musste komprimiert werden. Das betrifft die Figur von Krauss, aber vor allem auch die Gerichtverhandlungen. Der Prozess dauerte insgesamt anderthalb Jahre, in Wirklichkeit waren es sogar drei separate Verfahren, die wir im Film zu einem zusammenziehen. Entstanden ist daraus ein zwei Stunden und fünfzehn Minuten langer Kinofilm, obwohl das Material sicherlich auch eine mehrteilige Miniserie hergegeben hätte.

Was war die größte Freiheit, die Sie sich erlaubt haben?

Genau das. Die Tatsache, etwas derart Kompliziertes extrem zu verdichten, um das Ganze in eine narrative Form zu bringen. Das ist nicht einfach. Denn gleichzeitig möchte man als Filmemacher natürlich auch ein möglichst großes Publikum erreichen, um den Dialog zu fördern. Das heißt, auch in der Hinsicht bleiben Kompromisse nicht aus.

Denken Sie, dass Sie mit dem Film in der aktuellen Diskussion um Rassismus und Gewalt gegen Schwarze in den USA etwas bewirken können?

Mein Anliegen war es, mit der Geschichte, die erzählt wird, das Unvorstellbare menschlich zu machen und dadurch Empathie zu erzeugen. Denn in dem Moment, wo es gelingt, ein bestimmtes Einfühlungsvermögen zu entwickeln, kann man... ich weiß nicht, verändern ist in dem Zusammenhang ein sehr starkes Wort, vielleicht zu stark, aber man kann es hoffen. Man kann immer optimistisch sein. Und es gibt kleine Lichtblicke: Neulich erst wurde der Film auf dem Capitol Hill gezeigt. Veranstaltet wurde die Vorführung von dem US-Kongressabgeordneten John Conyers Jr., der einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des „racial profiling“, der Fahndung nach rassischen Kriterien erarbeitet hat. So ein Gesetz durchzubringen, wäre ein echter Durchbruch, und wenn der Film etwas dazu beitragen kann, dass darüber diskutiert wird, dann ist das ein Schritt in die richtige Richtung.

Seit der Film in Amerika gestartet ist, kommt von allen Seiten die Frage auf, ob und inwieweit eine weiße Regisseurin schwarze Geschichte verfilmen darf. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?

Es ist wichtig, darüber zu reden, sehr wichtig sogar. Was die vorherrschende rassistische Ungerechtigkeit und den Rassismus im Allgemeinen betrifft, das sind Dinge, die uns alle etwas angehen, von denen wir alle tief erschüttert sind, quer durch die verschiedenen Kulturen. Und ich denke, es ist an jedem selbst, etwas dagegen zu tun. Es gibt ein großartiges Zitat von Heather Heyer, der jungen Frau, die in Charlottesville getötet wurde, die in ihrem letzten Facebook Eintrag schrieb: „Wer sich nicht empört, schaut einfach nicht hin.“ Punkt. Und das gilt für alle und jeden von uns. Was damals im Algiers Motel geschehen ist, hat mich bewegt. Bin ich deswegen davon überzeugt, dass ich die richtige Person war, einen Film darüber zu machen? Nein. Aber ich hatte die Möglichkeit dazu, eine Geschichte auf die Leinwand zu bringen, die seit fünfzig Jahren nicht mehr erzählt worden war, und deshalb habe ich mich dazu entschieden, sie zu erzählen, und zwar so gut und mit so viel Respekt wie möglich.

Es liegt an jedem einzelnen von uns, etwas zu tun. Egal was

Hatten Sie Unterstützung bei der Recherche?

Ich hatte zwei hervorragende Experten an meiner Seite: Michael Eric Dyson, der in Georgetown unterrichtet, und Henry Louis Gates, Jr. von der Harvard Universität. Beide haben zahlreiche Bücher über afroamerikanische Geschichte veröffentlicht und sie haben mir während meiner Arbeit an dem Film immens dabei geholfen, die Zusammenhänge zu verstehen, die schließlich zu den Ereignissen geführt haben, um die es in Detroit geht.

Würden Sie sagen, dass die Sequenz im Motel zu den schwierigsten zählt, die Sie jemals gefilmt haben?


Ja, definitiv. Hundert Prozent. Für mich, für die Schauspieler, für die Crew, für alle. Allerdings muss man dazu sagen, dass sich im Laufe des Drehs dadurch auch eine der engsten Kameradschaften zwischen Cast und Crew entwickelt hat, die ich jemals am Set miterlebt habe. Diese Verbundenheit zwischen allen Beteiligten war schon erstaunlich. Jeder wusste, worum es geht, dass dies eine Geschichte ist, die raus muss, und der Gedanke allein brachte alle zusammen.

Wie lange dauerte der Dreh im Motel allein?

Drei Wochen.

Was tun Sie, um nach so einer Anstrengung wieder runterzukommen?

Sehr wenig. Ich checke mein Drehprotokoll, um zu schauen, was danach kommt, um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten.

Sie haben den Film noch während der Obama-Präsidentschaft gedreht. Haben Sie sich jemals vorstellen können, dass Sie es nun mit einem Präsidenten zu tun haben, der Rechtsextremisten verteidigt?

Niemals. Es ist ein Hohn, dass er die Rechtextremisten nicht verurteilt. Das ist peinlich und unverantwortlich. Ich sehe meinen Film als eine Art Anklage gegen jeden, der diese Denkweise auch nur annähernd teilt. Ich muss gestehen, dass ich, als Obama zum Präsidenten gewählt wurde, tatsächlich geglaubt habe, wir würden in eine neue Ära eintreten, eine Post-Rassen-Welt. Ich habe ernsthaft gedacht, wir wären so weit. Stattdessen bewegen wir uns jetzt in einem Tempo rückwärts, mit dem ich nicht gerechnet habe, das ich mir niemals hätte vorstellen können.

Und trotzdem bleiben Sie überzeugt davon, dass man mit Kunst etwas verändern kann?

Es liegt an jedem einzelnen von uns, etwas zu tun. Egal was. Und auch die Entscheidung, was richtig und was falsch ist, bleibt jedem selbst überlassen. Mach, was du kannst, dort, wo du bist, mit dem, was du hast. Solange wir alle versuchen, die Hand auszustrecken, können wir damit vielleicht ein Momentum schaffen, das die Kraft hat, die Katastrophe noch einmal abzuwenden.


Das Gespräch führte Pamela Jahn