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Feature, Festivals

Berlinale VI: Ungeheure Direktheit und Dringlichkeit

Wettbewerb: Transit

WETTBEWERB: Christian Petzolds Verfilmung von Anna Seghers Flucht- und Exilroman riskiert viel und gewinnt auf ganzer Linie. Den 1942 spielenden Roman über deutsche Geflüchtete, die in Marseille auf Papiere für die Emigration warten, vor allem auf die wichtigen Transitpapiere, die ihnen das Anlaufen in Häfen in Ländern ermöglichen, für die sie keine Einreisepapiere besitzen, ohne historisierende Kostüme im heutigen Frankreich spielen zu lassen: das hätte leicht schiefgehen und wie eine alberne Holzhammerpointe wirken können. Tatsächlich gewinnt Seghers Vorlage eine ungeheure Direktheit und Dringlichkeit, ohne dass der Film je so tut, als handele es sich um etwas anderes als eine filmische Interpretation des Buches.

Die Orte bleiben so real wie die Geschichte, aber die Erzählung verschiebt sich und macht sich spürbar. In die Geschichte der Odyssee des deutschen Emigranten Georg, hinreißend gespielt von Franz Rogowski, flicht Petzold immer wieder Anachronismen ein. Der Off-Kommentar, den man als Stimme des Romans (und der Vergangenheit) wahrnimmt, obwohl hier ein anderer Ich-Erzähler am Werk ist als in Seghers Buch, spricht plötzlich über einen Zombie-Film, der in einem Shopping Mall spielt. Georg transportiert Briefe, die in Sütterlin-Handschrift geschrieben sind, und so vergilbt wirken, als seien sie 70 Jahre alt. Die Zeiten berühren sich in der Erzählung, zugleich wird der Blick auf die Konstanten gelenkt. TRANSIT ist ein sonnendurchfluteter Film. In diesem Licht hat der verzweifelte Walter Benjamin den Weg über die Pyrenäen versucht und sich auf der spanischen Seite in Port Bou das Leben genommen. Dieser Fluchtweg wird mehrmals im Film erwähnt. „Das ist doch Wahnsinn“ sagt Georg zu jemandem, der es versuchen will. Die Gegenwärtigkeit des Films rückt die Geschichte unbequem nahe. Wie lange würden die eigenen finanziellen Ressourcen reichen, um in Südfrankreich zu überleben, wenn man wochen- oder monatelang auf Visa und Transitgenehmigungen warten muss?

Georg hat genau eine Chance, unter falscher Identität auszureisen. Er findet zwei Visa für Mexico, in Briefen, die er an den Schriftsteller Weidel ausliefern sollte, der aber bereits tot ist, als Georg in seinem Hotelzimmer steht. In Marseille verstrickt sich Georg in eine Liebesaffäre ausgerechnet mit Weidels Witwe Marie (Paula Beer), die ihren Mann verlassen hat und mit einem Arzt nach Mexico ausreisen will. Sie wartet auf genau die Visa, die Georg in der Tasche hat. Das ist der Kern der Geschichte, aber wichtiger sind die Details: die Furcht vor dem Verhalten der Alltagsfranzosen, die mit der Besatzungsmacht kooperieren. Die Omnipräsenz der einheimischen Polizei, die für die Deutschen die „Säuberungen“ durchführen und jeden „Illegalen“ sofort verhaften. Die flüchtigen Begegnungen mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen, die Selbstmorde der Verzweifelten. Die Täuschungen, die das Überleben erst möglich machen.

TRANSIT gelingt das Kunststück, sehr genau von der deutschen Exilerfahrung zu erzählen, während mindestens zwei virtuelle Bezüge stets mitschwingen. Da ist einerseits die Frage, wie sich die heutigen Immigrations- und Asylgesetze zu den damaligen verhalten, und wie es kommen kann, dass die Erfahrungen heutiger Geflüchteter den damaligen so ähnlich sind. Zu Fuß über die Pyrenäen nach Portugal, mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer: Wahnsinn! Andererseits ist die Idee, womöglich aus dem eigenen Land vertrieben zu werden, nicht mehr so abwegig. Alice Weidel hat heute in einem Kurznachrichtendienst geschrieben, Denis Yücel sei weder ein Journalist, noch ein Deutscher, sondern ein antideutscher Hetzer. Was die neuen Faschisten wohl mit missliebigen Intellektuellen machen werden, wenn sie erst an der Regierung sind? Wie weit werden die eigenen Ressourcen reichen? Wie sind die Immigrationsgesetze erreichbarer Länder? Wird man denen wichtig genug sein, wenn noch einmal eine Intellektuellen-Generation verhaftet und ermordet wird? Wie viele Freunde und Geliebte wird man verraten, um sich zu retten?

Weitere Vorführungen: Mi, 21.02., 17:00, HAU Hebbel am Ufer (HAU2)

Ab 4. April im Kino

Tom Dorow