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Interview

„Ein Film, der aus Erinnerungen komponiert ist“

Interview mit Barry Jenkins zu BEALE STREET

Barry Jenkins, geboren 1979, dessen Film MOONLIGHT vorletztes Jahr drei Oscars gewann (Bester Film, Bester Nebendarsteller - Mahershala Ali, Bestes adaptiertes Drehbuch) wuchs unter ähnlichen Bedingungen in Miami auf wie Chiron, die Hauptfigur in MOONLIGHT. Sein Vater hatte die Mutter mit vier Kindern verlassen und starb, als Jenkins zwölf Jahre alt war. Weil seine Mutter Crack-abhängig war, wuchs er in der überfüllten Wohnung einer anderen Frau auf. Jenkins besuchte den Film-Studiengang der Florida State University. Sein Abschlussfilm MY JOSEPHINE (2003) handelte von einem muslimisches Paar in einem Waschsalon, kurz nach 9/11. Sein Spielfilmdebüt MEDICINE FOR MELANCHOLY kam nicht in die deutschen Kinos, fand aber großen Anklang bei der US-Filmkritik. IF BEALE STREET COULD TALK (dt. BEALE STREET) ist Jenkins dritter abendfüllender Spielfilm und eine Adaption des gleichnamigen Romans von James Baldwin, dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel „Beale Street Blues“ bei dtv erschienen ist.


ACHTUNG! SPOILER! Besser nach dem Film lesen!



INDIEKINO BERLIN: Sie haben einmal gesagt, James Baldwin zu lesen habe Ihnen klar gemacht, was es bedeutet ein Mann zu sein, insbesondere ein Schwarzer Mann. Können Sie das näher erläutern?

Barry Jenkins: Als ich James Baldwin entdeckt habe, hatte ich noch nicht besonders viel gelesen. Es war eine ganz neue Erfahrung für mich, dass jemand Schwarzes Leben abbildete. Die meisten Erzählungen, die ich zu der Zeit kannte, handelten von berühmten Schwarzen Leuten. Jeder liebt die Geschichte von Martin Luther King, jeder kennt die Geschichte von Jesse Owens. Mr. Baldwin schrieb über sehr alltägliche Menschen, aber auf eine sehr dichte, reiche Art und Weise. Das hieß für mich: „Schwarze Leben spielen eine Rolle!“ Jemand der aufwächst wie Chiron (die Hauptperson in MOONLIGHT, die Red.) ist es wert, dass seine innere Stimme Ausdruck findet. Für mich war das die Wucht von James Baldwins Büchern, und der Grund, warum ich mich in seine Werke verliebte.

BEALE STREET ist die zweite filmische Adaption von Baldwins Schriften in den letzten Jahren, nach Raoul Pecks I AM NOT YOUR NEGRO. Woher kommt diese Renaissance von Baldwins Werken?

Dieses Buch wurde vor 45 Jahren veröffentlicht, und trotzdem ist so vieles, was in Pecks Film passiert, heute noch sehr relevant. So vieles von dem, was diesen Charakteren passiert, erleben Menschen heute immer noch. Ich glaube, wir versuchen, gerade in Amerika, wo sie jetzt diesen Slogan „Make Amerika great again“ haben, zu fragen: Okay, was ist denn in Amerika geschehen, das so großartig war? Wenn man zurückgeht und bei jemandem wie James Baldwin oder Toni Morrison, bei diesen großartigen Denker*innen, die wortwörtlich dokumentierten was damals geschah, nachschaut, stellt man fest: „Ach so, das war eigentlich gar nicht so großartig“. Ich glaube, dass die Leute jetzt, weil wir uns mit diesen Themen beschäftigen, zu Autor*innen wie Mr. Baldwin zurückkehren.

Warum haben sie gerade diese Geschichte von James Baldwin ausgewählt?

„If Beale Street Could Talk“ ist nicht mein Lieblingsroman von James Baldwin. Das wäre „Giovanni’s Room“. Aber ich liebe ihn, weil James Baldwin mit mehreren unterschiedlichen Stimmen schrieb. Zu den prominentesten gehörte der Essayist, der sich vor allem mit systemischer Ungerechtigkeit beschäftigt, mit der amerikanischen Gesellschaft und der Rolle, die diese Systeme bei der Entrechtung der Leben und Seelen der Schwarzen Bevölkerung spielen. Aber Baldwin war ebenso besessen von Sinnlichkeit, Romantik und persönlichen Beziehungen. Ich habe dieses Buch ausgewählt, weil diese beiden Stimmen hier organisch verschmolzen sind. Tish und Fonny sind zwei Seelenverwandte, es gibt diese Liebe, diese Romanze, dieses vitale Leben, aber dann, wegen der Tortur, die Tish und Fonny erleiden, gibt es auch systemische Ungerechtigkeit.

Verzweiflung, Leiden und Terror sind immer ein Teil des Schwarzen Lebens in Amerika gewesen, von Anfang an, schon seit der Sklaverei. Und dagegen standen immer: Leben, Familie, Liebe, Gemeinschaft

Wo sehen Sie sich selbst? Auf der politischen oder auf der romantischen Seite Baldwins?

Das Buch ist viel bitterer und wütender als der Film. Also stehe ich wohl auf der Seite der Liebe, der Familie, der Romantik. Aber ich glaube, was man aus diesem Buch lernen kann, ist, dass diese Dinge für Schwarze Amerikaner*innen miteinander verwoben sind. Es ist nicht möglich, als Schwarze Person in Amerika sein Leben zu leben und nicht vom System betroffen zu sein. Irgendwie findet es immer einen Weg, ganz egal, wer man ist. Selbst wenn man ein großer Hollywoodregisseur wie ich ist - nein streichen Sie das: ein kleiner Hollywoodregisseur. Diese Sachen betreffen einen, sie werden Teil des Alltagslebens. Für mich war die Idee des Buches, dass Verzweiflung, Leiden und Terror immer ein Teil des Schwarzen Lebens in Amerika gewesen sind, von Anfang an, schon seit der Sklaverei. Und dagegen standen immer: Leben, Familie, Liebe, Gemeinschaft. Diese Liebe, diese Freude, dieses Leben ist das, was Schwarzen Menschen erlaubt hat, durchzuhalten, was ihnen erlaubt hat, Gemeinschaften in Amerika aufzubauen. Beim Filmen bestand der Trick darin, zu verstehen, dass es nicht um Leinwand-Zeit geht: „Ich brauche 100 Minuten Liebe und 20 Minuten Verzweiflung“. Es war mehr wie Chemie, in der manche Elemente eine höhere Dichte haben, also braucht man weniger von ihnen. Wenn der Polizist auftaucht, oder wenn man Fonny im Gefängnis sieht, dann sind diese Momente so gewichtig, dass man nicht so viel davon braucht, wie von denen, in denen man die Romanze sieht, die Familie, die Liebe.

Tish ist die Erzählerin der Geschichte. Wie haben Sie eine filmische Umsetzung für ihre Erzählung gefunden?

Ich wusste, dass die Off-Erzählung sehr wichtig für dieses Werk war. Außerdem musste die Sprecherin sowohl ein Mädchen als auch eine Frau sein, je nachdem, wo man sich in der Geschichte befand. Es war für mich wichtig, Baldwins innere Stimme zu übersetzen, aber dabei die Elemente des Filmemachens zu benutzen. Ich glaube, im Buch rutscht Mr. Baldwin manchmal aus. Er soll aus Tishs Perspektive schreiben, aber er schreibt aus seiner eigenen. Aber im Film wäre das nicht gegangen. Es musste alles durch Tish gehen, es musste alles die Perspektive eines neunzehn Jahre alten Schwarzen Mädchens sein. Ich glaube, wir waren in der Lage, den Blickwinkel von Tish einzunehmen und trotzdem die innere Stimme Baldwins beizubehalten. Aber es war sehr, sehr schwierig. Übrigens, ist es üblicherweise so, dass die Dialoge im Film aus den Frontlautsprechern des Kinos kommen. Aber bei uns kommt die Off-Erzählung aus allen Lautsprechern im Saal, so dass man im Grunde umgeben ist, eingetaucht ist in Tish Erzählerstimme.

BEALE STREET hat einen sehr eigenen Look. Wie haben sie das visuelle Design des Films entwickelt?

Für uns waren sowohl MOONLIGHT als auch BEALE STREET Spiegelungen des Bewusstseins der Hauptfiguren. In MOONLIGHT gab Chiron vor, wie der Film aussehen und sich anfühlen musste. BEALE STREET wird von Tish diktiert. Wissen Sie, das ist ein Mädchen, das sich in einer Art Fegefeuer befindet, und sie erinnert sich an die lebendigsten, die schönsten, die reinsten Momente ihres Lebens: ihre erste sexuelle Erfahrung, sich verlieben, ihren Seelenverwandten kennenlernen. Und dann auch die dunkelsten Erfahrungen: ihren Verlobten im Gefängnis zu sehen, die Begegnung mit diesem Bullen, all diese sehr dunklen Dinge. Es ist ein Film, der aus Erinnerungen komponiert ist. Ich glaube, weil Erinnerungen keine Grundlage in der Realität haben, können sie aussehen, wie immer man wünscht. Für uns bedeutete das einen sehr gesättigten, sehr hellen Look, wenn Tish auf sehr reine Weise an Dinge denkt, und dann, wenn beispielsweise Daniel Carty zu Besuch kommt, eine sehr gedämpfte Palette, sehr dunkel, viele Schatten – eine ganz andere Farbpalette als der Rest des Films. Es ging darum, das Bewusstsein der Hauptfigur zu reflektieren.

Haben Sie keine Angst davor, sentimentale oder kitschige Szenen zu drehen?

Nein, überhaupt nicht. Vor allem nicht in diesem Film, weil die Hauptfigur ein neunzehn Jahre altes Mädchen ist. Und dieses Mädchen erinnert sich an das, was sie von der Liebe weiß. Diese Erinnerungen sind, besonders, weil ihre Situation so düster ist, beinahe überhöht. Wie kitschig oder sentimental, wie schön ihre Erinnerungen an diese Dinge sind – es ist fast, als baute sie ein Puppenhaus aus ihren Erinnerungen. Aber in Wirklichkeit lebt sie in einem Höllenloch. Der Kontrast zwischen diesen beiden Dingen ist fast wie Oper. Die Höhen müssen recht hoch sein, und die Tiefen recht tief. Das machte es gewissermaßen einfacher, denn die Alternative wäre gewesen, etwas zu machen, das einfach so trostlos ist, so im Schmerz verwurzelt… Diesen Film haben wir alle schon gesehen, wir kennen alle diese Geschichten. Ich denke, dass unsere Option, bei der Schwarze Menschen mit Zärtlichkeit behandelt werden, mit Unschuld, eine Variante ist, die für mich, selbst auf banale Weise, profund wird.

Das System ist so leicht manipulierbar, dass du, wenn du erst mal drin bist, du einfach drin bist. Es verschluckt Menschen.

Eine der erschütterndsten Szenen des Films ist die, in der wir sehen, wie der weiße Rechtsanwalt, die einzige Hoffnung für Tish und ihre Familie, vor unseren Augen in sich zusammenfällt, gerade wenn man eigentlich erwartet hätte, dass jetzt ein Gerichtsdrama beginnt. Wie haben sie diese Szene entworfen?

Meines Erachtens werden die Geschichten, die man uns über diese Dynamik und über diese Welt erzählt hat, immer zu Gerichtsdramen. Sie finden die Zeugin, sie holen Fonny da raus. Aber für so viele Schwarze Frauen und Schwarze Männer, die sich in dieser Situation befinden, passiert das einfach nicht. Es ist die Publikumserwartung, dass dieser Anwalt, der es gut meint, reinkommt und alles löst, weil Fonny unschuldig ist. Aber das ist einfach nicht die Realität.
Stephan James, der Hauptdarsteller, hat viel von seiner Darstellung an einen jungen Mann namens Khalief Browder angelehnt, dessen Geschichte in den USA recht bekannt ist. Es gibt einen Dokumentarfilm über ihn. („Time: The Khalief Browder Story“, sechsteilige TV-Serie, 2017. In Ava DuVernays Netflix-Dokumentarfilm „13th“ gibt es zwei Interviews mit Khalief Browder. Die Red.) Dieser Junge wurde verhaftet, weil er einen Rucksack gestohlen haben soll und nach Riker’s Island geschickt, ein sehr berüchtigtes Gefängnis. Er hat dort drei Jahre verbracht, in denen er nur auf seine Verhandlung wartete. Und zweieinhalb Jahre davon verbrachte er ein Isolationshaft, weil er allen sagte, er sei unschuldig. Sie haben ihn verrückt genannt. Dann, nachdem er entlassen wurde, beging er Selbstmord, weil das Trauma in ihm so tief saß. Wenn er sich schuldig bekannt hätte, hätte er vielleicht ein Jahr in Riker’s Island verbracht, aber dann hätte er sich zu etwas bekannt, was er nicht getan hatte. Das ist eine wahre Geschichte die in den letzten fünf Jahren passiert ist. Können Sie sich vorstellen, wie es 1973, 1974 für jemanden gewesen sein muss, als wir noch kein Internet und diese ganze Sachen hatten?
Für mich wäre die Idee eines Anwalts, der herabschwebt und alles löst, beinahe respektlos gegenüber Leuten wie Khalief Browder. Also, nein, kein Anwalt rettet einfach alles. Sogar die Szene, in der dem Anwalt selbst klar wird, dass er zwar gute Absichten hat, aber nicht genug, um das Problem zu lösen – die wird auf der DVD sein, aber im Film ist sie nicht.

Das Thema der Justizreform und der „plea deals“ – der Angeklagte erklärt sich schuldig und erhält eine kürzere Strafe und der Fall geht gar nicht erst vor Gericht - ist seit einiger Zeit ein heißes Thema in den USA, durch Filme wie Ava DuVernays „13th“ oder den erfolgreichen „Serial“-Podcast über einen Strafgerichtshof in Michigan. Glauben Sie, dass ihr Film dieser Debatte einen neuen Impuls geben wird?

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt Leute, die den Film sehen und nicht glauben können, dass Fonny einen „plea deal“ angenommen hat. Es gibt Leute, die können nicht glauben, dass es unschuldige Menschen im Gefängnis gibt, die plea deals angenommen haben. Ich glaube, das liegt daran, dass diese Leute kein Verständnis davon haben, wie das Justizsystem in Amerika funktioniert. Es gibt nicht annähernd genug Richter, genug Anwälte, um all diese Fälle zu verhandeln. Also passiert dies: Wenn du uns tatsächlich dazu zwingst, diesen Fall zu verhandeln, werden wir dich auch wirklich bestrafen. Alles läuft über Anreize. Es gibt Anreize für Leute, einen plea deal anzunehmen, für Anwälte, einen plea deal auszuhandeln, für Richter, einen plea deal anzubieten. Einige Zuschauer unseres Films glauben, dass mit einem weißen Erlöser-Anwalt schon das Richtige passiert. Aber das System ist so leicht manipulierbar und so korrupt, dass das nicht der Fall ist.
Paradebeispiel: In Fonnys Fall geht es um sexuelle Nötigung. Wenn Leute darüber schreiben, steht da: „Fonny ist der sexuellen Nötigung angeklagt“. Er wird aber wegen gar nichts angeklagt. Er wird aus einer Polizei-Aufstellung ausgewählt. Er wird von einem Polizisten in diese Aufstellung gesteckt, der weiß, wie er das System manipulieren kann. Das Buch ist da noch extremer: Fonny ist der einzige Schwarze in der Gegenüberstellung, was es viel leichter macht, ihn auszuwählen. Nochmal: Das System ist so leicht manipulierbar, dass du, wenn du erst mal drin bist, einfach drin bist. Es verschluckt Menschen. Es gibt eine Szene im Film, in der die beiden Schwarzen Väter sagen: „Ich kenne ein paar Tricks, und du kennst ein paar Tricks.“ Da hat man zwei Schwarze Väter, die Verbrechen begehen, um die Unschuld des Schwarzen Sohnes zu beweisen, der kein Verbrechen begangen hat. Wenn sie für diese Verbrechen verhaftet werden, stecken sie auch im System.
Ich hoffe, dass Menschen, die den Film sehen, verstehen, wie dieses System funktioniert. Statt dass Fonny aus dem Gericht kommt und alle umarmt, enden wir mit ihm im Gefängnis, wo ihn sein Sohn besucht, dessen erste Erfahrung mit Schwarzer Vaterschaft nun mit dem Konzept von Gittern verbunden ist. Weil das eine Realität ist, der viele Leute gegenüberstehen.

Das Gespräch führte Tom Dorow