Magazin für unabhängiges Kino

Festivals

DOK LEIPZIG 2018

Festivaltagebuch von Ira Kormannshaus

Tag 1

Dok Leipzig beginnt nicht erst mit dem Eröffnungsfilm. Das vergangene Wochenende stand bereits im Zeichen von Fachveranstaltungen wie Pitchings etc. Dazu gehört auch die Veranstaltung „Preview“, bei der sechs deutsche Dokfilme vorgestellt werden, die kurz vor Fertigstellung sind und die z.T. noch weitere Finanzierung brauchen oder die einen Weltvertrieb oder interessierte Festivals suchen. Bei der gestern präsentierten Auswahl fiel auf, dass die Filme entweder im Ausland spielen (Afghanistan, Kongo, USA, Syrien, Dänemark) oder übergreifende Themen behandeln (Perfect Black). Einzig DER FALL JOHANNA LANGEFELD über eine Oberaufseherin der KZ Ravensbrück und Auschwitz ist zwar im heutigen Polen angesiedelt, geht aber um deutsche Geschichte. Ob eine vergleichbare Tendenz auch im deutschen Wettbewerb zu beobachten ist, werden die kommenden Tage zeigen.

Die Wahl des Eröffnungsfilms erklärt sich mit großen Namen und dem koproduzierenden Haussender MDR: Werner Herzog MEETING GORBACHEV. Ich kann nur inständig hoffen, dass es nicht zur allgemeinen Praxis wird, synchronisierte Filme auf Festivals zu zeigen – denn es macht ja gerade einer der Pluspunkte von Festivals, Filme in Originalversion mit Untertiteln zu präsentieren.
Der Film folgte zunächst Gorbachevs Werdegang – und das war dann fast schon der interessanteste Teil. Gerade seine Versuche wirtschaftlicher Reformen im größten Land der Erde hätten eine ausführlichere Untersuchung verdient. Stattdessen entschied sich Herzog, Gorbachevs Treffen mit den damals amtierenden Gerontokraten des Westens minutiös nachzuvollziehen: mit Reagan in Reykjavik, mehrfach tauchen Thatcher und Kohl auf, Teltschik darf sich mehrfach ausführlichst äußern.
Ohne Druck auf die Tränendrüsen will der Autor das Publikum nicht entlassen. Da es ihm mit seinen Fragen nach der verstorbenen Ehefrau Raissa nicht gelingt, Gorbachev die gewünschten Tränen zu entlocken, greift er zu einem Ausschnitt aus Vitalij Manskijs Film von 2001 „Gorbachev. Nach dem Imperium“.
Wie ein Kollege bemerkte, könne er Herzog eine Frage stellen, so wäre die: Er habe sich gefreut, zu Beginn Begräbnisse seniler alter Männer zu sehen. Warum aber fahre der Film dann fort, senile alte Männer zu zeigen? Ich füge hinzu: gewisse alte Männer sollten lieber ihren Lebensabend genießen als die Welt mit schauderhaften Machwerken auch nicht besser zu machen.

Tag 2

Der zweite Tag begann mit einem belgischen Film aus dem Internationalen Wettbewerb. CHARLEROI - THE LAND OF 60 MOUNTAINS von Guy-Marc Hinant. Ein wundervoll poetischer Film, der in tiefe Schichten des Lebens der Stadt eintaucht, Leben, Geschichte, Stadtplanung, soziale Ordnung und den Stand heute untersucht. Wie jemand im Film sagt: „Die Denkmäler von Charleroi sind nicht auf den ersten Blick zu erkennen – es sind die sozialen Errungenschaften.“ Charleroi liegt im Borinage, dem belgischen Kohlenpott – Filmfans durch Henri Storck und Joris Ivens „Elend in der Borinage“ (1932/33) bekannt.Eine Stadt, die also auch mit Strukturwandel zu tun hat, der keineswegs abgeschlossen ist.

Der größte deutsche Berufsverband in Sachen Film, die AG Dok lud zur Veranstaltung FRAUEN.DOK.FILM.REGIE - was sich dringend ändern muss!

Zwar bekommen viele Frauen Aufträge von TV-Sendern, dokumentarische Formate zu erstellen, zu fragen bleibt jedoch wie auskömmlich diese bezahlt werden. MDR-Intendantin Dr. Karola Wille sagte zu, den Frauenanteil von aktuell ca. 30% weiter erhöhen zu wollen. FFA-Vorstand Christine Berg ist bekennende Quoten-Gegnerin, will jedoch Stellschrauben verändern, die Frauen ein Weiterkommen aktuell unmöglich machen. So hat sie dafür gesorgt, dass Kinderbetreuungskosten während der Dreharbeiten abrechnungsfähig sind.

Der Tag klang aus mit einem Film aus dem deutschen Wettbewerb DIE SYMPHONIE DER UNGEWÌSSHEIT. Was außer schönen schwarz-weiß Bildern aus der Zusammenarbeit einer studierten Physikerin und eines Musikers entsteht, ist eher kryptisch. Ein emeritierter Physikprofessor durchstreift das DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron), seine Gefährtin (Coach) trifft ihn ab und an dortselbst, eine Schamanin tritt auf wie auch eine Musikgruppe.

Tag 3

Ein Programm zu Vätern läutete Tag 3 ein. Der österreichische DOPPELGÄNGER verlässt sich zu sehr auf seine Erzählung aus dem Off und bebildert nur sehr sparsam. DER FUNKTIONÄR hingegen fasziniert nicht nur durch die Tiefgründigkeit seines Textes, sondern auch durch spannendes Archivmaterial, das den Funktionär Klaus Gisy lebendig werden lässt und deutet mit stillen Bildern von Stadt und Natur die Fragezeichen und Leerstellen an, die er hinterlassen hat. Ein herausfordernder Film nicht nur inhaltlich – wie konnte ein überzeugter Kämpfer für die Sache zu einem reinen Befehlsempfänger werden? - sondern auch filmisch – längeren Phasen intensiven Textes folgen Phasen der Stille, die eben doch keine Stille sind.

Weiter ging es mit FACING THE BEAST eine Skizze zum coming of age eines jungen Franzosen, der Stierkämpfer werden will, bei dem Form und Länge in einem merkwürdigen Widerspruch zueinander stehen.
LE CIEL, LE TERRE ET L'HOMME ein ethnographischer Film, der sich Zeit nimmt, die Beobachtungen aber leider immer wieder mit Interviews unterlegt.
Dieses Programm ist eines derer, zu denen deutsche Untertitel per App angeboten werden – was ich zu dieser Gelegenheit mal ausprobiert habe. Einmal durchs ganze Gebäude zur Ausleihe eines Gerätes, das zunächst Schluckauf hatte und erst nach 5 Minuten die ersten Untertitel zeigte. Ob das auch für häufig untertitelte Filme guckende wie mich gewöhnungsbedürftige Format vom Filmgucken auf zwei Leinwänden zukunftsträchtig ist, ob es eine gute Entscheidung war, das früher praktizierte Einsprechen der deutschen Übersetzung auf Kopfhörer dadurch zu ersetzen – ich habe da Zweifel.
Zum Ausklang noch Viktor Kossakovskijs AQUARELA, gigantische Bilder ums Wasser herum – sei es die Beobachtung zu russischer Lebensweise beim Einbruch ins Eis auf einem See, sei es ein heftiger Sturm auf See. Die Frage, wie die Kamera dort so statisch bleiben konnte, war leider nicht möglich zu stellen, da der Autor sich in pathetischen Klagen über die Abwesenheit des Produzenten und die Unmöglichkeit im Festivalkino 96 Bilder pro Sekunde vorzuführen (besser ist es, Zeitlupe ist ein viel zu häufig und sinnfrei eingesetztes Mittel) erging und der Moderator gar noch anfing, von Gott zu reden – da habe ich mit Füßen abgestimmt. Und so bleibt es auch eine offene Frage, was den Autor bewegt hat, in der Filmerzählung von Öko zu Anarcho-Punk zu wechseln.

Tag 4

Mittags war Adina Pintilie, die mit TOUCH ME NOT dieses Jahr den Goldenen Bären gewann, mit ihren ProtagonistInnen zum 'Meet the Filmmakers' gekommen. Ein interessantes Format, das Licht bringt in die Frage „Wie hat sie/er das eigentlich gemacht?“ Im Fall von TOUCH ME NOT eine Mischung aus Menschen anderer Berufe, die Videotagebücher führten und zwei gecasteten SchauspielerInnen. Verwoben ist das Ganze so, dass Dokumentarisches wie Inszeniertes spürbar sind, aber kaum auseinander zu halten.
Die Situation in der Ukraine stand im Fokus des intl. Wettbewerbs. DIORAMA konfrontiert uns mit einem unerwarteten Ergebnis des Krieges in Mariupol – das Meer ist vermint, das Strandleben gehört somit der Vergangenheit an. Im übertragenen Sinne vermint ist Oksana, hochdekorierte Majorin der Armee, die nach Krankenhaus und Reha noch stark unter posttraumatischen Stressymptomen leidet. Die Chef-Ökonomin des ukrainischen Finanzministeriums war in den Krieg gegangen, um es dem Rest ihrer Familie zu ersparen (eine Person pro Familie wird eingezogen) und muss sich jeden Tag sehr überwinden, um mit der U-Bahn fahren zu können, ist immer wieder in Behandlung ihrer Physis wie auch Psyche. Ein sehr dichtes, beeindruckendes Porträt.
NACHTWANDERER tritt den Versuch an, das Genre der Nachtfilme zu erweitern. Leider betrachet der Autor ausschließlich Menschen auf der Schattenseite der Gesellschaft und lässt so den Topos Nacht zu einem Klischee verkommen.

Tag 6


Die neu entdeckte, von der Regierung zumindest geförderte Liebe zu Stalin drückt sich auch im Wiederaufleben der Schauprozesse aus (siehe Oleg Sentsov). Sergei Loznitsa stellt in PROZESS Archivmaterial eines Schauprozesses aus dem Jahre 1930 gegen eine Industriepartei – die es nie gab – vor. Es ist hilfreich, vorab zu wissen, dass das Ganze eine vom Staat ausgedachte und orchestrierte Inszenierung ist. Mit 125 Min. ist der Film quälend lang und, wie häufig bei Loznitsas Filmen, erschließt sich auch hier die Länge nicht aus Erzählung oder Dramaturgie.
Vitalij Manskij wendet sich in PUTIN'S WITNESSES der jüngeren Vergangenheit zu. In epischer Breite wird ausgestellt, dass der Filmemacher selbst am Sylvesterabend Zugang zu Jeltsins Privatwohnung hatte und auch bei Putin ein- und ausging. Wenn er aber bei sich zuhause mit der Kamera in das Bad eindringt, wo seine Tochter in der Wanne sitzt, werden schlimmste Erinnerungen an vergleichbar übergriffigen Umgang wach, der auch noch mit Machostolz auf der Leinwand präsentiert wird (z.B. in Mikhalkovs „Die Sonne, die uns täuscht“). Auch greift seine, nicht ohne Pathos von der Bühne verkündete, Analyse wir alle seien schuld, dass Russland jetzt so regiert wird, wie das der Fall ist, eindeutig zu kurz.
Unter den russischen Arbeiten war in diesem Jahr auch Aleksei Vakhrushevs neuer Film. Geboren in Anadyr/Chukotka, widmet Vakhrushev, hauptberuflich Mitarbeiter der Sektion Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, sein Filmschaffen den indigenen Völkern Chukotkas. In seinem neuen Film THE BOOK OF THE SEA sind das die Chukchen, deren Gründungsmythos in Knetanimation erzählt wird, der dokumentarische Filmaufnahmen vom Leben einer Chukchenfamilie gegenüber stehen. Eine schöne Ergänzung zu Jurij Rytchёus Büchern.

Ira Kormannshaus