Magazin für unabhängiges Kino

Feature, Feature, Filme

Berlinale XIV: Doch, das ist schon große Kunst

Wettbewerb: ICH WAR ZUHAUSE, ABER

Man kann das ganze akademische Instrumentarium an diesen Film heranschleppen: die Geschichte des postdramatischen Theaters seit den 80er Jahren, die Collagetechniken, die Sprachexperimente, die Choreografien, die Chöre, die Nummernrevue statt des großen dramatischen Bogens. Oder das Nachdenken über Repräsentation nicht nur in der Gendertheorie. Kann man alles machen. Muss aber auch nicht sein.

Let’s dance for fear your grace should fall. Let’s dance for fear that life is all.

Die Frau liegt auf einem Stein, neben einem Fluss. Die Kinder spielen im Wasser. Dann tanzen die Kinder und die Frau in einem Krankenhaus, ernst, zur Musik von M.Ward, der die Traurigkeit aus David Bowies Song an die Oberfläche holt, die unter den pfirsichfarbenen Anzügen und dem Nile Rodgers Groove verborgen lag. Sie tanzen, aber es sieht auch nicht aus, als würde das es wirklich bringen. Aber immerhin. In Godards BANDE A PART tanzten sie auch so. Man merkt in Angela Schanelecs Film, wie sehr die Nouvelle Vague fehlt. Man hat sowas so lange schon nicht mehr gesehen. Niemand sieht sich sowas noch an.

Die Frau wird manchmal heftig. Sonst regt sich niemand auf. Die Anderen sprechen die Worte, als begegneten sie ihnen gerade erst, als kennten sie auch nicht die Gefühle, die zu den Worten gehören. Das gibt den Worten ein seltsames Gewicht, als wären sie neu und einsam. Aber die Frau wird heftig. Ein Künstler, Filmemacher, hat sich auf eine Professur beworben, mit einem Film, in dem Schauspieler und Tänzer irgendetwas mit Sterbenden machen. Die Frau findet das falsch, weil das Theater lügt und das Sterben die Wahrheit ist. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, er war Theaterregisseur, wie Jürgen Gosch, der 2009 verstorbene Partner von Angela Schanelec. ICH WAR ZUHAUSE, ABER ist auch ein Film das Trauern, aber auch über das Theater und über die Wahrheit.

Die Frau hat zwei Kinder, eine kleine Tochter, und einen älteren Sohn, der verschwunden war, jetzt ist er wieder da. Seine Jacke ist so schmutzig. Die Frau will sie reinigen lassen. Das geht wohl nicht mehr raus, sagt die Angestellte der Reinigung. Versuchen Sie es trotzdem? Sie will es versuchen. Es geht ums Weitermachen, darum, sich wieder zu fassen.

Man kann die ganzen Zitate abklappern. ICH WURDE GEBOREN, ABER ist einer von Ozus berühmtesten Filmen, ein Esel kommt vor, und weil auch Schanelecs Bilder an Robert Bresson erinnern, steht sofort der leidendende Esel aus AU HASARD BALTHASAR im Raum. Muss man aber auch nicht. Ein Hund jagt einen Hasen, der Hund frisst den Hasen in einer Ruine, der Esel kommt in die Ruine und stellt sich ans Fenster. Das eine geschieht neben dem anderen, so wie auch der Film nur Ausschnitte aus einem Blick auf das Leben zeigt, vielleicht aus der Perspektive des Esels, der daneben steht, und den das alles nicht angeht.

Angela Schanelecs Film wäre ein verdienter Berlinale-Gewinner, ein Film für alle ist er nicht, aber eher deshalb nicht, weil es nur noch so wenige Filme gibt, die ein wenigstens ein bisschen anders sind. Im Theater sind die Formen von Schanelecs Film seit Jahrzehnten erprobt, das Spiel mit Sprechtechniken, Bewegungen, und Körperhaltungen. Im Film ist es dann doch ein Schock, wenn deutsche Stars wie Lilith Stangenberg und Franz Rogowski einen Dialog über Liebe, Heiraten, Kinderkriegen und Einsamkeit halten, als seien sie Automaten. Jedes Bild sagt: Ich bin ein Ausschnitt, nicht aus der Welt, sondern aus einem Bewusstsein. Die Kamera, die sich nur bewegt, wenn es sein muss, die Schnitte, die keine Bewegungszusammenhänge herstellen, unterstreichen das. Wie setzt man etwas in Verbindung, scheint der Schnitt zu fragen, wie der Film danach fragt, wie man sich zu der Welt in Verbindung setzen kann, mit einem Menschen, mit irgendetwas. Doch, das ist schon große Kunst.

Tom Dorow