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Feature, Interview

„Die Kinder haben uns vertraut und uns integriert in ihren Schulalltag“

Interview mit Maria Speth zu HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Maria Speth schloss 2001 ihr Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ mit dem Spielfilm IN DEN TAG HINEIN über eine planlose junge Frau in Berlin ab. 2007 drehte sie den Spielfilm MADONNEN, in dem Sandra Hüller eine Mutter spielt, die während eines Gefängnisaufenthalts ihre Familie zusammenhalten will. Alle Spielfilme von Maria Speth enthalten dokumentarische Elemente, 2011 ging sie aber den umgekehrten Weg, um obdachlose Jugendliche in 9 LEBEN zu porträtieren. Sie zeigte die Personen in einem artifiziellen, weißen Raum, um ihre Persönlichkeiten herauszustellen. 2014 folgte TÖCHTER, wieder ein Spielfilm, über eine Mutter, die ihre verschwundene Tochter sucht, und sich einer anderen jungen obdachlosen Frau gegenüber findet, mit der sie einen intensiven Schlagabtausch im Hotelzimmer führt.

Pamela Jahn hat sich für INDIEKINO mit Maria Speth über ihren Film unterhalten.


INDIEKINO: Herr Bachmann sagt am Ende des Films zu seiner Klasse, dass Noten nicht wirklich zählen. Es kommt darauf an, dass sie alle tolle Menschen sind. Würde es uns heute besser gehen, wenn wir alle so erzogen worden wären?

Maria Speth: Das weiß ich nicht, aber ich finde auch, dass man das Augenmerk nicht auf die Defizite richten sollte, sondern auf die Fähigkeiten und persönliche Eigenart der Kinder. Und das ist es auch, was den Unterricht von Herrn Bachmann für mich ausmacht. Dass er diesen jungen Menschen einen Raum eröffnet, in dem sie sich gut fühlen können. Und das widerspricht meiner Ansicht nach auch nicht dem, dass man Leistungen erbringt. Nur ist es eben ein Unterschied, was man wertet oder ausschließlich bewertet. Was nicht heißen soll, dass Noten immer schlimm sind, manchmal stehen die Kinder ja sogar darauf, benotet zu werden. Und das muss man dann gleichermaßen berücksichtigen. Aber ich wollte keinen Film über das Schulsystem oder das Lehrersein an sich machen. Mir ging es um diese ganz spezielle Gemeinschaft von Schüler*innen mit ihrer vielfältigen kulturellen Herkunft, die Dieter Bachmann in der ihm eigenen Art unterrichtet hat. Für einige dieser Kinder war es wichtig, dass sie auch andere Möglichkeiten hatten, sich zu beweisen, weil sie einfach der deutschen Sprache noch nicht so mächtig waren. In der Hinsicht waren solche Angebote, wie Musik zu machen, oder zu jonglieren oder Steine zu klopfen genau das Richtige, weil sie dadurch erfahren und spüren konnten, dass sie wertvoll sind, dass sie etwas können und dass sie Potential haben.

Als Lehrer ist Dieter Bachmann die Triebfeder Ihres Films. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?

Ich kenne Dieter Bachmann schon sehr lange. Wir sind uns über seine Freundschaft zu Kameramann Reinhold Vorschneider begegnet. Und er war es auch, der indirekt den Impuls zu diesem Film gab, weil er mich auf diese Stadt aufmerksam machte, mit ihrer ganz besonderen Geschichte. Zunächst wollte ich über Stadtallendorf erzählen, weil mich der Ort so fasziniert hat. Im Grunde war die Stadt der erste Protagonist des Films. Nur stellte sich dann die Frage, wie man Vergangenheit und Gegenwart des Ortes filmisch unter einen Hut bringt. Und so kam es, dass wir uns auf den Aspekt Schule konzentrierten, nicht zuletzt, weil Dieter Bachmann dort arbeitet und ich mein filmisches Interesse auch immer an konkreten Personen oder Figuren anknüpfen möchte.

Unterscheidet sich der Mann, den Sie vor dem Film kannten, von dem Mann, den Sie im Film zeigen?

Ich wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, einen Film über den privaten Dieter Bachmann zu machen. In der Rolle des Lehrers kannte ich Dieter bis dahin aber nicht. Ihn so zu erleben, hat mich dann bewogen, ihn zu einem wichtigen Protagonisten zu machen. Insofern habe ich ihn noch mal anders kennengelernt. Und wenn man jemanden filmisch beobachtet, nimmt man notwendigerweise Distanz ein. Das ist dann auch neu. Aber dadurch, dass er sich in seinem Unterricht auch als private Person erkennbar macht und das nicht hinter einer Rollenmaske versteckt, überschneidet sich vieles auch mit dem, was ich von ihm kannte. Zum Beispiel habe ich immer gesagt, der Klassenraum sei wie Bachmanns Wohnzimmer, mit den vielen Musikinstrumenten oder den Möbeln, die er teilweise zusammen mit den Kindern gebaut hat, und mit der großen Liege, auf der man sich ausruhen kann. Das könnte alles auch bei ihm zuhause stehen.

"Ich fand es in meiner Schulzeit immer merkwürdig, dass man bei den Lehrern oft nicht spüren konnte, was für ein Mensch hinter der Lehrerrolle steckt."

Was hat Sie am meisten erstaunt?

Am meisten erstaunt hat mich die familiäre Atmosphäre in der Klasse. Dann fand ich es spannend zu sehen, wie sehr Bachmann das Gespräch mit den Kindern sucht, sie herausfordert und sie darin bestärkt, eine eigene Meinung zu vertreten. Und so einen Freiraum für eine Gesprächskultur des Zuhörens und Antwortens etabliert, was keine Selbstverständlichkeit ist. Immerhin handelt es sich um eine ganz reguläre Gesamtschule, wo es einen Lehrplan gibt, der auch eingehalten werden muss.
Es war aber auch sehr schön zu sehen, wie die Kinder uns umgekehrt einen Raum gegeben haben, dass sie uns vertraut und uns integriert haben in ihren Schulalltag. Das ist zwar die Voraussetzung des Prinzips des unauffälligen und beobachtenden Drehens. Aber man kann vorher nie wissen, ob und inwieweit es tatsächlich funktionieren wird, dass bei den Protagonisten eine Art von Selbstvergessenheit einsetzt, die einen Film wie diesen überhaupt erst möglich macht.

Sie sind selbst in Bayern aufgewachsen. Welche Erinnerung haben Sie an Ihre eigene Schulzeit? Gab es da auch Schlüsselfiguren, die Sie geprägt oder inspiriert haben?

Ich bin auf eine katholische Mädchenschule gegangen. Man kann das so nicht vergleichen. Was ich aber zum Beispiel sehr an Herrn Bachmann schätze ist, dass er sich so zeigt wie er ist, mit all seinen Stärken und Schwächen. Dass er alles, was ihn beschäftigt, mit in den Schulalltag einbringt, und alles was er kann, in die Waagschale wirft. Ich fand es in meiner Schulzeit immer merkwürdig, dass man bei den Lehrern oft nicht spüren konnte, was für ein Mensch hinter der Lehrerrolle steckt.

Für Ihren ersten Dokumentarfilm 9 LEBEN haben Sie Berliner Obdachlose in einem weißen Studioraum befragt. Jetzt sind Sie mittendrin in der Schule, im Leben der Kinder. Wie stehen sich diese beiden Ansätze gegenüber?

Vor der Entstehung von 9 LEBEN arbeitete ich an dem Drehbuch für meinen Film TÖCHTER. Als Teil der Recherche bin ich in Obdachloseneinrichtungen gegangen, um mit den jungen Leuten dort zu sprechen und ihre Lebenswirklichkeit kennenzulernen. Aber dann haben mich diese Begegnungen so sehr fasziniert, dass ich das Bedürfnis hatte, daraus einen eigenen Film zu machen, einfach weil das, was die Jugendlichen erlebt haben, so gar nicht dem Klischee entsprach, das man von jungen Obdachlosen im Kopf hat. Ich wollte die Aufmerksamkeit allein auf die konkreten Menschen und ihre Biografien richten. Sie aus ihrer klischeebehafteten Umgebung herauszulösen, schien mir dafür ein gutes formales Mittel zu sein. Außerdem war ich damals auch sehr inspiriert von Richard Avedon, der Porträts von Menschen in Schwarz-Weiß fotografiert hat. Und ich dachte mir, so müsste man es in dem Fall filmisch machen. Es war ein gewisses Risiko dabei, die Jugendlichen in einem so abstrakten, sterilen Studioraum zu befragen, weil ich mir nicht sicher war, ob in diesem Setting eine intime Gesprächssituation überhaupt zustande kommen kann. Aber es hat funktioniert. Diese formale Herangehensweise war inhaltlich gesehen bei HERRN BACHMANN gar nicht möglich. Trotz der formalen Unterschiede, sind die beiden Stoffe dennoch verwandt. Ich habe wahrscheinlich eine gewisse Affinität für Menschen, die nicht so "im Licht stehen", sondern eher am Rand der Gesellschaft, und die es unter Umständen viel schwerer haben.

Ein weiterer Schwerpunkt vor allem in Ihren Spielfilmen, ist eine oft schmerzliche Beziehung zwischen Müttern und Töchtern. Was steckt dahinter?

MADONNEN entstand ganz konkret aus dem Impuls heraus, dass ich selbst gerade ein Kind bekommen hatte und mich plötzlich mit der Mutterrolle konfrontiert sah. Damals kamen Fragen in mir auf wie: Was macht das mit mir? Wie gehe ich damit um? Was erwartet die Gesellschaft? Was darf man und was darf man nicht? Zu dem Zeitpunkt war ich noch an der Filmhochschule in Babelsberg. Im Rahmen eines Dokumentarfilmseminars fing ich an, mich mit Müttern im Gefängnis zu beschäftigen, die in einer Ausnahmesituation ihre Mutterrolle erfüllen mussten. Es gibt ein Gesetz, dass stillende Mütter nicht von ihren Kindern getrennt werden dürfen, die Säuglinge also mit im Gefängnis sitzen. Ich habe in der JVA Preungesheim gedreht und dort das Vorbild für die Figur der Rita aus MADONNEN kennengelernt. Ich war beeindruckt von dieser Frau, die im Film von Sandra Hüller gespielt wird, dass trotz der ganzen Schroffheit und Härte, die sie ausstrahlt, auch viel Liebe in ihr steckt, und wie sie immer wieder verzweifelt versucht, in ihrer schwierigen Situation so etwas wie eine Familie aufzubauen.

"Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr herzliche und warme Menschen sind"

Teenager, wie Sie sie in HERR BACHMANN zeigen, können erfahrungsgemäß gnadenlos und brutal sein. Brenzlige Situation oder eskalierende Streitigkeiten blenden Sie im Film jedoch weitestgehend aus. Gab es diese extremen Momente wirklich nicht?

Man muss berücksichtigen, dass wir die Kinder nur an der Schule und in ihrem Klassenverband kennengelernt haben. Und da war ich tatsächlich erstaunt, wie freundlich und respektvoll die Kinder nicht nur mit uns, sondern auch im Umgang mit anderen waren. Das war auch so, wenn die Kameras nicht liefen. Sie haben sich unglaublich viel bedankt, und ich hatte das Gefühl, dass sie sehr herzliche und warme Menschen sind. Mich hat das stark beeindruckt und auch sehr bewegt. Das war für mich dann auch das Entscheidende, ich wollte diese Atmosphäre, die beim Drehen vorherrschte, so auch in den Film übertragen. Trotzdem gab es ja durchaus viele Konflikte zwischen den Schülern, die im Film aber auch vorkommen.

Denken Sie das hat in erster Linie mit dem kulturellen Hintergrund der Kinder zu tun, oder mit Herrn Bachmann und seiner Methode?

Ich glaube beides. Diese direkte und emotional unverstellte Art, das muss natürlich von irgendwo herkommen, und es kommt sicher zum großen Teil aus den Familien, ihrer sozialen Schicht und kulturellen Herkunft. Aber es ist genauso wichtig, dass die Kinder sich in der Schule, in ihrem Klassenzimmer, so zeigen können, wie sie sind. Ich fand es zum Beispiel sehr berührend, wenn solche „Glücks-Ausrufe“ völlig aus dem Nichts kamen, wie: „Ich habe meine Klasse lieb.“ Oder sich umarmt wurde. Diese Körperlichkeit zwischen den Kindern, aber auch ihren Lehrern gegenüber, finde ich sehr besonders.

Meist rennen die Figuren in Ihren Filmen vor irgendwas weg, gehen auf die Suche. Diesmal scheinen die Schüler*innen in Herrn Bachmann etwas zu finden. Sind Sie persönlich mit dem Film auf eine Art auch bei sich angekommen?

Ich glaube auch, dass HERR BACHMANN sich von meinen anderen Filmen abhebt, am ehesten in der Hinsicht, dass er die positive Seite des Lebens im Blick hat und nicht die Defizite, mitunter auch immer wieder lustig ist. Das war bei meinen früheren Arbeiten wahrscheinlich nicht so, dass es da so viel zu lachen gab. Und ja, das ist auch schön für mich, das zu erleben. Und vielleicht ist das auch Ausdruck persönlicher Veränderung, aber kein Ankommen. Das hieße ja, dass es keine weitere Entwicklung gäbe. Ich bin sehr glücklich, dass der Film so geworden ist. Auch was die Länge betrifft, denn in dieser Hinsicht gab es auch Bedenken meinerseits. Ich bin jetzt aber sicher, dass es eben diese Zeit braucht, um all diesen Persönlichkeiten gerecht zu werden, soweit man das überhaupt kann. Ich hoffe, dass mir das ein Stück weit gelungen ist.



Das Gespräch führte Pamela Jahn