Magazin für unabhängiges Kino

Feature, Interview

„Die Realität im Iran ist noch viel brutaler“

Interview mit Ali Abbasi über HOLY SPIDER

Ali Abbasi emigrierte 2001 aus dem Iran nach Schweden, studierte zunächst Architektur in Stockholm und schließlich Film an der Nationalen Dänischen Filmschule. Bisher hat er drei Spielfilme gedreht, die alle mit Genre experimentieren. Der Horrorfilm SHELLEY (2016) erzählt von einer jungen Leihmutter, die ein Kind für ein Paar, das in einem abgelegenen Waldhaus lebt, austrägt. In BORDER, der in Cannes 2018 in der Reihe „Un certain regard“ gewann, tauchen menschenartige Wesen mit sehr eigenartigen Fähigkeiten auf, und HOLY SPIDER folgt, basierend auf einem realen Fall, einem Serienmörder im Iran. Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi wurde in Cannes 2022 mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet.

Patrick Heidmann hat sich mit Ali Abbasi über HOLY SPIDER unterhalten.

INDIEKINO: Herr Abbasi, bei der Weltpremiere von HOLY SPIDER in Cannes sagten Sie, Ihr Film solle wie eine Ohrfeige wirken. Was genau meinten Sie damit?

Ali Abbasi: Nun, zunächst einmal war mein Ziel, als ich mich dieser realen Mordserie aus den Jahren 2000 und 2001 widmete, ein Spiel mit dem Serienkiller-Genre. Wobei mich nicht das „wer“ interessierte, sondern das „warum“ hinter diesen Taten. Deswegen ist HOLY SPIDER auch weniger ein persisches SCHWEIGEN DER LÄMMER als ein persischer Film Noir. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Die besagte Ohrfeige, meinetwegen auch der sprichwörtliche Mittelfinger gilt dem seit bald 50 Jahren existierenden Paralleluniversum des iranischen Kinos, in dem Frauen in ihrer Kleidung und mit Kopftuch zu schlafen scheinen. Sie haben keinen Körper, keine Körperlichkeit, gehen nicht auf die Toilette und haben keinen Sex. Diesem Bild des Irans und iranischer Frauen, das wir dank des Kinos auch alle im Kopf haben, wollte ich etwas entgegenschleudern. Und dass mir das gelungen ist, bedeutet mir mehr als jede Auszeichnung.

Seit September gehen im Iran die Menschen in bislang ungekanntem Ausmaß auf die Straße, um für die Freiheit der Frauen und allgemein Menschenrechte und damit gegen die Regierung zu kämpfen. Haben diese Proteste, denen mit schrecklicher Brutalität begegnet wird, Ihrem Film noch einmal eine neue Bedeutung gegeben?

Vor allem hat sich der Kontext verändert und damit auch der Blick auf HOLY SPIDER. In Cannes zum Beispiel hörte ich häufig, dass der Film zu brutal sei und dass ich zu deutlich das Leiden der weiblichen Opfer des Mörders zeigen würde. Sogar von Misogynie war mitunter die Rede. Nun habe ich den Eindruck, dass viele dieser Stimmen verstummen, weil sich zeigt: Die Realität im Iran ist noch viel brutaler – und um darüber sprechen zu können, muss man diese Brutalität auch zeigen. Gleichzeitig empfinde ich als Regisseur es natürlich auch als schwierig, dass mein Film nun in eben diesem Kontext steht.

Warum?

Weil es eine heikle Balance ist, angesichts der Lage im Iran über meinen Film zu sprechen, in den ich 15 Jahre harte Arbeit gesteckt habe und der sehr viel mehr künstlerische Facetten hat als bloß ein gesellschaftspolitischer Kommentar zu sein. Und es ist mitunter auch nicht gerade einfach, immer wieder mit Journalist*innen über die Proteste sprechen zu müssen. Einerseits tue ich das gerne und weiß, dass man gar nicht genug Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken kann. Aber es bricht mir eben auch das Herz. Heute morgen sah ich ein Video der verzweifelten Mutter des jungen Mannes, der als erster Demonstrant seit Beginn der Massenproteste hingerichtet wurde. In solchen Momenten fehlen einem dann einfach die Worte. Ich sitze hier und rede, während dort das Regime die Bevölkerung umbringt. Da spüre ich schon viel Hilfs- und Aussichtslosigkeit.

Kann Ihr Film aber in dieser Zeit nicht auch eine Hilfe sein?

Interessanterweise verbreitete sich vor einigen Wochen wohl online eine Raubkopie des Films im Iran. Mir war immer klar, dass das irgendwann passieren würde, aber das Timing ist natürlich spannend – und selbstverständlich gaben die Staatsmedien mir die Schuld. Auf Twitter die ungefilterten iranischen Reaktionen auf den Film zu lesen, war sehr interessant. Natürlich gab es das Lager, das HOLY SPIDER als westliche Propaganda ablehnte, als pervers und anti-islamisch beschrieb und mich den neuen Salman Rushdie nannte. Aber ein Großteil der Leute fand, er zeige das wahre Gesicht der Islamischen Republik und erkannte in dem Film eine Ehrlichkeit, die es in iranischen Filmen vermisst. Manche sagten auch, er sei eine gute Motivation, um am nächsten Tag wieder gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Wobei ich nicht glaube, dass es dazu unbedingt den Film braucht. Diese Teenager, die dort bereit sind, sich für ihren Kampf verhaften und erschießen zu lassen, die sind in ihrer Wut und Verzweiflung längst viel weiter.

"Gewisse Themen muss man einfach auf bestimmte Weise erzählen."

Wir sprachen eben schon über die recht deutliche Gewalt im Film, aber Sie sind auch in Sachen Sex und Nacktheit ziemlich explizit. Das war doch sicherlich eine bewusste Entscheidung, quasi als Provokation in Richtung Ihrer früheren Heimat?

Ganz ehrlich: Ich finde eigentlich nicht, dass HOLY SPIDER sonderlich kontrovers, provokant oder grenzüberschreitend ist. Gewisse Themen muss man einfach auf bestimmte Weise erzählen. Der Fall, um den es im Film geht, mag 20 Jahre zurückliegen, doch er ist bis heute radioaktiv, um es mal so auszudrücken. Die Strukturen und Mechanismen, die ich mit dieser Geschichte aufzeige, existieren immer noch. Die Relevanz ist spürbar. Wenn ich das nicht deutlich mache in meinen Bildern, dann hätte ich etwas falsch gemacht, würde ich sagen. Und was Sex und Nacktheit angeht, war mir auch wichtig, dass ich mich nicht einfach der Zensur des iranischen Regimes unterwerfe. Ich will ja gerade an diesem bestehenden Tabu bezüglich weiblicher Körper rütteln und es nicht noch bestärken. Ohnehin muss ich sagen, dass ich – selbst wenn das nun arrogant klingen mag – nicht viele Gedanken an die Regierung im Iran und ihre Reaktion verschwendet habe. Ich trete nicht mit ihr in einen Dialog, sondern mit dem iranischen Volk.

Wo Sie gerade die Radioaktivität der Geschichte erwähnen: Wie wirkte die sich bei der Suche nach iranischen und iranisch-stämmigen Schauspieler*innen aus?

Enorm, weswegen sich die Suche sehr schwierig und aufwändig gestaltete. Ich habe mich mit vielen getroffen, die im Iran leben und arbeiten, und meistens war die Reaktion eine, die ich sonst vor allem aus Hollywood-Meetings kenne: Wir finden dich super und würden wahnsinnig gerne mal mit dir arbeiten, aber vielleicht lieber beim nächsten Projekt. Da klar war, dass unser Film nicht von der iranischen Regierung abgesegnet werden würde, haben fast alle abgewunken. Manchmal erst ganz spät, wie etwa die eigentlich vorgesehene Hauptdarstellerin, die erst kurz vorm Dreh doch abgesagt hat. Deswegen sprang dann Zar Amir Ebrahimi ein, die bis dahin als Casting Director für den Film im Einsatz war.

Eine Ausnahme ist Ihr Hauptdarsteller Mehdi Bajestani…

Auf den fiel meine Wahl, weil ich unbedingt jemanden wollte, der aus der Region kommt, in der die Geschichte spielt. Der diesen Dialekt spricht und einem ähnlichen Milieu entstammt, um wirklich für möglichst viel Authentizität zu sorgen. Als ich ihn besetzte, lebte er noch im Iran. Heute allerdings nicht mehr. Es wäre zu gefährlich für ihn gewesen, wieder dorthin zurückzukehren. Für die Besetzung der anderen Rollen haben wir auf der ganzen Welt gesucht, denn iranische Schauspieler*innen leben ja überall, von Paris und Berlin bis Istanbul, Toronto oder Sydney. Und für manche Rollen und Szenen, etwa die, in der es einen Blowjob zu sehen gibt, war mir auch klar, dass ich keine iranische Schauspielerin dazu würde überreden können. Selbst wenn sie längst im Ausland lebt, denn die kulturelle Verankerung wäre zu groß und der Bruch damit zu krass gewesen. Weswegen ich für die Rollen der Sexarbeiterinnen dann konkret Ausschau hielt nach jener neuen Generation, die schon in Europa geboren wurde und mit den dortigen Werten aufgewachsen ist.

"Fluch und Segen meiner Karriere ist es, dass ich mir erst einmal alles vorstellen kann"

Sie selbst kamen erst als Student nach Europa, inzwischen haben Sie den dänischen Pass. Verstehen Sie sich als europäischer Filmemacher?

Europäisches Kino ist für mich keine Frage der Sprache, sondern hat eher damit zu tun, mit welcher Haltung man an seine Geschichten herangeht. Deswegen verstehe ich mich definitiv nicht als iranischer Filmemacher. Natürlich ist vieles an mir noch immer iranisch, aber die Art und Weise, wie ich Filme drehe, hat im Iran keine Tradition. Da sind mir Buñuel, Lars von Trier oder Pasolini sicherlich näher.

Was macht für Sie denn einen europäischen Film aus?

Zum einen das Prinzip der Meinungs- und Kunstfreiheit. Bei jedem meiner Filme gab es irgendwann den Punkt, wo sich Verleiher aus nicht-europäischen Ländern meldeten, und zwar Interesse hatten, aber fragten, ob man nicht die eine oder andere Szene entfernen könne. Etwa weil da ein Penis zu sehen war oder so. Das habe ich in Europa eigentlich noch nicht erlebt. Zum anderen die Tatsache, dass in Europa das Kino und allgemein die Kultur auch als öffentliche Dienstleitung gesehen wird. Nicht ohne Grund wurden nach dem Zweiten Weltkrieg überall Kultureinrichtungen gegründet und öffentliche Gelder bereitgestellt, in der Hoffnung, dass kulturelle Bildung eine Wiederholung etwa des Nationalsozialismus verhindern könnte. Das sollte nun heute nicht dadurch unterlaufen werden, dass wir plötzlich anfangen, mit Fördergeldern nur noch halbherzige Marvel-Imitate statt schwieriger Stoffe zu unterstützen.

Apropos Marvel: hat Hollywood denn bei Ihnen schon angeklopft oder könnten Sie sich die Arbeit an einem US-Blockbuster ohnehin nicht vorstellen?

Fluch und Segen meiner Karriere ist es, dass ich mir erst einmal alles vorstellen kann und überall Potential sehe. Ich habe Hardcore-Arthouse-Kollegen hier in Europa, die sich beim Gedanken an einen Superhelden-Film von vorherein naserümpfend abwenden. Aber da bin ich anders. Zu den passenden Bedingungen könnte ich mir durchaus vorstellen, sehr gerne einen HULK-Film zu drehen. Worüber ich übrigens tatsächlich mit Marvel gesprochen habe. Ob man dort dann allerdings wirklich bereit wäre, mir eben diese passenden Bedingungen zu garantieren? So richtig kann ich es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Aber wer weiß, offen bin ich auf jeden Fall erst einmal für alles.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann.

Patrick Heidmann