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Berlinale I: Ein Märchen zum Start

Wettbewerb: THE KINDNESS OF STRANGERS

Der diesjährige Festival-Zauber beginnt mit einem Weihnachtsmärchen: Lone Scherfigs neuer Feelgood-Film spielt in New York im Winter in einer Zeit, die möglicherweise die Gegenwart ist, vielleicht aber auch nicht. Die Frisuren sehen nach heute aus, die Autos und Hemden älter, das Macbook, das irgendwann groß im Bild ist, stammt definitiv aus diesem Jahrzehnt, aber niemand hat ein Handy. Vielleicht benutzt es auch nur keiner. Wir sind in irgendeiner Epoche, die der unseren sehr ähnlich sieht, aber irgendwie auch nicht. Hier treffen einsame Seelen aufeinander, die ebenfalls etwas Unscharfes haben. Sie sehen den Leuten, die man so auf der Straße trifft, ähnlich, aber so ganz von dieser Welt sind sie nicht. Zu zart, zu nett, zu unbedarft, zu wenig Kontext. Clara, die Zoe Kazan mit großen Augen und der Jahreszeit völlig unangemessenen Kleidchen spielt, ist mit ihren zwei kleinen Jungen vor einem gewalttätigen Ehemann nach New York geflüchtet. Da dieser Polizist ist, können die drei nirgendwo um Hilfe bitten. Sie übernachten im Auto und verbringen die Tage in der Bibliothek. Jeff (Caleb Landry Jones) fliegt aus einem Job nach dem anderen. Einer der Bosse fragt ihn „Nenne mir eine Sache, in der du gut bist, eine einzige.“ Jeff fällt nichts ein und er wirft vor Wut einen Vintage-Drehstuhl aus dem Fenster. Er landet schließlich in der Suppenküche, in der die einsame Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough) arbeitet. Die betreibt außerdem noch einen Gesprächskreis zum Thema Vergebung, den wiederum der schüchterne Anwalt John Peter und sein ehemaliger Klient, der misanthropische Marc, regelmäßig besuchen. Und dann ist da noch ein runtergewirtschaftetes russisches Restaurant, das dem alten Timofey (Bill Nighy) gehört, der dort nur Kaviar serviert, weil die Küche so schlecht ist, und der über Geschäftliches nur sehr ungern redet. Zum Glück kennt Marc sich aus mit Restaurantleiten. Ein bisschen wirken alle diese Leute wie das Personal eines Kinder- oder Jugendbuches, alle etwas „nicer than life“, alle etwas skurril, und niemand auch nur das allerallerkleinstebisschen ambivalent. Mir war es – trotz einiger guter Dialogzeilen, die an den Witz von THE FINEST HOUR erinnerten – alles zu nett und harmlos. Die Jugendfilme die Wes Anderson für Erwachsene dreht, gehen mir dagegen ans Herz. Ob man THE KINDNESS OF STRANGERS charmant oder langweilig findet, hängt also vermutlich sehr vom eigenen Niedlichkeitsempfinden ab. Lone Scherfig hat auf jeden Fall für alle Kümmernisse ihrer Schäfchen eine Lösung, und wie zu erwarten, werden aus den Fremden vom Anfang Freunde und aus dem verwaist aussehenden Restaurant eine Art Zuhause. Und sogar der Stuhl, den Jeff aus dem Fenster warf, findet eine neue Bleibe.

Noch zu sehen:
8.2. um 15 Uhr Friedrichstadtpalast
8.2. um 19 Uhr Friedrichstadtpalast
10.2. um 14 Uhr im Kino Union

Hendrike Bake