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Interview

„Das Unausgesprochene ist das Wichtige“

Interview mit Omer Fast

Omer Fast, 1972 in Jerusalem geboren, wuchs in Jerusalem und New York auf und lebt und arbeitet heute in Berlin. Fast ist als Künstler erfolgreich und vor allem für seine Videoinstallationen bekannt. Er hat unter anderem bei der Biennale Venedig 2011 und bei der Documenta Kassel 2012 ausgestellt. REMAINDER ist sein erster Spielfilm.

INDIEKINO BERLIN: Du warst bisher sehr erfolgreich im Kunstbetrieb tätig. Wie hast du den Übergang vom Kunstbetrieb zum Filmgeschäft empfunden?

Omer Fast: Ganz am Anfang war ich idealistisch, am Ende erschüttert und verzweifelt. (Pause) Nein, es war mir natürlich bewusst, dass wir einen Film machen. Aber es hat so lange gedauert und im Prozess weiß man nie, ob man wirklich einen Film macht. In diesem Fall war es bis zur letzten Minute so, dass ich mit einer großen Ungewissheit arbeiten musste. Es hat fünf Jahre lang gedauert und in diesen fünf Jahren habe ich drei Filme für die Kunst gemacht. Es sind einfach total unterschiedliche Ökonomien, total unterschiedliche Arten zu arbeiten.

Weil die Finanzierung anders funktioniert?

Ja, aber viel hat auch damit zu tun, dass es mein erster Film war, und alles neu und fremd war. Auch der Versuch, mit Hilfe von anderen Beteiligten einen Roman zu adaptieren, ein Buch, das ich sehr mag, war neu für mich. In der Kunst gehe ich normalerweise von Situationen aus, die vom Dokumentarischen geprägt sind, oder ich mache ein Gespräch, und aus dem Text, der daraus entsteht, schreibe ich ein Drehbuch und entwickle daraus einen Film. Oder ich schreibe ganz klassisch ein Drehbuch und verfilme das. Aber eine Adaption, so wie hier, und die Beteiligung von Finanziers und Produzenten, was für einen Film normal ist, ist in der Kunst undenkbar. Da arbeitet man viel, viel freier. Alleine.

Trotzdem gibt es doch eine große Kontinuität zwischen deinen Arbeiten für Kunstgalerien und REMAINDER. Eine Arbeit wie THE CASTING, wo du Erzählungen von Interviewten verfilmst, ist doch eigentlich auch eine Adaption.


Ja.

Wo liegt für dich der Unterschied zwischen der Adaption einer mündlichen Erzählung und eines Romans?

Vielleicht ist es nicht die Adaption selbst, sondern wie man etwas adaptiert. Ich bin es nicht gewohnt, in einem Raum mit zwei Produktionsteams zu sitzen, die womöglich unterschiedliche Vorstellungen haben, weil eines öffentlich ist und eines privat, so wie es damals in London der Fall war. Zwei unterschiedliche Vorstellungen, welche Erzählung man möchte und wie man Zuschauer erreicht und berührt. Wenn man allein arbeitet, muss man viel weniger Sachen aussprechen. Aber etwas zu erklären ist nur manchmal hilfreich, manchmal ist es das Gegenteil davon. Ich mag es sehr gern, mit dem Unausgesprochenen zu arbeiten. Am Ende geht es darum in REMAINDER. Wenn er am Ende dasteht, ist das Unausgesprochene das Wichtige. Insofern kehrt der Film am Ende zurück in die Kunst, aber es gibt mehrere Hinweise im Verlauf der Geschichte, die auf etwas anderes hindeuten, zum Beispiel auf einen Thriller oder Krimi, oder nehmen wir den Banküberfall. Das Spiel mit Genre ist auch etwas, das in meinen Arbeiten oft vorkommt.

Das Spiel mit Genre ist etwas, das in meinen Arbeiten oft vorkommt.

Wo würdest du in deinen früheren Arbeiten denn ein Spiel mit Genre sehen? In THE CASTING, wo du die Geschichte eines Kriegsveterans inszenierst und auf Kriegsfilme Bezug genommen wird?

Da geht es auf jeden Fall auch um Kriegsfilme. Auf der Berlinale habe ich CONTINUITY gezeigt, und weil die Finanzierung von 3SAT kam, und ich wusste, dass sie den Film irgendwann senden werden, war das für mich ein Anlass, um über das Fernsehen nachzudenken und über Erzählformen von Bürgerlichkeit im Fernsehen. CONTINUITY ist eine Homecoming-Geschichte, ein Kammerspiel, das diese Familie im Zentrum der Geschichte hat. Das war für mich sehr stark von einem gewissen Genre geprägt. Es gibt andere Beispiele: Eine Arbeit, die NOSTALGIA heißt, da habe ich ein Science-Fiction-, 70er-Jahre-B-Movie-Genre eingebunden. Für mich ist das schon seit ein paar Jahren ein Thema.

In REMAINDER ist es sehr auffällig, dass es zwei Linien gibt. Das eine ist eine Genre-Geschichte, die etwas später einsetzt, ein Gangster- oder Heist-Movie, das andere ist eine philosophische Reflexion über Identität, Erinnerung und Re-Inszenierung – und eventuell auch über das Filmemachen selbst. Wie verbindet sich das für dich?

Für mich ist das wie ein Spiel. Wie heißt das auf Deutsch: Das sieht man oft auf der Straße, es ist illegal, und man hat so drei Dinger und jemanden, der sehr geschickt mit den Händen…

Hütchenspiel

Genau. Und daraus entsteht eine gewisse Freude an dem Film, hoffe ich, dass man die ganze Zeit Hinweise kriegt und hofft, dass die Lösung dieser Geschichte thrillermäßig irgendwann kommen würde, und ganz am Ende hat man plötzlich ein ganz anderes Modell von Denken und von der Lösung vor sich. Im Grunde war es als Spiel gemeint, die eher krimiartigen Hinweise sollten mit dem unausgesprochenen, reflektierenden Format verbunden sein, bis die Stricke am Ende wieder reißen und man einen mehrdeutigen Zustand erreicht.

REMAINDER ist eine Erzählung von jemandem, der versucht, eigenständig eine Logik, eine Sprache zu erfinden, wo es keine Sprache gibt

REMAINDER erinnert an Filme wie die von David Lynch, vor allem an MULHOLLAND DRIVE und LOST HIGHWAY oder auch Charlie Kaufmanns SYNEKDOCHE, NEW YORK. Aber als ich gerade aus dem Film heraus kam dachte ich erstmal: okay, jetzt ist ja alles geklärt. Die philosophische Reflexion leitet in einen Genrefilm über und am Ende hat man eine perfekte Schleife und eigentlich scheint alles klar. Und dann tauchen allmählich Elemente in der Wahrnehmung auf, und ich dachte plötzlich: Moment mal, wie kommt der Koffer da jetzt ins Spiel? Und andere Dinge, die so einen ungeklärten Rest – was ja REMAINDER auch heißt – ergeben.

Ja, genau.

Das ist in Lynchs Filmen ähnlich. Es gibt im Internet natürlich gerade unter Fans Leute, die das alles erklärt haben wollen. Ich habe schon völlig rationale Erklärungen von MULLHOLLAND DRIVE gelesen, wo wirklich jedes Detail zugeordnet worden ist zu einer neuen Geschichte, die genau erklärt: Was ist eigentlich passiert.


Wie furchtbar! Für mich ist diese buchhalterische Art, Filme zu erklären, wie arbeiten mit einer Excel-Tabelle. Es ist nicht unwichtig, die Sachen manchmal so durchzudenken, aber das was ich an Lynch zum Beispiel genieße, ist einfach, die Filme als Erscheinungen zu sehen. Klar, es gibt so einen Nexus von Beziehungen und von Ereignissen, und man denkt einfach mit. Aber ich bin völlig, völlig zufrieden damit, einfach die Dinge so mehrdeutig zu lassen, wie sie sind – in der Kunst und auch im Leben.

Mich würde aber schon interessieren, welche Deutungsmöglichkeiten du für den Begriff REMAINDER siehst. Was ist dieser Rest eigentlich? Ist das ein Erinnerungsrest, der sich in Toms Re-Inszenierungen manifestiert? Das ist doch nicht alles, oder?

Nein. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die am Ende auch offenbleiben. Es gibt natürlich den Protagonisten und er selbst ist der Rest. Er ist derjenige, der überlebt und auch bleibt. Mit dem Überleben hat er die Aufgabe, eine gewisse Ordnung, einen Sinn zu schaffen, und das macht er. Wir verstehen, dass er der Rest ist, wenn wir den Film zu Ende sehen, und, dass er gleich wieder von vorne anfängt. Und dann gibt es diese Genreelemente: es gibt den Koffer, es gibt die Polizisten, die plötzlich ohne Erklärung auftauchen, wofür er gegen Ende des Film die Erklärung findet. Sie nehmen nämlich die Beweise auf, also quasi die Reste der Tat, und dann tauchen sie am Anfang des Films auf und man weiß nicht, wer sie sind, bevor man den Film zu Ende sieht. Weil die Geschichte diese kreisförmige Struktur hat, gibt es immer diese Dinge, die nicht logisch sind, die in einer Bewegung so bleiben müssen. Die Erklärung dafür ist auch so eine Art REMAINDER: das ist etwas, das wir mitziehen müssen, um Sinn aus etwas zu machen, was im Grunde eher eine ästhetische Form hat und nicht unbedingt eine logische Form. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten.

Ich habe auch an Freud und Lacan gedacht. Bei Freud gibt es den Tagesrest, aus dem dann durch Verschiebung und Verdichtung der Trauminhalt entsteht, und bei Lacan ist der Rest das Reale, das nicht mehr in die symbolische Ordnung integriert werden kann und dann nur noch in der Psychose einen Ausdruck findet.

Diese lacanianische Interpretation von Trauma ist für mich ein Schlüsselbegriff. Es ist sehr wichtig, dass man Trauma als eine Art Störung im signification process (dt. Bezeichungsprozess) sieht. Man muss diese Modelle, die konventionell im Film verwendet werden, um eine tabellenartige Interpretation und eine lineare, normative Anordnung von Ereignissen, die eine gewisse Kausalität haben, zu ermöglichen, beseitigen und eine andere Logik entwickeln. Im Grunde ist REMAINDER eine Erzählung von jemandem, der versucht, eigenständig eine Logik, eine Sprache zu erfinden, wo es keine Sprache gibt. Er hat nur diese kleinen Fetzen, kleine Fragmente, die nicht-sprachlich sind, die eher visuell sind, und er versucht sie durch diese Mittel – kapitalistische Mittel, autoritäre Mittel, künstlerische Mittel – zu inszenieren, damit er am Ende vielleicht eine neue symbolische Ordnung schafft. Und das gelingt ihm, würde ich sagen, zum Teil.

Du meinst, es gelingt ihm?


Ja! Ja! Ganz am Ende haben wir, glaube ich, einen Moment von Anerkennung. Er darf, ganz am Ende des Films, ruhig dastehen und die Augen zu machen und einfach diese Ruhe bewahren und genießen, und das macht er im Laufe des Films niemals. Er versucht es die ganze Zeit, aber es gelingt ihm nicht. Es gelingt ihm ganz am Ende, weil er versteht, dass es eine Verschiebung gibt, diese systemische Verschiebung zwischen der symbolischen Ordnung und anderen Ordnungen. Er schafft im Grunde einen kleinen Platz für sich, an dem er ruhig stehen kann. Für mich war es so, dass der Film um diesen Moment kreist. Das ist ein Moment, den ich auf Englisch grace nennen würde. Für mich ist das fast religiös, und für mich ist Religion kein Schlüssel, um das Leben zu verstehen und auch nicht den Film, aber er erlebt einen Moment der Anerkennung am Ende, und das ist der emotionale Kern der Geschichte für mich.

Das Gespräch führte Tom Dorow