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Berlinale IV: Worte als Befreiung

Wettbewerb: Grâce à Dieu

François Ozons GRÂCE À DIEU erzählt von einem laufenden Prozess gegen den pädophilen Priester Bernard Preynat und gegen die katholische Kirche wegen der Vertuschung des jahrzehntelangen Missbrauchs. Der Prozess gegen den Kardinal Barbarin, der dafür verantwortlich war, dass Preynat noch bis 2016 mit Kindern arbeiten durfte, begann im Januar, das Urteil wird für den März erwartet. Wesentlich aktueller kann Kino kaum sein – und nach der deutschen Rechtsprechung wäre Ozons Film hier auch mindestens problematisch. Andererseits hält sich Ozon an die bekannten Fakten des Skandals, der Frankreich schon seit mehreren Jahren erschüttert.
GRÂCE À DIEU (Gott sei Dank) nimmt seinen Titel von einem Zitat des Kardinals bei einer Pressekonferenz: Gott sei Dank seien die meisten Anschuldigungen gegen den Pêre Preynat verjährt. Da hat sich der Kardinal verplaudert. Mehr als die Schweinereien der Kirchenfürsten interessiert sich Ozon aber für die Opfer. Sein Film wechselt mehrmals den Protagonisten: vom strenggläubigen großbürgerlichen Banker Alexandre zum atheistischen Mittelschichtsmann Pierre und schließlich zum Tagelöhner-Bohémien Emmanuel.

Ozon gelingt es meisterhaft, zu zeigen, wie der Missbrauch Welten zum Einsturz bringt. In der ersten Stunde des Films beschwört er den mystischen Zauber und die Autorität der Kirche für die jungen Pfadfinder und Messdiener. Die Fenster der Kathedrale von Lyon, die prächtige Kleidung der Priester, der ganze feierliche Zinnober, die Rituale und Magie der Kirche schaffen erst das Vertrauen in die Heiligkeit des Täters, wenn er die Jungen zu sich holt: Komm beten! Alexandre glaubt zu Beginn noch, die Kirche vor den Tätern schützen zu können. Erst sein Zorn darüber, dass Preynat nicht des Amtes enthoben wird, bringt ihn dazu, Anzeige zu erstatten. Die Ermittler sprechen auch Pierre an, der zunächst von den „alten Kamellen“ nichts wissen will, um zum wichtigsten und zornigsten Aktivisten zu werden, als er erfährt, dass Peyrat weiter mit Kindern arbeitet. Emmanuel wirkt am stärksten traumatisiert. Seine Beziehungen sind labil, er fühlt sich in seiner Sexualität auch körperlich durch den Missbrauch beeinträchtigt. Pierres Website und Verein „La Parole Libérée“ (Das befreite Wort) helfen ihm vor allem, endlich darüber reden zu können, was ihm angetan wurde.

In Grâce à Dieu wird sehr viel geredet, weil immer noch geredet werden muss, und weil die Worte vielleicht wirklich eine Befreiung sein können. Am beeindruckensten sind vielleicht die Momente, in denen die Elterngeneration darüber spricht, warum sie nicht, oder nur zurückhaltend reagiert haben. Es sind hilflose Worte – „Wir konnten uns das gar nicht vorstellen, der Pfarrer hat ja immer alle Kinder geküsst…“ – aber sie sind immerhin der Beginn einer Erklärung dafür, warum so viele Kinder und Jugendliche aus der Generation der heute 40 bis 60-jährigen sexuellen Missbrauch durch Priester, Lehrer, Ärzte und andere Autoritätsfiguren erleiden mussten. Das Weltbild der Älteren war so geschlossen, dass die Verbrechen nicht gesehen wurden. Vielleicht wussten sie wirklich nicht, was sie taten.

Weitere Vorführungen:
9.2. um 14.45 Uhr im Friedrichstadtpalast
10.2., um 20 Uhr im Kino Union

Tom Dorow