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Interview

„Er war der erste Ex-Neonazi, den ich traf, und ich der erste Jude, dem er begegnete.“

Interview mit Guy Nattiv zu SKIN

Der israelische Regisseur Guy Nattiv hat seit 2006 vor allem für seine Kurzfilmen zahlreiche internationale Filmpreise gewonnen, was im Oscar-Gewinn für seinen Kurzfilm SKIN im Februar dieses Jahres gipfelte. Der Kurzfilm erzählte eine andere Geschichte, hatte aber ähnliche Motive wie Nattivs gleichnamiger Langfilm SKIN über einen amerikanischen Neonazi-Austeiger, der jetzt ins Kino kommt. Patrick Heitmann hat für Indiekino mit Guy Nattiv über seinen Film gesprochen.



Mr. Nattiv, wie kommt ein israelischer Jude dazu, einen Film über die US-amerikanische Neonazi-Szene zu drehen?

Dazu muss ich vielleicht kurz ausholen und etwas über mich privat erzählen. Ich bin geboren und aufgewachsen in Israel und habe dort auch die ersten 40 Jahre meines Lebens gelebt. Dann habe ich meine Frau kennen gelernt, eine amerikanische Schauspielerin, und ich bin in die USA gezogen. Für mich war das ein Bruch und ich beschloss, nochmal neu anzufangen. Also vielleicht nicht mehr nur israelische Filme drehen. Und vor allem keine mehr, die für mich nicht eine ganz persönliche Herzensangelegenheit sind. Die Geschichte von „Skin“ wurde zu einer solchen. Noch in einem Coffee Shop in Tel Aviv fiel mein Blick zufällig auf eine Zeitungsgeschichte mit einer Reihe von Fotos, die alle das gleiche Gesicht zeigten. Auf dem ersten war es voller Tätowierungen, aber von Bild zu Bild wurden es weniger. Das war die Geschichte von Byron Widner, und sie zog mich sofort in den Bann.

Aber was war der persönliche Bezug?


Meine Großeltern waren Holocaust-Überlebende, und ich bin mit ihren Geschichten über die Gräueltaten der Nazis aufgewachsen. Aber mein Großvater, dem ich besonders eng verbunden war, hat auch immer wieder gesagt, dass ihm nichts wichtiger ist als zu verzeihen, nicht zuletzt den jungen Generationen in Deutschland und Polen. Als ich ihm von Widners Geschichte erzählte, meinte er, das sei genau das, wovon er immer gesprochen habe: junge Leute, die indoktriniert werden, aber zu besseren Menschen werden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt und ihnen verzeiht. Damit machte mein Großvater, der inzwischen leider verstorben ist und den Film nicht mehr sehen konnte, die Sache endgültig zu meiner Mission. Wenn ich mit meinem Film auch nur einen einzigen Zuschauer zum Umdenken bewegen kann, habe ich schon unglaublich viel erreicht. Und gerade mein Außenseiter-Blick auf diese amerikanische Neonazi-Szene könnte dabei vielleicht helfen.

Sie haben auch den echten Bryon Wildner getroffen, nicht wahr?

Oh ja, ohne ihn würde es den Film nicht geben. Er steckt in einer Art Zeugenschutzprogramm des FBI, aber es gab eine Fernsehdokumentation namens „Erasing Hate“ über ihn. Deren Machern schickte ich eine Email, sie verrieten mir den Namen seines Facebook-Profils und ich schrieb ihm eine sehr emotionale Nachricht. Zwei Monate lang hörte ich nichts von ihm und wollte schon aufgeben, als er plötzlich antwortete. Wir skypten und verabredeten uns zu einem Treffen, im Niemandsland von New Mexico. Ich war nervös: er war der erste Ex-Neonazi, den ich traf, und ich der erste Jude, dem er begegnete. Aber ich erlebte einen intelligenten, zutiefst menschlichen Mann, der mir erzählte, wie er ab seinem 14. Lebensjahr von diesen Menschen indoktriniert und beeinflusst wurde. Es war ein sehr emotionales Wochenende, nach dem er mir auf einer Serviette die Rechte an seiner Lebensgeschichte abtrat. Und so begannen wir unsere gemeinsame Arbeit am Drehbuch, die sich letztlich über vier Jahre hinzog.

Niemand, der ein solches Leben hinter sich tat, geht daraus ohne Blessuren und innere Dämonen hervor.

Aber die Geschichte, die Sie in SKIN zeigen, ist durchaus fiktionalisiert, oder?

Der Kern des Films ist absolut wahr, nur für die ganze Wahrheit war kein Platz. Bryon erzählte mir viele Geschichten, die zu brutal waren, als dass ich sie im Film hätte zeigen können. Andere waren nicht interessant genug oder hätten vom Wesentlichen abgelenkt. Von daher hielt natürlich schon die Fiktion Einzug, und ich habe die Geschichte nach dramaturgischen Bedürfnissen geformt. Doch die zentralen Elemente – von der Begegnung mit seiner heutigen Frau Julie und ihren Töchtern bis hin zur Matriarchin der Neonazis – sind allesamt der Realität entnommen.

Gab es auch juristische Gründe für Veränderungen?

Klar, schließlich haben wir es hier mit Verbrechern und Gang-Mitgliedern zu tun, von denen wir erzählen. Schon aus Sorge um meine eigene Sicherheit musste ich also manches verändern. Trotzdem will ich noch einmal betonen, dass nie die Authentizität auf dem Spiel stand. Nicht zuletzt, weil Bryon und auch Daryle Lamont Jenkins, der Aktivist, der ihm den Ausstieg aus der Szene ermöglich hat, immer am Set waren. Die beiden waren beratende Produzenten und teilten sich sogar ein Hotelzimmer. Den Schwarze Hünen und den Ex-Neonazi zusammen zu sehen, das hörte nie auf, mich zu berühren.

Von Rassismus und Neonazis handelt auch Ihr ebenfalls „Skin“ betitelter Kurzfilm, für den Sie vor einigen Monaten einen Oscar erhielten. In welchem Verhältnis stehen die beiden Filme zueinander?

Sie erzählen verschiedene Geschichten, hängen aber unmittelbar zusammen. Bei fast allen meinen langen Spielfilmen habe ich zunächst einen Kurzfilm gedreht, denn das hilft mir meine filmische Vision herauszuarbeiten. Und wenn man eine Geschichte schon mal in 20 Minuten erzählt hat, erleichtert das die Arbeit an der längeren Version. Im Fall von „Skin“ habe ich nicht die gleiche, aber eine thematisch ähnliche Geschichte erzählt, doch vor allem ging es mir um anderes. Ich hatte noch nie unter amerikanischen Produktionsbedingungen oder mit englischsprachigen Schauspielern gearbeitet. So konnte ich schon mal üben. Außerdem wollte mir niemand in den USA Geld für eine Neonazi-Erlösungsgeschichte geben, denn niemandem erschien das Thema – und wir sprechen hier von einer Zeit vor Trump – relevant genug. Der Kurzfilm war also auch ein Weg, Mitstreiter*innen von meiner Sache zu überzeugen. Danielle Macdonald konnte ich für Rollen in beiden Filmen gewinnen, und Oren Moverman oder Trudie Styler kamen als Produzent*innen mit an Bord, nachdem sie den Kurzfilm gesehen hatten.

Eine letzte Frage nochmal zu Byron Wilder: sind Sie davon überzeugt, dass Menschen wie er sich wirklich ändern können?

Sie müssen es wollen und die richtigen Bedingungen dafür finden. Das ist wie mit Alkoholikern oder Sekten-Aussteigern: es braucht enormen Willen und ein Umfeld, das einen echten Wandel überhaupt möglich macht. Was Bryon angeht, habe ich keinen Zweifel, dass er es geschafft hat. Und zwar nicht nur die Entfernung der Tattoos. Auch von seinem Hass ist nichts mehr übrig und seine früheren Überzeugungen sind verschwunden, weil er gelernt hat, dass praktisch alles Bullshit war, was ihm als Jugendlicher eingetrichtert wurde. Heute versucht er sogar, ein Studium nachzuholen. Was nun allerdings nicht heißt, dass er nicht weiterhin traumatisiert ist. Niemand, der ein solches Leben hinter sich tat, geht daraus ohne Blessuren und innere Dämonen hervor. Und mit letzteren kämpft er natürlich bis heute.