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Interview

Eine neue Freundin

Ein Gespräch mit François Ozon

Seinen ersten großen Erfolg feierte François Ozon mit dem Musical 8 FRAUEN (2002), das Frankreichs berühmteste Schauspielerinnen, darunter Catherine Deneuve, Fanny Ardant, Isabelle Huppert und Emmanuelle Béart, in einer grellbunten Krimikomödie zusammenbrachte. Es folgten der psychologische Thriller SWIMMINGPOOL (2003), die rückwärts erzählte Beziehungsgeschichte 5 x 2 (2005), und das tiefschwarze Melodrama ANGEL – EIN LEBEN WIE IM TRAUM (2007) über eine Boulevardschriftstellerin, die sich ein Traumleben baut. Zu Ozons jüngeren Filmen gehören die Dramen IN IHREM HAUS (2012) und JUNG & SCHÖN (2013). François Ozon inszeniert subtil und psychologisch nuanciert. Zugleich liebt er starke Farben und Camp, reichlich Drama und das Experimentieren mit unterschiedlichsten Genres. In seinem jüngsten Film kehrt er erneut zum Melodrama zurück. Thomas Abeltshauser hat sich mit dem Regisseur über EINE NEUE FREUNDIN unterhalten.

"Transgendre" im doppelten Sinn


INDIEKINO BERLIN: Wenn man sich die offiziellen Fotos zum Film ansieht, bekommt man den Eindruck, dass es sich bei EINE NEUE FREUDIN um einen Thriller handelt. Wollen Sie die Zuschauer auf eine falsche Fährte führen?


François Ozon: Was mir an Filmen gefällt, ist, verschiedene Genres miteinander zu verbinden. Im Französischen bedeutet „genre“ zugleich das Filmgenre als auch Gender, mein Film ist also „transgenre“ im doppelten Sinne. Es beginnt wie ein Melodram, wird zur Komödie und schließlich zum Thriller und das war die Herausforderung für mich: mit Genres zu spielen und damit auch mit den Zuschauern und ihren Erwartungen. Das birgt ein gewisses Risiko, sein Publikum zu verschrecken, weil sich nicht jeder auf ungewohnte Erzählweisen einlassen will. Aber mir war es wichtig und ich halte es für die richtige Art, um der Entwicklung der von Romain Duris gespielten Hauptfigur zu folgen. Zu Beginn ist es sehr tragisch mit Lauras Tod, und später entwickelt sich eine schöne und auch humorvolle Freundschaft zwischen den beiden Hinterbliebenen, sie geben einander Halt und im Laufe der Zeit beginnen sie sich Fragen zu stellen, weil sie nicht genau wissen, in welche Richtung sich ihre Freundschaft entwickelt. Gefühle und Leidenschaften kommen ins Spiel, die für sie und auch ihr Umfeld irritierend sind. Für mich war es bei dieser Geschichte ganz logisch, Genregrenzen zu überschreiten.

Inwieweit können Sie David verstehen, der in die Kleider seiner verstorbenen Frau schlüpft, um ihr näher zu sein?

Ich bin als Kind oft in die Kleider meiner Mutter geschlüpft, ich habe spielerisch Rollen ausprobiert, wie viele Kinder es tun. Meine Schwester hatte großen Spaß, mich zu verkleiden. Heute tue ich es nicht mehr, es ist viel zu viel Arbeit, eine schöne Frau zu sein. Aber mich fasziniert der Fetischcharakter daran. Wenn man Filme dreht und Schauspielerinnen in eine Rolle schlüpfen, hat das zwar auch mit Psychologie zu tun, aber es ein Stück weit immer ein Spiel mit Künstlichkeit und Travestie. Ich bin in meiner Rolle als Regisseur mit meinen Darstellerinnen wie Pygmalion. Und bei diesen Dreharbeiten war Romain Duris wie eine Frau für mich.

Und wie war es, mit Romain Duris als Schauspielerin zu arbeiten?

Er war absolut in die Rolle involviert. Er hat es so genossen, dass ich manchmal fast ein bisschen schockiert war. Und dabei war er noch nicht mal meine erste Wahl als David/Virginia. Ich habe etliche Schauspieler getroffen und wir haben Testaufnahmen gemacht, mit Perücken und Make Up, aber die meisten hatten entweder Angst oder spielten die Rolle als Karikatur. Nur Romain war so begeistert bei der Sache und hatte so eine Freude daran, es war richtig in seinen Augen zu sehen, dass mir klar war, dass er der Richtige ist. Wenn man einen Schauspieler hat, der so für eine Rolle brennt, muss man nicht lange überlegen, dann besetzt man ihn. Auch wenn Romain nicht die allerschönste Frau ist. Ganz zu Beginn hatte ich sogar überlegt, eine wunderschöne Schauspielerin zu besetzen, die dann David als Hosenrolle spielen sollte, aber das erwies sich schnell als unrealistisch.

Hat Romain Duris seinen Look als Frau auch in der Öffentlichkeit ausprobiert?

Das müssen Sie ihn fragen. Aber er hat es sehr genossen. Und in einigen Szenen, im Nightclub und in der Shopping Mall, wussten die Komparsen nicht, dass die hochgewachsene Frau Romain Duris war.

Was ist schon "Normalität"?

Der Film entstand in einem gesellschaftlichen Klima, als in Frankreich Hunderttausende gegen die Homoehe und das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare auf die Straße gingen. Ist EINE NEUE FREUDIN eine Reaktion darauf?

Die Entscheidung, diesen Film zu drehen, hatte ich schon vor den Protesten getroffen. Sie begannen, während ich am Drehbuch schrieb und mir wurde klar, dass mein Film dadurch ein Statement werden würde. Mein Film wurde politisch durch die Situation, in der er ins Kino kam. Aber ich bin kein Politiker und ich habe keine Botschaft. Ich gebe den gedanklichen Raum und die Möglichkeit, dass die Zuschauer sich ihre eigenen Gedanken und Meinungen machen. Ich mag es, wenn sich die Zuschauer ein bisschen verloren fühlen und ihre eigenen Ansichten in Frage stellen. Mir ging es darum, wie ich diese Leute auf der Straße überzeugen kann, die weder verstehen noch akzeptieren wollen, dass es unterschiedliche Lebensentwürfe gibt und man eine Familie gründen will, auch wenn man kein heterosexuelles Paar ist. Ich hatte all diese Gewalt und Ignoranz der Menschen im Hinterkopf und habe deshalb entschieden, etwas pädagogischer zu sein als mit JUNG UND SCHÖN, der undurchsichtiger und weniger eindeutig verständlich war. Diesmal wollte ich die Zuschauer an der Hand nehmen und sie teilhaben lassen, damit sie mitfühlen und die Figuren verstehen können. Deshalb habe ich den Prolog angehängt mit dem Tod der Freundin, der in der Kurzgeschichte von Ruth Rendell, auf der mein Film basiert, nicht vorkommt. Ich glaube, dass man so sehr viel besser in die Geschichte kommt und das Verhalten der Charaktere versteht.

Es ist nicht die einzige Veränderung, die sie bei der Adaption vorgenommen haben...

Eine Adaption ist immer ein Verrat. Man muss sich nehmen, was einen an der Geschichte interessiert. In meinem Fall war das recht einfach, denn die Kurzgeschichte ist nur 15 Seiten lang und ich musste Dinge dazu erfinden, um sie in Spielfilmlänge zu bringen. Die Vorlage ist eher ein Thriller. Am Ende bringt Claire Virginia um, als sie erkennt, dass sie mehr von ihr will. Es geht also eher um unterdrücktes lesbisches Begehren.

Warum haben Sie das Ende geändert?

Weil ich ein Happy End haben wollte. Weil ich zeigen wollte, dass es möglich ist, ein Leben abseits der sogenannten Norm zu führen. Es ist ein Film über die Freiheit zu sein, wer oder was man sein will und nicht, was die Gesellschaft von einem erwartet. Für mich handelt er von der Freiheit jedes Individuums, seine Sehnsüchte und Identität zu akzeptieren und sich von den normativen Strukturen zu lösen, die uns durch die Gesellschaft und die Familie aufgezwungen werden. Und das verstört viele.


Ein roter Faden, der sich von Ihrem Debüt SITCOM bis heute durchzieht, ist die Idee eines „normalen“ Lebens, das durch etwas unterwandert wird, eine Störung erfährt. Weil das Glück bürgerlichen Daseins eine Lüge ist?


Mich interessieren die Masken, die wir tragen, das, was wir vorgeben zu sein. Hinter jeder Fassade angeblicher Normalität gibt es viele Dinge zu entdecken. Ich finde es spannend, dahinter zu schauen und zu zeigen, dass die Verhältnisse nicht so eindeutig sind. Es ist aufregend und komisch und auch verstörend. Was ist schon „Normalität“? Existiert sie überhaupt?

Ich hatte überhaupt nicht die Absicht zu schockieren


Haben Sie sich zurückgehalten, um eine Altersfreigabe zu bekommen?


Selbstzensur? Nein, wir sind ja nicht in Amerika. Aber ich hatte auch überhaupt nicht die Absicht zu schockieren, im Gegenteil. Ich wollte, dass man sich mit den Figuren identifiziert, in der Geschichte mitgeht. Ich wollte zeigen, dass es keine große Sache ist, sich als Frau zu verkleiden. Es ist ein Film über Freiheit. Nur bei einer Szene fragte mich mein Produzent: Brauchen wir die wirklich? Und das war die Szene, als David im Leichenhaus seine Frau zum letzten Mal sieht. Ich habe für die Szene gekämpft, weil es ein wichtiger Moment ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Warum sollte man diesen Menschen nicht noch einmal berühren wollen? Aber es gab viele Vorbehalte, weil die Zuschauer denken könnten, er will Sex mit seiner toten Frau haben. Ich zeige nichts, habe es aber so gefilmt, dass sich jeder seinen Reim darauf machen kann. Und das ist vielleicht viel perverser als alles, worum es sonst im Film geht.

Und die Duschszene, eine Fantasie, in der David Sex mit Claires Ehemann hat?

Ah ja! Noch so eine Szene, bei der mein Produzent fragte: Brauchen wir die? Aber wissen Sie was: Ich bin der Regisseur und ich habe das Recht am Final Cut. Was ich in dem Moment zeigen wollte, ist, dass Claire völlig hilflos und orientierungslos ist. Was passiert mit ihr? Hat sie sich in ihre beste Freundin verliebt? Ist sie lesbisch? Liebt sie David? Oder Virginia? Ist David schwul oder hetero? Ich wollte ihre Verwirrung zeigen, wie sie den Boden unter den Füßen verliert. Deswegen sieht man, wie sie sich vorstellt, dass David Sex mit ihrem Ehemann hat. Es ist eine Projektion. Und ganz nebenbei war es mir ein persönlicher Genuss, Romain Duris und Raphaël Personnaz beim Sex zu zeigen. Manchmal muss man auch einfach an sein eigenes Vergnügen denken.

Bei den Golden Globes wurde die Serie „Transparent“ über einen transsexuellen Familienvater ausgezeichnet. Ändert sich da gerade etwas in der Wahrnehmung?

Das Thema liegt in der Luft. Mit den homophoben Protesten in Frankreich, einem Land der vermeintlichen Toleranz und Offenheit, sind das Fragen, die in der politischen Auseinandersetzung virulent sind. Zum Glück kam der Film in Frankreich vor den Anschlägen auf Charlie Hebdo ins Kino. Ich weiß nicht, ob er heute so erfolgreich wäre. Die Leute haben Angst und die Angriffe auf freie Meinungsäußerungen führen dazu, dass sich nicht nur Künstler selbst einschränken, sondern auch die Zuschauer. Und dieser Film stellt diese ungeschriebenen Gesetze in Frage: Was ist normal? Was ist eine Familie? Was ist männlich, weiblich?

Bereits in den Siebziger Jahren gab es mit Divine in John Waters Filmen wie PINK FLAMINGOS und FEMALE TROUBLE oder den Filmen von Rosa von Praunheim immer wieder Crossdresser und Transgenderfiguren, die aber immer Teil einer Gegenkultur waren. Jetzt scheint es mit Filmen wie Ihrem oder Xavier Dolans LAURENCE ANYWAYS eine neue Welle zu geben...

Damals ging es eher darum zu schockieren, heute darum, teilhaben zu haben. Ich wollte keinen Film nur für zehn Kellerkinos und Cinematheken machen, in denen nur Leute sitzen, die eh schon meiner Meinung sind. Ich will möglichst viele Menschen erreichen.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser