Interview
“BLAUBEER-EISKREM MIT EINER SAUREN NOTE“
Gespräch mit Sean Baker über seinen Film THE FLORIDA PROJECT
INDIEKINO BERLIN: Herr Baker, der Schauplatz Ihres neuen Films, ein herunter gekommener Motel-Komplex jenseits von Disney World, spielt in Bezug auf die Handlung eine tragende Rolle. Woher kam die Idee, im Schatten des Magischen Schlosses zu drehen?
Mein Drehbuchautor Chris Bergoch hat mich auf das Motel gebracht. Aber als wir mit der Recherche begannen, haben wir festgestellt, dass bereits einiges darüber geschrieben worden war. Und auch einen Dokumentarfilm gab es bereits, und zwar darüber, dass sich eine ähnliche Situation auch im Orange County an der Westküste abzeichnet, sowie kreuz und quer im ganzen Land. Billige Motels, wie die, die wir im Film zeigen, sind quasi zur letzten Anlaufstelle für Familien in Geldnot geworden. Danach bleibt ihnen nur noch die Straße. Aber es ist natürlich ein großes Paradox, wenn die Kinder dann einen Steinwurf entfernt vom „Magischen Königreich“ aufwachsen. Darum haben wir uns auf Orlando und Kissimmee in Florida konzentriert.
Das Drehbuch zu THE FLORIDA PROJECT hatten Sie und Chris angeblich schon länger in der Schublade. Haben Sie es dem Erfolg von TANGERINE zu verdanken, dass Sie den Film schließlich drehen konnten?
Auf jeden Fall. Das hat uns direkt die Möglichkeit gegeben, das Projekt zu finanzieren. Die Leute von June Pictures meinten nur: „Hier ist das Budget, damit kannst du machen, was du willst. Und du bekommst den Director’s Cut.“ Das war’s, mehr brauchte ich nicht zu hören. Wir zeigten ihnen das Treatment, das wir schon vor fünf Jahren geschrieben hatten, und sie haben es angenommen.
Es geht in Ihrem Film auch darum, Armut zu thematisieren, ohne immer gleich trist und deprimierend zu wirken.
Das war in TANGERINE ja schon so ähnlich. Bereits da ging es darum, eine sehr ernste und im Grunde todtraurige Situation in einem comichaften Stil zu verpacken. Und wir haben damals gemerkt, dass es funktioniert. Aber was noch viel wichtiger war: Angesichts des Unterhaltungswerts, den der Film hatte, haben wir am Ende ein größeres Publikum erreichen können. Plötzlich bekamen wir all diese Nachrichten über Twitter und Facebook, von Leuten, die die Geschichte inspiriert hat, aktiv zu werden, helfen zu wollen. Und uns hat es gezeigt, dass es keinen Vorschlaghammer braucht, um Menschen auch mit harten Themen zu erreichen. Deshalb haben wir uns in THE FLORIDA PROJECT erneut auf dieses Model berufen.
Christopher hat die Dreharbeiten als eine Art von Sommerlager gesehen
Anders als bei TANGERINE, haben Sie dafür diesmal ein ganzes Drehbuch ausgearbeitet.
Ja, bei dem Budget ging es gar nicht anders. Aber ich bin jemand, der die Schauspieler beim Drehen eigentlich immer zur Improvisation ermutigt. Ich denke, es hilft vor allem denen, die zum ersten Mal in ihrem Leben vor der Kamera stehen, weil sie meistens Probleme damit haben, sich die Dialoge zu merken. Was ja auch kein Wunder ist, immerhin haben sie nie eine klassische Ausbildung absolviert. Wenn man als Regisseur mit Laien arbeitet, muss man sich darauf einstellen. Das ist bei jedem Menschen und bei jedem Film anders. Bria zum Beispiel habe ich über Instagram gecastet. Einmal wegen ihrer Körpersprache, aber auch, weil sie mich zum Lachen gebracht hat. Dann haben wir sie eingeladen und sie hat sich auf Anhieb super mit den Kids verstanden. Das war keine anderthalb Monate vor Drehbeginn. Dass heißt, sie brauchte dringend einen Crash-Kurs im Schauspielern, das ging gar nicht anders. Sie musste ja innerhalb von ein paar Wochen in der Lage sein, eine Szene mit Willem Dafoe zu stemmen, das will schon was heißen. Da ist eine Menge Druck im Spiel. Vor allem für eine 22-Jährige, die sonst nur daran gewöhnt ist, in ihrem Zimmer allein vor dem Spiegel zu posieren.
Fiel es den Kindern einfacher?
Brooklynn ist eine professionelle Schauspielerin, wenn sie so wollen. Ich denke nicht, dass sie jemals irgendeinen Druck verspürt hat. Valeria schon, und auch der kleine Christopher. Wir hatten beim Casting bewusst alles so offen wie möglich gehalten. Jeder konnte sich bewerben, ob Laie oder Profi. Nur so haben wir Christopher Rivera, der im Film Scooty spielt, überhaupt gefunden. Allerdings ist er auch ein sehr extrovertiertes Kind, das immer für einen Spaß zu haben ist. Ich glaube, er hat die Dreharbeiten ein bisschen als eine andere Art von Sommerlager gesehen. Bei Valeria war das anders, sie ist eher scheu. Und sie war gerade mal fünf, als wir sie entdeckt haben. Sie muss unter einem enormen Druck gestanden haben. Aber man muss dazu sagen, dass alle drei extrem wunderbare Eltern haben. Das war Gold wert. Ich wollte auf keinen Fall die Sorte schleimiger Hollywood-Eltern um mich, die ihr Kind nur zur Schau stellen wollen. Das hätte vorne und hinten nicht funktioniert. Wir brauchten Kinder, die extrem gute Rückendeckung und Unterstützung hatten.
Es ist hart, wenn man eigentlich helfen will, aber selbst zu denen gehört, die am kürzeren Hebel sitzen
Was treibt die Familien dazu, in Budget-Motels zu ziehen?
Jede Familie hat ihre ganz persönlichen Gründe. Für viele ist es eine Übergangslösung. Oft kommen sie aus der Stadt, aus Gegenden wie New York, in der Hoffnung, Arbeit zu finden und von der wachsenden Wirtschaft Floridas zu profitieren. Das gelingt aber natürlich nicht allen, und so landen sie irgendwann im Motel, weil sie da keine Nebenkosten zahlen müssen. Das hilft ihnen, sich ein bisschen länger über Wasser zu halten. Wasser, Müll, Wi-Fi ist inklusive, und dennoch müssen sie jeden Monat um die $1000 aufbringen. Dazu kommt, dass die Leute, die in den Motels unterkommen, leicht in Abhängigkeit geraten: Drogen, Alkohol, das Übliche. Oder sie werden zu kriminellen Handlungen verleitet, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Auch Leute, die von der Gesellschaft verstoßen wurden, landen hier. Die Gründe sind unzählig und vielfältig. Es ist sehr, sehr kompliziert.
In Ihrem Film gehen Sie auch auf das Problem Prostitution ein.
Die Tatsache, dass es noch immer illegal ist, das ist das Problem. Amnesty International hat sich in einer Grundsatzentscheidung dazu entschlossen, für die Legalisierung von Prostitution einzutreten, und auch ich stimme dem voll und ganz zu. Die Entkriminalisierung des Gewerbes hilft denen, die darauf angewiesen sind, sich auf diese Art und Weise durchzuschlagen, weil sie sonst keine andere Wahl haben.
Ich möchte kurz auf die Kameraarbeit zu sprechen kommen, die in Ihren Filmen eine große Rolle zu spielen scheint.
Für mich ist Kino die Summe vieler verschiedener Elemente, aber die Kameraführung steht ganz oben, auf gleicher Höhe mit der Handlung. Ich hatte das große Glück, mit so wundervollen DPs wie Radium Cheung und jetzt Alexis Zabe zusammenzuarbeiten, und was Alexis zu dem Film gebracht hat, ist unglaublich – er hat auf Anhieb verstanden, worum es ging. Er hat sich in die Umgebung eingefühlt und auch die politische Dimension dahinter sofort begriffen, und hat dann daraus seine eigene visuelle Darstellung gebastelt. Er hat das Ganze am Ende „Blaubeer-Eiskrem mit saurer Note“ genannt.
Wie haben die Leute aus den Motels reagiert, als es darum ging, ihr Zuhause zu filmen?
Auch in der Hinsicht gibt es Parallelen zu TANGERINE. Wenn man es mit Leuten zu tun hat, die sonst von der Gesellschaft ignoriert werden, ist es oft so, dass sie einem, sobald sie die Gelegenheit bekommen, alles erzählen. Es gab ein paar Motel-Manager, die die Rolle von Willems Bobby-Charakter beeinflusst haben. Ein Mann ganz speziell, John Manning, der uns seine Welt offengelegt hat. Er hatte alle Mühe, sein Motel vor dem Verfall zu bewahren, geschweige denn seinen eigenen Job zu halten. Gleichzeitig musste er sich um 200 Familien, fast alles Härtefälle, kümmern. Er musste Familien evakuieren, weil die Betreiber nicht länger auf die Miete warten wollten. Das ist hart, vor allem, wenn man eigentlich helfen will, aber selbst zu denen gehört, die am kürzeren Hebel sitzen.
Gab es auch filmische Inspirationen? LITTLE RASCALS (DIE KLEINEN STROLCHE) zum Beispiel, oder OLIVER TWIST?
Unbedingt. LITTLE RASCALS hatte einen großen Einfluss auf mich. Wer den Film kennt, wird auch hier und da bestimmte Sätze entdecken, die wir übernommen haben, als Hommage sozusagen. Aber auch Filme mit Kindern allgemein haben eine Rolle gespielt. Wir haben uns viel angeschaut. Grundsätzlich ging es mir darum, weite Einstellungen zu haben, und den Blick länger auf den Kindern zu halten. Ich wollte nicht mit dem Schnitt ihr Spiel manipulieren, sie sollten in den Szenen lebendig sein. Dieses Gefühl von Freiheit und Ungebundensein, das LITTLE RASCALS vermittelt, wollte ich auch auf unseren Film übertragen. Insgeheim habe ich die ganze Zeit gehofft, dass uns einer wie Spanky McFarlane über den Weg läuft. Ganz ehrlich, ich wollte den Film gar nicht machen, es sei denn wir würden unsere moderne Version eines Spanky finden – und dann kam Brooklynn.
Seit der Premiere letztes Jahr in Cannes ist Ihr Film in aller Munde. Hat Sie das überrascht?
Ja, total. Es ist schon Wahnsinn, dass der Film so gut aufgenommen wurde. Ich arbeite schon recht lange im Indie-Filmgeschäft, an Filmen, die in der überschaubaren Indie-Welt Aufmerksamkeit erregen. Aber dass mir jetzt sogar Freunde aus der High School Nachrichten schicken, weil sie gerade in der New York Times über THE FLORIDA PROJECT gelesen haben, das ist schon toll. Und es ist genau dass, was wir erreichen wollten. Was will man mehr?
Das Interview führte Pamela Jahn