
Feature
Berlinale 2025 - Der Indiekino Blog
Die75. Internationalen Filmfestspiele Berlin sind in der Stadt, und wie jedes Jahr ist auch das INDIEKINO-Team anwesend. Unsere Eindrücke und Gedanken findet ihr hier, tagesaktuell und unsortiert.
Wettbewerb
DRØMMER (Hendrike)
WHAT DOES THAT NATURE SAY TO YOU (Lukas)
GIRLS ON WIRE (Christian),
ARI (Anna),
WAS MARIELLE WEISS (Harald), WAS MARIELLE WEISS (Tom),
HOT MILK (Anna),
IF I HAD LEGS, I'D KICK YOU (Lukas)
REFLETS DANS UN DIAMANT MORT (Christian),
LA TOUR DE GLACE (Tom),
DAS LICHT (Hendrike), DAS LICHT (Lars),
LA CACHE (Harald)
Panorama
DELICIOUS (Stefanie)
SCHWESTERHERZ (Anna), SCHWESTERHERZ (Stefanie)
THE UGLY STEPSISTER (Christian)
HYSTERIA (Anna),
WELCOME HOME, BABY (Lukas), WELCOME HOME, BABY (Harald),
Berlinale Special
MICKEY 17 (Tom), MICKEY 17 (Lars),
LIKE A COMPLETE UNKNOWN (Lukas),
LEIBNIZ (Harald)
LURKER (Christian)
KÖLN 75 (Harald), KÖLN 75 (Hendrike),
HELDIN (Hendrike)
ISLANDS (Anna)
KEIN TIER, SO WILD (Christian),
Generation
HORA DE RECREIO (Stefanie)
Deutsche Genre-Retrospektive (Harald),

DRØMMER
Wettbewerb
Johanne erzählt, wie sie sich zum ersten Mal verliebt hat. Es ist eine ausführliche, sehr intime Erzählung, die bereits ein Jahr zuvor beginnt, als sie mit ihrer Mutter und einer Freundin in ihrer Ferienhütte war und sie, da sie krank war, in der Hütte bleiben musste und einen Roman las, der ein Kribbeln in ihr auslöste. Ein Jahr später erlebt sie dasselbe Gefühl, als sie eine neue Lehrerin bekommt, die fast wie sie heißt: Johanna. Johannes Erzählung enthält viele Details, zum Beispiel, dass Johanna immer kunstvoll selbstgestrickte Wohlpullover trägt, und wie sie selbst sich fühlt, wenn sie die grobe Wolle auf Johannas weicher Haut sieht. Johanne beginnt, nach Johanna Ausschau zu halten, wenn sie an der Schule ist, und ihre Freundinnen bemerken, wie abwesend sie ist. Aber Johanne erzählt niemandem von ihrer intensiven Schwärmerei. Stattdessen schreibt sie alles auf, um es für sich zu bewahren.
Aber dann zeigt sie ihren Text doch ihrer Großmutter Karin, die Autorin ist, und die zeigt ihn Johannes Mutter Kristin, und damit verändert sich der Text, aber auch der Blick, den Johanne selbst auf ihre eigene Geschichte hat. Karin und Kristin haben Fragen, allen voran die, was genau passiert ist, nachdem die 17-jährige Johanne Johanna in deren Wohnung besucht hat, vorgeblich mit Schülerinnenkummer und um Stricken zu lernen. Enthält der Text Indizien für eine missbräuchliche Grenzüberschreitung? Ist er vollständig? Aber die beiden Frauen sind auch gefesselt von Johannes Erzählung, die in ihnen Gefühle und Erinnerungen an Gefühle hervorruft, und sie sehen das literarische Potential. Soll Karin den Text ihrer Verlegerin zeigen? Wieder verändert sich die Erzählung und Johannes Verhältnis zu ihr.
Während Johannes Text auf die Reise geht, erzählt TRÄUME nach und nach die Geschichte ihrer Verliebtheit weiter. Aber wie der Text enthält auch der Film Lücken und Auslassungen, ist nicht ganz klar, ob die Bilder, die wir sehen, die ganze Wahrheit sind, oder nur der Ausschnitt, den Johanne uns sehen lassen will. Manchmal bewegt sich der Film auch von Johanne und ihrer Ich-Erzählung weg, fängt in kleinen Szenen die Wellen ein, die ihre Geschichte schlägt, bei Karin, Kristin, der Verlegerin. Dabei genügen Regisseur und Drehbuchautor Dag Johan Haugerud nur wenige, fantastisch geschriebene, manchmal auch amüsante Dialoge, um diese drei als Persönlichkeiten glaubhaft zu machen.
TRÄUME ist einerseits ein sehr einfacher Film, der eine kleine Geschichte ohne dramatische Wendungen erzählt. Andererseits ist TRÄUME ein sehr komplexer Film, der auf mehreren klug verschachtelten Ebenen darüber nachdenkt, wie Texte, die Realität, die sie beschreiben und die Menschen, die sie verfassen oder rezipieren miteinander verbunden sind, und wie ihre Bedeutungen einer permanenten Veränderung unterworden sind – je nachdem wer was wann warum wo sagt oder hört, oder auch verschweigt. Und schließlich ist TRÄUME ein sehr freundlicher, tröstlicher Film, der von Wandelbarkeit erzählt. Wo die meisten Filme versuchen, eine mehrdeutige und unordentliche Realität in eine sinnhafte Geschichte zu verwandeln, unternimmt TRÄUME das Gegenteil. Jede Szene, jede Person, jede Form des Diskurses fügt der der Welt, die TRÄUME abbildet, eine neue Facette hinzu, macht sie größer, offener, vielfältiger. Für mich hätte TRÄUME einfach immer weiter gehen können.
TRÄUME ist trotzdem oder vielleicht auch weil sich Haugerud ganz auf die privateste aller Erzählungen konzentriert, auch ein politischer Film. Johanne erwähnt in ihren Beobachtungen en passant immer wieder ökonomische Gegebenheiten. Vor allem aber beharrt Haugerud auf Kleinteiligkeit, Vielfalt der Perspektiven und Details und stellt sich damit gegen Narrative, die mit aller Macht versuchen, hegemoniale Eindeutigkeit herzustellen.
Hendrike Bake

LA CACHE - THE SAFE HOUSE
Wettbewerb
Es wird viel gesprochen in diesem Film; und das macht nichts, weil es sich um französisches Kino handelt, mit Dialogen, die alltäglich rüberkommen, und die zugleich auf eleganteste Art gestaltet sind, die flirren und von Thema zu Thema schwirren. Und Themen gibt es viele für den Neunjährigen im Mai 1968: Die Eltern gehen auf die Barrikaden, aus Solidarität mit den Studierenden – nicht aus Überzeugung?, fragt die Großmutter; ah doch, klar, aus Überzeugung! –, und solange die Eltern mit Revolution beschäftigt sind, lebt der Sohn lebt in dieser Hinterhofwohnung, die eng und verwinkelt ist, und die den Kern dieser Familie bildet. Mit Oma und Opa, mit zwei Onkeln, und mit der Uroma, die die Erinnerung an ihre Vergangenheit in Odessa in den schönsten Farben ausmalt. Und mit ungefähr jedem russischen Komponisten mal was gehabt haben will.
Es ist ein kunterbuntes Durcheinander, das der Schweizer Lionel Baier hier Revue passieren lässt; der eine Onkel ein Künstler, der eigentlich nichts verkaufen will, der andere Onkel Linguist, der die Sprache auseinandernimmt und an Kommunikation erst in zweiter Linie denkt. Der Großvater Arzt, brillant und empathisch, aber ohne jeden Ehrgeiz, an der Akademie aufgenommen zu werden. Und die Großmutter ein ganz eigener Geist, aus monarchisch-konservativer Familie stammend, aber jetzt interviewt sie die, die in der Gesellschaft verloren gegangen sind. Ihr Bein ist schlimm, das Auto dient als Büro, Konferenzraum, Salon. Und widerspenstig ist sie, wenn sie über die Roll-Gehwege der Metro entgegen dem Strom hindurchtanzt, ungeachtet ihrer Beinbehinderung…
Baier inszeniert dies als sympathisches Chaos einer skurrilen Familie; die Verfilmung des Romans von Christophe Boltanski bricht er mehrfach, indem er den Roman selbst thematisiert, und dessen Filmadaption. Das hat Verve und Esprit – aber das ist noch nicht alles. Denn nur charmant und elegant, das ist im französischen Kino nichts wirklich Besonderes. Baier aber gelingt es mit einem geschickten Clou, die Zeit des Pariser Revolutionsmai 1968 mit der Zeit 25 Jahre zuvor kurzzuschließen, als die Nazis Juden jagten, und als Charles De Gaulle, als Staatspräsident Hassfigur für die Protestierenden, als Widerstands-Idol die Hoffnung auf ein neues Frankreich verkörperte.
Harald Mühlbeyer

DELICIOUS
Panorama
Horrorurlaub
Alles könnte perfekt sein. John (Fahri Yardim) und seine Frau Esther (Valerie Pachner) reisen mit ihren Kindern, dem Teenager Philipp (Caspar Hoffmann) und dessen jüngerer Schwester, der 11-jährigen Alba (Naila Schuberth), in das luxuriöse Anwesen in Südfrankreich, das Esthers Eltern gehört und in dem sie jeden Sommer verbringen. Doch schon auf dem Hinweg – in der ersten Szene – ist die Stimmung anders als sonst – und seltsam bedrohlich: Durch die Autoscheiben beobachtet die wohlhabende Familie gewalttätige Straßenproteste, ein Demonstrant springt kurzerhand über ihr Taxi. Doch das war erst der Anfang. Auf dem Rückweg vom Abendessen in einem Luxushotel fährt John die junge Teodora (Carla Díaz) mit dem Auto an. Sie trägt eine tiefe Wunde am Oberarm davon – und Esther und John streiten sich darüber, die Polizei zu rufen oder nicht. Durch gezielte Manipulation gelingt es Teodora, sich als Haushaltshilfe bei der Familie einzunisten – und sich bei jedem Familienmitglied beliebt zu machen, sogar bei der zuerst skeptischen Tochter Alba. So ahnt die Familie lange nichts von Teodoras wahren Absichten…
Die 1967 geborene und als Schauspielerin z. B. in DIE BEISCHLAFDIEBIN (1998) von Christian Petzold bekannt gewordene Nele Mueller-Stöfen ist seit 2012 auch als Drehbuchautorin tätig. Mit ihrem Ehemann Edward Berger schrieb sie u. a. das Drehbuch zum Film JACK, der 2014 im Wettbewerb der Berlinale lief. Nach ihrem Kurzfilm AM STRAND legt Mueller-Stöfen mit DELICIOUS nun in der Sektion Panorama ihren ersten Langfilm vor, eine delikate Genremischung voller unterschwelliger psychologischer Spannung, überraschender Wendungen und Horrorelemente, die sie überzeugend vor dem Hintergrund der Krawalle und Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Löhne im Frankreich der Gegenwart inszeniert – und Arm und Reich aufeinanderprallen lässt: Teodora und ihre jungen Kolleg*innen arbeiten – notgedrungen – in einem Luxushotel und während die jungen Menschen von Perspektivlosigkeit betroffen sind, müssen sie reiche, privilegierte Familien wie John, Esther, Philipp und Alba bewirten, die sich auf ihrem von Mauern umgebenen und nur durch ein hohes Eisentor zugänglichen Anwesen mit riesigem Grundstück und Pool abschotten. Beim Schreiben ließ sich Mueller-Stöfen u. a. von TEOREMA (1968) des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini inspirieren, in dem ein junger Mann als Gast in das Haus einer wohlhabenden Familie einzieht – und diese so gründlich durcheinanderwirbelt, dass nach seinem Weggang nichts mehr ist, wie es war.
Trotz aller Grausamkeiten und manipulativen Psycho-Spiele – nicht nur Teodoras – ist DELICIOUS zugleich und über lange Strecken vor allem ein – im Sommerurlaub in der pittoresken provenzalischen Landschaft angesiedelter – Film über eine Familie, deren Dysfunktionalität sich zwar erst nach und nach offenbart, aber schon lange vorher unter der Oberfläche brodelt. Das fehlende Vertrauen der Familienmitglieder zueinander, das Kriseln in der Ehe und die Einsamkeit und Liebesbedürftigkeit jedes und jeder Einzelnen macht sich Teodora gekonnt zunutze. DELICIOUS kommt als ein vor sonnig-malerischer Urlaubskulisse inszenierter Horrorgenuss light, garniert mit relevanter Sozialkritik daher, der sich langsam und leider nicht immer ganz glaubhaft entwickelt und eingefleischte Horrorfilmfans nicht allzu sehr schockieren dürfte. Im weiterem Verlauf überrascht DELICIOUS weniger horrorversierte Zuschauer*innen allerdings mit Biss und Schärfe – und könnte Fleischliebhaber*innen die Freude am Gaumenschmaus gründlich verderben.
Stefanie Borowsky

LEIBNIZ
Berlinale Spezial
Wer hätte gedacht, dass Philosophie so vergnüglich sein kann, zumal wenn sie in Film gebannt wird, zumal, wenn sich das Geschehen in einer einzigen Kammer abspielt? Nun: der 92jährige Regieveteran Edgar Reitz schafft das Kunststück, aus dieser Kammer einen großen Gedankenraum zu schaffen, zusammen mit Co-Autor Gert Heidenreich und Co-Regisseur Anatol Schuster lässt er Edgar Selge als altgedienten Großdenker Gottfried Wilhelm Leibniz glänzen – Sie wissen schon: die beste aller Welten…
Leibniz soll gemalt werden, auf Wunsch von Königin Charlotte von Preußen; den ersten Maler verschleißt er mit seinen Gedankenattacken über das Wesen des Bildes und das Wesen der Wahrheit, und man kann annehmen: weil dieser Pierre-Albert Delalandre, den Lars Eidinger wunderbar blasiert gibt, schlicht ein Schablonenmaler der Oberfläche ist, und den Herrn Leibniz mit ständigem Flötengedudel im Hintergrund nervt. Mit der Malerin Aaltje van de Meer erhält er eine intellektuelle Sparringspartnerin, mit der die Funken sprühen, mit der er seine Themen beackern kann. Und mit der uns Reitz in die Welt, in das Denken und Schaffen von Leibniz hinführen kann: Der am Hof von Hannover die Gartenbaukunst leitet, der U-Boote und Sprungstiefel erdachte, der Klappstuhl und Rechenmaschine konstruierte, und der als Vordenker der Aufklärung die menschliche Vernunft mit dem Glauben an die Allmacht und Vollkommenheit des Schöpfers in Einklang zu bringen versuchte.
Das ist gewitzt und auch witzig inszeniert, die Dialoge perlen dahin, und das Wunderbare ist, dass man ihnen trotz ihrer höfischen Sprache von 1705 gerne folgen kann. Wie man auch den Gedankenpfaden folgen kann, die Leibniz begeht, und zu denen er Aaltje van de Meer und uns, das Publikum mitnimmt.
„Wollen wir ein bisschen miteinander denken?“, so lädt er sie nach Feierabend zum intellektuellen Plausch ein. Und Edgar Reitz tut dies mit seinem Film.
Harald Mühlbeyer

SCHWESTERHERZ
Panorama
Roses Dilemma
Die Geschwister Rose (Marie Bloching) und Sam (Anton Weil) haben ein sehr enges Verhältnis zueinander. Als Roses Beziehung zu ihrer Freundin Jazz endet, ist Sam ihre erste Anlaufstelle und sie zieht kurzerhand in seine Wohnung ein. Eines Nachts hört sie, dass Sam eine Frau mit nach Hause bringt – und dass im Nebenzimmer eine Lampe herunterfällt und zerbricht. Der Wasserhahn in der Küche tropft unaufhörlich, Rose holt sich ein Glas Wasser – und sieht eine junge Frau (Laura Balzer) die Wohnung verlassen, die Rose nur einen Blick zuwirft. Nur wenig später wird Sam der Vergewaltigung beschuldigt – und Rose soll bei der Polizei aussagen, was sie in besagter Nacht mitbekommen hat. Das erschüttert die eigentlich so innige Beziehung der Geschwister von Grund auf – und stürzt Rose in ein moralisches Dilemma.
Was macht es mit einer Schwester, wenn ihr Bruder einer Vergewaltigung beschuldigt wird? Regisseurin Sarah Miro Fischer studierte Film in Kolumbien und an der DFFB und beschäftigt sich in SCHWESTERHERZ, ihrem ersten Langspielfilm, intensiv damit, wie viel eine Geschwisterbeziehung aushalten kann. In der Hauptrolle der Rose ist die u. a. aus der Kult-Serie DIE DISCOUNTER bekannte Marie Bloching zu sehen, die den Film mit ihrer nuancierten Darstellung der komplexen Figur der Rose trägt. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und dem Wunsch, ihm glauben zu wollen, und andererseits dem Mitgefühl mit Elisa, der jungen Frau, die Sam wegen Vergewaltigung angezeigt hat, tastet sich Endzwanzigerin Rose Schritt für Schritt auf unbekanntem Terrain vor.
Sarah Miro Fischer bleibt nah bei ihrer Protagonistin, deren Gesicht sie immer wieder in Großaufnahme in den Blick nimmt, erzählt in ruhigem Tempo und nimmt sich Zeit, Roses Dilemma bis ins Detail auszuloten. Dabei spielt auch Roses Körperlichkeit als Frau eine Rolle. Sie sucht Elisa auf, die in einem Waxing-Studio arbeitet, und lässt sich von ihr die Bikinizone enthaaren – fast so, als wolle sie sich selbst bestrafen und sich Elisa ausliefern. In dem Aktzeichenkurs, den sie eigentlich als Zeichenschülerin besucht, erklärt Rose sich bereit, Modell zu sitzen, und erträgt die Blicke der Gruppe kaum. Rose, die als medizinische Fachangestellte in einer gynäkologischen Praxis arbeitet, durchlebt verschiedenste Emotionen und verliert sich selbst immer mehr, bis auch sie sich grenzüberschreitend verhält. Den Halt, den ihr vorher ihr Bruder gegeben hat, muss sie nun in sich selbst finden und ihre Identität neu zusammensetzen – ohne Sam. Dass Rose sich von ihm distanziert, spiegelt sich in der visuellen Gestaltung: Sind sich die beiden zu Beginn körperlich und auch im Bild sehr nah, entsteht im Verlauf der Geschichte immer mehr räumliche Distanz zwischen den beiden. Die Kamera (Selma von Polheim Gravesen) bewegt sich immer weniger – und die anfangs so selbstverständlichen Berührungen der Geschwister finden kaum mehr statt. Um weitermachen und noch in den Spiegel schauen zu können, bleibt Rose, deren Aussage für Elisa essentiell wäre, nichts anderes übrig, als eine schwierige Entscheidung zu treffen.
Mit SCHWESTERHERZ fügt Sarah Miro Fischer, die ausführlich recherchierte und u. a. mit Polizist*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und einem Freund eines verurteilten Vergewaltigers sprach, dem in der Gesellschaft allgegenwärtigen Thema der sexualisierten Gewalt den Blickwinkel einer Angehörigen des Täters hinzu. Damit trägt sie dem Fakt Rechnung, dass sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen von Täter*innen aus dem nahen Umfeld des Opfers ausgeht. Fischer lässt die Zuschauer*innen die Situation von Rose nachfühlen, denn auf der Leinwand zeigt sie die Vergewaltigung nicht – und das Publikum hört und sieht nicht mehr als Rose. Eindrücklich stellt die Regisseurin und Co-Drehbuchautorin (mit Agnes Maagaard) in SCHWESTERHERZ so die Frage nach der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Sarah Miro Fischers Debüt – übrigens mit einem größtenteils weiblichen Filmteam realisiert – ist ein aufwühlender, gesellschaftlich relevanter Filmbeitrag – große Empfehlung!
Stefanie Borowsky

HORA DE RECREIO - PLAYTIME
Generation 14+
In der brasilianischen Megacity Rio de Janeiro diskutieren Schüler*innen zwischen 14 und 19 Jahren aus vier weiterführenden Schulen in ihren Klassen u. a. über Misogynie und geschlechtsspezifische Gewalt, Rassismus oder Queerfeindlichkeit. Viele der Teenager*innen kommen aus dysfunktionalen Familien und trauen sich, vor der Kamera offen von häuslicher und sexualisierter Gewalt, von Drogensucht, Wohnungslosigkeit oder Polizeigewalt zu berichten, die Familienmitglieder oder sie selbst erlebt haben. An einer der Schulen spielen die Schüler*innen in einem Reenactment Situationen nach, die sie bei gewalttätigen Polizeieinsätzen in ihrem Viertel erlebt haben. Schüler*innen einer weiteren Schule studieren die Kurzgeschichte Clara dos Anjos (1948) von Lima Barreto als Theaterstück über den Missbrauch eines Schwarzen Mädchens aus Rio ein und vergleichen die Handlung mit eigenen Erfahrungen und der heutigen Situation für Frauen im Patriarchat. Auf einem vom Filmteam begleiteten Schulausflug erfahren die Schüler*innen mehr über die Geschichte Schwarzer Menschen in Brasilien. Die Jugendlichen reflektieren sich selbst und die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, auf beindruckende Weise, kritisieren auch die Schule, die doch ein Safe Space sein sollte, und hoffen, sich ein besseres, ein gewaltfreies Leben aufzubauen zu können. Eine Schwarze Lehrerin, die selbst in einer Favela aufgewachsen ist, ihren Bruder durch einen Mord verloren hat und missbraucht wurde, macht ihnen klar, was der einzige Ausweg aus der Gewaltspirale ist: Bildung.
Die brasilianische Filmemacherin Lucia Murat ist nach SWEET POWER (1997, Forum) und ANOTHER LOVE STORY (2008, Panorama) zum dritten Mal mit einem Film zu Gast auf der Berlinale. In den 1960er- und 1970er-Jahren war Murat in Studenten- und Guerillabewegungen gegen die Militärdiktatur in Brasilien aktiv, wurde inhaftiert und gefoltert, was ihre Arbeit stark prägte. PLAYTIME (OT: HORA DO RECREIO, was auf Deutsch „Pause“ bzw. „Schulpause“ bedeutet), entwickelte sie aufgrund einer Umfrage unter Lehrer*innen öffentlicher Schulen und zeichnet darin mithilfe der Kombination von dokumentarischen und fiktionalen Elementen, unterlegt von u. a. Rassismus anprangernden brasilianischen Songs, ein erschütterndes und zugleich hoffnungsvolles Bild der Lebensrealitäten junger Menschen in der brasilianischen Megametropole Rio de Janeiro. Um eine möglichst diverse Schnittmenge abzubilden, drehte sie an für Rios jeweilige Stadtteile und Communities repräsentativen Schulen – und fängt dort mit Leichtigkeit die jeweilige Stimmung ein. Die Dimensionen der Megacity verdeutlicht Murat, indem sie z. B. Fahrten zwischen den verschiedenen Stationen oder Aufnahmen der Favelas aus der Ferne zeigt. Mit PLAYTIME, den sie in der Sektion Generation 14plus vorstellte und für den sie bei der Verleihung des Gläsernen Bären für den Besten Film eine Lobende Erwähnung erhielt, ist Lucia Murat ein eindrücklicher, relevanter Film gelungen, der den Zuschauer*innen die Augen öffnet – und mit dem sie den Schüler*innen die dringend nötige Stimme gibt.
Stefanie Borowsky

WHAT DOES THAT NATURE SAY TO YOU?
Wettbewerb:
Wir alle spielen in unserem Alltag Rollen. Ob am Arbeitsplatz, beim Schließen neuer Freundschaften oder bei der ersten Begegnung mit den zukünftigen Schwiegereltern, bewusste Selbstdarstellung ist ein ganz natürlicher Teil der zwischenmenschlichen Interaktion. In WHAT DOES THAT NATURE SAY TO YOU fängt der Südkoreanische Auteur Hong Sang-Soo, der mittlerweile zum Stammgast der Berlinale geworden ist, genau diesen Umstand in naturalistischen, wenn auch leicht verwaschenen, Bildern ein:
Dong-hwa (Ha Seong-guk) ist Mitte dreißig, lebt trotz reicher Eltern sehr bescheiden und ist seit drei Jahren in einer Beziehung mit Jun-hee (Kang So-yi). Er bezeichnet sich selbst als Dichter und lebt hedonistisch in den Tag hinein. An einem warmen Sommertag fährt er Jun-hee in seinem klapprigen Auto zu ihren Eltern, mit denen er ein Aufeinandertreffen bisher erfolgreich vermieden hat. Fasziniert von der Größe des Hauses, das ihr Vater selbst konstruiert haben soll, lädt Jun-hee ihren Partner dazu ein sich das Grundstück anzusehen, bevor ihre Eltern nach Hause kommen. Doch ihr Vater (Kwon Hae-hyo) steht bereits in der Einfahrt und drängt Dong-hwa dazu, den Tag auf dem abseits gelegenen Anwesen der Familie zu verbringen. So entspinnt sich ein gesprächslastiger Tag, während dem gekocht, getrunken und gegessen wird, bis am Abend schließlich Dong-hwas Fassade aus Höflichkeit und Selbstinszenierung zu bröckeln beginnt.
WHAT DOES THAT NATURE SAY TO YOU ist ein ruhiger, aber definitiv kein langsamer oder gar langweiliger Film. Die einzelnen, statischen Einstellungen, die meist mit einem gemächlichen Zoom beginnen und enden, werden sehr lange gehalten, während auch im idyllischen Hintergrund nur wenig Bewegung stattfindet. Hong Sang-Soo stellt stattdessen die Interaktionen zwischen seinen Figuren in den Mittelpunkt und erzeugt nur durch seine Dialoge Spannung und Humor. Wie auch die Inszenierung, die mit niedriger Auflösung und ohne Farbkorrektur auf den ersten Blick wie ein amateurhaftes Urlaubsvideo daherkommt, sind auch seine Dialoge auffällig natürlich. Gespräche wiederholen sich, versanden auch mal unangenehm ins Leere und sind trotzdem humorvoll wie rasant geschrieben. So kommt er ohne bildgewaltige Metaphorik aus und zeichnet ein authentisches Bild der sozialen Maskerade, das durch die minimalistische Inszenierung beinahe wieder ins surreale übergeht.
Lukas Hoffmann

LURKER
Berlinale Special
Freitagfrüh gibt es normalerweise keine spektakulären Überraschungen mehr, und der Berlinale-Palast ist zur Pressevorführung schon deutlich leerer als er es die ganze Woche davor war. Nichtsdestotrotz lohnt es sich immer noch, früh aufzustehen und sich an den noch verschlossenen Quellen für ein süßes zweites Frühstück vorbeizuschleichen.
LURKER ist ein seltsames Werk, irgendwo zwischen Thriller und Cringe-Comedy: Matthew (Théodore Pellerin) arbeitet in einem angesagten Modeladen in Los Angeles, und scheint etwas unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen zu sein. Als der aufstrebende Musiker Oliver (Archie Madekwe) bei ihm im Laden auftaucht, will es der Zufall (?), dass sie beide auf dieselbe alte Musik stehen. Angetan von dieser Verbindung lädt Oliver Matthew zu seinem nächsten Konzert, und dort backstage ein. Das erste Treffen mit der Entourage wirkt eher wie ein langer Scherz auf Matthews Kosten, den Matthew aber als Herausforderung, mitzuhalten und sich zu beweisen interpretiert, und sich damit eine Einladung zur Afterparty und kurz darauf einen Job in Olivers Umfeld sichert. Von dort arbeitet er sich immer weiter hoch oder eher, näher an Oliver heran, der selbst ein sprunghaftes und unverbindliches Zentrum seines persönlichen Universums ist, und das Chaos um sich herum eher fördert.
Der Regisseur Alex Russell bezeichnet sein Regiedebüt als eine Geschichte darüber, was passiert, wenn eine Gruppe junger Männer unter sich ist. Es entwickeln sich Hierarchien, die infrage gestellt werden, Rivalitäten und schließlich sogar echte Intrigen. Was die Protagonisten genau wollen, besonders voneinander, ist nicht immer klar, auch ihnen selbst nicht, nur, dass sie dafür über Leichen gehen würden.
THE TALENTED MR. RIPLEY oder auch SHOWGIRLS haben Ähnliches gemacht, und auch ein Hauch WHIPLASH schwingt mit. Dadurch, dass aber nie ganz klar ist, wem die Sympathien des Publikums jetzt wirklich zustehen, geschweige denn, in welche Richtung der Plot als Nächstes gehen wird, lohnt sich LURKER aber auf jeden Fall.
Christian Klose

HELDIN
Berlinale Special
Heldin steht drauf, und eine Heldin ist drin: Krankenschwester Flora Lind (Leonie Benesch) ist glaubhaft als Person und zugleich das Ideal einer Pflegerin: Sie versucht, den Patient*innen gerecht zu werden, behält dabei stets den Überblick über die Anforderungen, den Zeitplan und die Prioritäten und findet zwischendrin trotzdem noch ein freundliches Wort für die, die es am dringendsten brauchen. Sie ist höflich und respektvoll, redet niemals von „wir“, sondern spricht die Kranken immer mit Namen und „Sie“ an. Sie hat Freude daran, schnell, kompetent und freundlich zu sein.
Aber Flora ist gestresst. Von der Minute an, in der sie das Krankenhaus betritt und ihr Spind öffnet, merkt man ihr diese Anspannung an, die entsteht, wenn man zu viel zu schnell machen muss. Die Begrüßung der Kolleg*innen fällt kurz und knapp aus, die Übergabe ist zackig, und dann geht es los. Judith Kaufmanns virtuose Kamera folgt Flora durch die Gänge und beobachtet sie bei den Routineaufgaben – Tropf legen, Vitalzeichen messen, Schmerzmittel dosieren, vertrösten: „Frau Dr. Strobel spricht heute Nachmittag mit ihnen über den Befund.“ Und wieder von vorn. Jede Begegnung und jedes Telefonklingeln verursacht neue Aufgaben – Herrn Osmani in den OP bringen, eine Brille suchen, der Notfallalarm blinkt, der Privatpatient möchte einen Tee. Ein bisschen wie das „Ich packe meinen Koffer“-Spiel, aber ständig ändert sich die Reihenfolge der Gegenstände, an die man sich erinnern muss.
Ähnlich wie UNCUT DIAMONDS von den Safdie-Brüdern, Ken Loachs SORRY, WE MISSED YOU, oder die Fernsehserie „The Bear“ inszeniert Petra Volpe (DIE GÖTTLICHE ORDNUNG) Floras Arbeitstag als atemlosen Thriller. Die Gefahr, dass bei dem Tempo etwas schief geht und übersehen wird, liegt von Anfang an in der Luft und spitzt sich die ganze Zeit zu. Daran hat der treibende aber zugleich sehr dezente Score irgendwo zwischen Herzschlägen und einer tickenden Zeitbombe einen großen Anteil, ebenso die Rhythmisierung durch Kamera und Schnitt, entscheidend ist aber Leonie Beneschs präzises Spiel. Immer wieder sind ihre Hände zu sehen, die Kanülen legen oder mit der Spritze Flüssigkeiten aus kleinen Fläschchen ziehen, und je länger ihre Schicht dauert, umso mehr muss sie sich runterregeln, um die nötige Ruhe zu finden, immer schneller erledigt sie das Blutdruck- und Fiebermessen, bis es fast schon ruppig wirkt.
Die unterschiedlichen Patient*innen, ihre Geschichten und Belange, kommen so bruchstückhaft vor, wie Flora ihnen begegnet. Anders als in Krankenhaus-Serien, wo die persönlichen Probleme von Patient*innen und Belegschaft in aller Ruhe verfolgt und erörtert werden können, hat Flora hier kaum die Zeit, einen Blick auf das Hundefoto zu werfen, dass Herr Leu ihr zeigt, geschweige denn eine Lösung zu finden für seine Sorge, was aus dem Tier wird, falls der Befund – auf den er immer noch wartet – schlecht ist. Über den Verlauf eines Tages ergibt sich aus den unterschiedlichen Begegnungen ein Netzwerk winziger Geschichten, und umso kleiner sie ausfallen, umso gelungener sind sie.
HELDIN erzählt einen Tag auf Arbeit realistisch, als Thriller und als Drama und ist darüber hinaus ein Film mit einem Anliegen. Petra Volpe nimmt dezidiert die Sicht des Pflegepersonals ein, aus der die Patient*innen mit ihrer Angst und Ungeduld, ihren Launen und Ansprüchen manchmal fast wie Störfaktoren wirken. Ihre Hauptfigur ist eine unangreifbar kompetente und freundliche Person, die ihre Arbeit liebt und sie dennoch nicht gut machen kann. Das genau ist Petra Volpes Punkt: In einem systemisch unterbesetzten Gesundheitssystem spielt es überhaupt keine Rolle mehr, ob Einzelne engagiert oder inkompetent, gut oder schlecht sind. Das Ergebnis für alle ist schlecht.
Hendrike Bake

ARI
Wettbewerb
Wie eine biblische Figur im vollen Bewusstsein über alles irdische Leid und alle Freude, so schaut der 27-jährigen Ari zwischen seinem langen, strähnigen Haar in die Welt. Er macht gerade Praktikum an einer Grundschule in Lille, als er in einer beaufsichtigen Stunde zusammenbricht. Es ist alles zu viel: die laute Kinderbande, die Unmöglichkeit ihnen das Seepferdchen mit einem surrealistischen Gedicht zu erklären und die strengen Kommentare der Oberlehrerin. Ari wird zwei Monate krankgeschrieben und will den Lehrerberuf am liebsten gleich an den Nagel hängen. Das ist wiederum seinem verwitweten Vater zu viel, der seit dem Tod von Aris Mutter mit dem feinfühligen Sohn und dessen Depressionen schwer umgehen kann. So zieht Ari von Haus zu Haus, zu Freundinnen und Freunden, bei denen er sich ewig nicht gemeldet hat und die ihn trotzdem größtenteils bereitwillig aufnehmen. Wir bekommen Einblicke in die Lebensentwürfe der Menschen, die mit Ari eine Vergangenheit teilen. Nur wie viel haben sie heute noch gemeinsam? Immer wenn die philosophischen Gespräche brenzlig werden, verschwindet Ari, auf die nächste Couch. Bis er seine Ex-Freundin wiedersieht, die vor drei Jahren ungeplant schwanger von ihm war – und jetzt wieder Kontakt mit Ari sucht. Viel passiert in diesem Film nicht, werden manche sagen. Aber genau die Gespräche darüber, wer wir mal waren und heute sind, das spontane auf der Couch crashen, sorgt für die immense Wärme und den Trost, den Aris Geschichte ausstrahlt. Als der angehende Lehrer seine Grundschulklasse fragt, was Freundschaft und was Liebe bedeutet, haben die Kinder ganz unterschiedliche Antworten parat – und Ari ermutigt sie dazu. Genauso ambivalent wie die Schwangerschaft des männlichen Seepferdchens, das Ari zu erklären versucht, sind auch Aris Beziehungen zu den Menschen, die er besucht. Es wird viel gekuschelt und tiefer Blickkontakt gesucht neben tiefsinnigen Diskussionen, die bei aller Ernsthaftigkeit auch immer wieder für Lacher sorgen. Wie hier Liebe, Freundschaft und mentale Gesundheit außerhalb gesellschaftlicher Normen gezeigt werden, ist eine Wohltat –und ein weiteres Zeichen dafür, dass die Berlinale 2025 mit Wettbewerbsbeiträgen wie ARI keine Labels braucht, um diverse, queere Geschichten zu erzählen.
Anna Hantelmann

ISLANDS
Berlinale Special
Tom ist ein Tennis-Ass (Spitzname Ace) und gibt seit einer Schulterverletzung Unterricht auf einer Urlaubsinsel. So weit so vertraut die Geschichte von gescheiterten Ambitionen, die Jan-Ole Gerster auch in seinem dritten Film nach OH BOY und LARA erzählt. Mit dem Unterschied, dass statt dem Berliner Grau-in-Grau hier beige Wüstentöne dominieren. Als das auch eher farblose Ehepaar Anne und Dave für ihren Sohn Anton Tennisstunden buchen will, nehmen sie ausgerechnet den 9-Uhr-Slot – die Uhrzeit, zu der Tom nach einer durchzechten Nacht meist irgendwo, nur nicht in seinem eigenen Bett, aufwacht. Schon bald entwickelt sich eine – für alle Umstehenden nicht nachvollziehbare – Dynamik zwischen dem Tennislehrer und der gut betuchten, aber eher weniger gut gelaunten Familie. Erst als Familienvater Dave verschwindet, geht die Suche nach den Familiengeheimnissen los. War Anne nicht schon mal auf der Insel oder kommt sie allen nur so bekannt vor, weil sie in einer schlechten Serie zu sehen war? Wie kommt es, dass ihr Mann jeden Tropfen Alkohol ablehnt – bis zu der Nacht, als er mit Tom ausgeht und dann nicht mehr zurückkehrt? Und warum hat Tom denselben Wuschelkopf wie der kleine Anton? Gerade Tennislehrer Tom begegnet diesen Fragen mit wenig Neugier, ganz der diskrete Dienstleister. Und so bleibt ISLANDS beim vertrauten Dreiklang aus Luxushotel, attraktiven Fremden und vielen ungeklärten Beziehungsproblemen. In den letzten Jahren gab es einige Dramen zu sehen mit den Reichen und Schönen, den Gästen und dem Personal – glitzerndes Luxusressort-Material wie White Lotus oder Triangle of Sadness folgen genau diesem (Erfolgs-)Rezept. Als Realitätsflucht in die Wüste funktioniert der erste englischsprachige Film von Gerster sicherlich für ein neues, internationales Publikum – für die Fans von Gerstes trockenen Dialogen und absurden Begebenheiten gibt es immerhin kauzige Inselfreundschaften und ein sich immer wieder verlaufendes Kamel.
Anna Hantelmann

GIRLS ON WIRE
Wettbewerb
Für Vivian Qu ist die Berlinale vertrautes Gebiet. Sowohl als Produzentin (FEUERWERK AM HELLICHTEN TAG, 2014) als auch als Mitglied der Internationalen Jury ist sie schon mehrfach auf dem Festival gewesen. Mit GIRLS ON WIRE (XIANG FEI DE NV HAI) nimmt sie nun auch als Regisseurin am Wettbewerb teil.
Die Handlung beginnt mit der Flucht der 22-jährigen Tian Tian aus einem Höhlenkerker, in dem sie angekettet und konstant unter Drogen gehalten wurde. Auf der Flucht vor der Gang, die sie dort gefangen hielt, macht sie sich auf die Suche nach dem einzigen Familienmitglied, von dem sie Hilfe erwarten kann: ihre einige Jahre ältere Cousine Fang Di. Wo sie ganz genau ist, weiß Tian Tian nicht, nur, dass es irgendwo in einem riesigen Filmstudio sein muss, wo Fang Di als Stuntfrau für Kostümdramen die komplexen Drahtsprünge bei den Schwertkämpfen übernimmt. Genau wie Tian Tian hat sie Schulden bei einem Kredithai oder eigentlich ist es so, dass sie sich wieder und wieder dazu zwingt, ihre Gesundheit beim Dreh aufs Spiel zu setzen, um alte Schulden von Tian Tian, deren Vater und auch von ihrer eigenen Mutter bei der gefährlichen Madam Yang zu begleichen. Die Gangbossin hat auch schon ein Trio losgeschickt, die Tian Tian wieder einfangen sollen.
Alle haben Schulden bei Madam Yang, und das Netz der finanziellen und familiären Abhängigkeiten, das von ihr ausgeht, ist komplex. Tian Tians Vater hat sich und seine Drogensucht schon von Fang Dis Mutter aushalten lassen, und seine Tochter darin geschult, Leute übers Ohr zu hauen und auszunehmen. Nur dass Tian Tian kein Interesse daran hat, so zu werden wie ihr Vater. Erst recht nicht, seitdem sie selbst als Teenie Mutter einer Tochter geworden ist. Sie will Fang Di nicht auf der Tasche liegen, aber sie braucht die Hilfe ihrer großen Cousine, um ein neues Leben für sich und ihre Tochter aufzubauen.
GIRLS ON WIRE ist zum Großteil ein Drama, das sich auf verschiedenen, verschachtelten Zeitebenen nach und nach entfaltet, bis das volle Bild der Abhängigkeiten und Loyalitäten sichtbar ist. Das Spiel der Hauptdarstellerinnen ist beachtlich und holt aus Rollen, die leicht zu Klischees hätten werden können, eine Vielzahl an Nuancen heraus. Und auch wenn sehr schwere Themen behandelt werden und der Film ein eher pessimistisches Gesellschaftsbild vermittelt, steckt immer auch ein Unterton an Hoffnung in allem, dass die Schwierigkeiten überwunden werden können. Selbst für eine kurze Slapstickeinlage ist sich der Film nicht zu schade, und eine wunderschöne Bildgestaltung tut ihr Übriges für eine mitreißende Geschichte über zwei junge Frauen, die nicht aufgeben
Christian Klose

THE UGLY STEPSISTER
Panorama
Es war einmal eine hübsche Witwe, Rebekka, die hatte zwei Töchter, Elvira und Alma. Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Schloss von Rebekkas neuem Mann. Elvira, die ältere Tochter, war eine leidenschaftliche Leserin der Liebesgedichte des Prinzen Julian, dessen Schloss in Sichtweite ihres neuen Zuhauses lag, und natürlich träumte sie davon, dass der Prinz sie sehen und von ihr entzückt sein würde, und dann würde sie eine Prinzessin sein. Nur leider hat Elvira noch reichlich Babyspeck, eine schiefe Nase und zudem noch eine Zahnspange, so daß ihre romantischen Hoffnungen wohl Träume bleiben werden. Noch schlimmer: der Stiefvater hat auch noch eine Tochter, Agnes, und die ist so schön wie vielleicht keine Zweite im Königreich, und soll den Prinzen natürlich auch heiraten. Als Rebekka plötzlich zum zweiten Mal zur Witwe wird, und sich herausstellt, dass sowohl sie als auch ihr frisch Verschiedener nur geheiratet haben, weil sie fälschlicherweise glaubten, sich eine gute Partie zu angeln, hat die Frage, welche der Töchter den Prinzen kriegt, auf einmal eine ganz neue Relevanz.
In vier Monaten soll es einen großen Ball für alle Jungfrauen des Landes geben, und sicher wird der Prinz da seine neue Braut wählen. Von Rebekka zu niederen Diensten abkommandiert und deswegen oft mit Asche gehüllt, ist Agnes keine Gefahr mehr, aber was soll man mit Elviras ästhetischen „Unzulänglichkeiten“ tun? Nun, es gibt den guten Dr. Esthétique, der für gutes Geld Elviras Nase mittels Meißel von ihrem Höcker befreit und für eine schlanke Figur bietet sich bald auch eine Lösung an.
Wer letztes Jahr Vergnügen an THE SUBSTANCE hatte, und auch ein Herz für Märchen hat, ist bei Emilie Blichfeldts Regiedebüt genau an der richtigen Adresse. Der Film zeigt die Geschichte von „Aschenputtel“ aus der Perspektive von, und mit Sympathie für, eine der „bösen“ Stiefschwestern. Das Design erinnert an die alten tschechischen Märchenfilme, nur dass es in denen natürlich weitaus weniger Körperflüssigkeiten, Maden und sichtbare Verstümmelungen gab, und der Tonfall weniger überdreht humoristisch-morbide war. Mit Seitenhieben auf moderne Schönheitstrends und die Klischees der gesitteten Märchenfilme und natürlich auch ein paar Anspielungen aus Disneys Version des Stoffes, ist THE UGLY STEPSISTER eine Freude für die, die sich weniger auf die kommende SCHNEEWITTCHEN-CGI-Verfilmung freuen.
Und wer sich jetzt fragt: Gab es da nicht noch eine zweite Stiefschwester? Doch, die gab es. Aber die war ganz anders, und wie es mit der endete, oh, das wird nicht erzählt. Das ist zu schön.
Christian Klose

WAS MARIELLE WEISS
Berlinale Wettbewerb
In WAS MARIELLE WEISS geht es um das deutscheste alle Probleme: die Überwindung des Kant’schen Idealismus. Marielle, kurz vor der Pubertät, erhält eine Ohrfeige von einer Freundin, die sie vorher als „Schlampe“ beschimpft hatte. Danach entwickelt sie telepathische Fähigkeiten, aber nur in Bezug auf ihre Eltern. Sie sieht alles, was die den ganzen Tag so reden und treiben und erzählt denen das beim Abendbrot.
Für Mutter Julia (Julia Jentsch), die irgendwas in einem gläsernen Büro macht, ist besonders der Hardcore-Flirt in der Raucherpause mit ihrem Kollegen Max peinlich, für Vater und Verlagsmanager Tobias seine mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem jüngeren Sören in der Auseinandersetzung über den Entwurf für eine Cover-Illustration. Und nun haben sie diesen infantilen, präpubertären kategorischen Imperativ an der Backe, mir all den normierenden Erwartungen: Papa ist stark, Mama ist treu. Zunächst fügen sie sich, wie gute deutsche Idealist*innen. Keine Raucherpause mehr, Sören mal richtig die Meinung geigen. Wie in Lacans „Kant mit Sade“ wird ihnen als nächstes klar, dass, wenn alles verboten ist, auch alles erlaubt ist. Also werden die Fantasien ausgelebt. Sodom und Gomorrha, bei dem Mutter Julia allerdings sich permanent versichern muss, dass „alles ganz natürlich“ sei.
Der Imperativ behauptet sich erst recht in der Rebellion. Nun kann man das nervige, ewig muffelnde Kind natürlich nicht einfach umbringen. In pragmatischeren Kulturen kennt die Drehbuchdramaturgie dafür zahlreiche Lösungen, bei den die Eltern keine Schuld auf sich ziehen, Auto- oder Skiunfälle, schwere Erkrankungen etc. Aber Deutsche müssen das Problem durcharbeiten.
Der Idealismus steigt in MARIELLE, wie in der realen Ideengeschichte von Kantianismus auf die Romantik um. Ein bisschen Depression, ein bisschen Leiden, Schuld und Verzeihen, aber der letzte Satz heißt „Ich liebe dich“. Dazu wiegt Brahms in den Schlaf, als Kontrapunkt zum Beethoven in der ersten Szene.
Als Gedankenexperiment und philosophische Satire ist MARIELLE sehr unterhaltsam. Wie das oft ist, erdrückt allerdings die Last der Konstruktion die Figurenzeichnung. Am deutlichsten wird das an Marielle selbst, die außer dem Übelnehmen keine eigene Agenda hat. Aber MARIELLE ist halt kein naturalistischer Film. In den USA würde aus der gleichen Prämisse eine haarsträubende Screwball-Komödie, in Frankreich hätten die Leute wenigstens Spaß am Sex. In Deutschland wird erörtert. Wie in Julia Jentschs typischem Darstellungsstil scheint auf jedem Wort das Gewicht von Jahrhunderten zu liegen. Eine gewisse, knirschende Komik hat der Film, obwohl er sich sehr ernst nimmt.
Tom Dorow

WAS MARIELLE WEISS
Wettbewerb
Was tun, wenn dein Kind alles über die weiß? Und zudem: Wenn es alles über deinen Ehepartner weiß?
WAS MARIELLE WEISS beginnt mit einer veritablen Backpfeife, in Großaufnahme, in Zeitlupe, zu Klassikmusik. Und wechselt dann Mann und Frau rauchend am offenen Fenster, zu Flirt: die Langeweile in der Ehe, mal neuer Geschmack, neuer Geruch, es wird zu Dirty Talk im Konjuktiv, potential-porno… Und der Verlag, ein neues Buchcover, Konferenz, alle drucksen rum, der Chef will das eine Motiv, nur einer hält dagegen, und weil alle vordergründig nett zueinander sind, und weil alle so kollegial sind, wird die Entscheidung erstmal vertagt.
Am Abendbrottisch hört sich die Story des Vaters ganz anders an: Wie er seine Idee durchgesetzt, den Mitarbeiter in seine Schranken verwiesen hat… „Das stimmt doch gar nicht“, weiß Marielle – weil sie weiß. Seit der Ohrfeige einer Klassenkameradin.
Was Marielle weiß: Das ist all das, was ihre Eltern den lieben langen Tag über tun. Und das ist eine wirklich fantastische Idee für einen Film! Die Frédéric Hambalek konsequent durchführt, immer eng an dieser Familie, aber mit so viel untergründigem Witz, so viel Überlegung, und so viel Einfallsreichtum der Situationen! Marielle erzählt den Eltern deren Erlebnisse – sie hört sie ab, immer, ohne etwas dagegen tun zu können, und die Eltern werden totalüberwacht, immer, ohne entkommen zu können.
Das führt dazu, dass der Vater sich Komplizenschaft sichert, und sie – ein Kind, noch immer, gerade kurz vor der Pubertät – ihm kichernd die Geheimnisse der Mama anvertraut. Das führt dazu, dass sich die Eltern auf Französisch unterhalten, denn Kind hört mit. Das führt dazu, dass die Mama – auf deutsch – von ihrem Mann einen Freibrief erhält, weil alles unter dem Mäntelchen der Liebe und des Vertrauens zu geschehen hat, und sie daher mit ihrem Kollegen in die Tat umsetzen kann, was bisher nur Fantasie war. Dass sich der Vater mit dem Kollegen prügelt, dass die Eltern vor dem Kind stehen und diskutieren, wer dem Mädchen eine Ohrfeige geben muss. Dass Marielle die beiden gegeneinander ausspielt, dass alle sich gegenseitig manipulieren. Und dass, wenn wieder einer der besonders inbrünstigen Liebesschwüre oder ein besonders pädagogischer Spruch fällt, klar ist, dass wieder mal geschauspielt wird, für die abwesende Zuschauerin.
Viele Lacher in der Pressevorführung für diesen so originellen Film, flott runtererzählt, der sich mit Liebe und Vertrauen und Ehrlichkeit beschäftigt und mit den Grenzen, die in dieser Hinsicht gefallen sind.
Und immer wieder Einschübe mit Marielle, stilisiert eingefärbt, in überlegener Herrschaftspose…
Harald Mühlbeyer

IF I HAD LEGS, I'D KICK YOU
Wettbewerb:
If I HAD LEGS, I'D KICK YOU ist auf die Kinoleinwand gebannter Stress. Vergleiche zu ähnlich verhandelten Produktionen wie UNCUT GEMS – dessen Regisseur Josh Safdie auch hier als Produzent tätig war - oder der FX-Serie The Bear liegen nahe, sind aber nur bedingt treffend. Denn während Howard und Carmy jeweils selbst für ihre Angstzustände und Frustrationen verantwortlich sind, gleicht Mary Bronsteins zweiter Langfilm eher einer unausweichlichen Panikattacke, die weder von der Protagonistin Linda (Rose Byrne) noch von irgendjemand anderem aufgehalten werden kann.
Linda ist Psychologin, Mutter einer chronisch kranken Tochter und verheiratet mit einem Mann, der wegen seines Berufs häufiger abwesend als zu Hause ist. Als ein Loch in der Decke ihres Schlafzimmers dafür sorgt, dass sie mit ihrer Tochter für mehrere Monate in einem billigen Hotel unterkommen muss, fällt ihr die buchstäbliche wie metaphorische Decke auf den Kopf: Ihre Tochter weigert sich vehement feste Nahrung zu sich zu nehmen und muss in der Nacht mehrfach über einen Zugang in ihrem Bauch mit Flüssignährstoffen versorgt werden. Statt zur Schule bringt Linda sie täglich zu therapeutischer Betreuung, wo sie sich nicht nur mit der herablassend bemutternden Ärztin, sondern auch noch mit dem gereizten Parkwächter herumschlagen muss. Im Hotel wird sie von der Rezeptionistin verspottet, am Telefon von ihrem Mann verurteilt. Und auch in ihrem eigenen Büro nimmt der Stress kein Ende. Patienten fetischisieren sie und nutzen ihre Sitzungen für Banalitäten, während sich in ihr das Gefühl verhärtet, dass sie niemals ein Kind hätte bekommen sollen. Durch Bronsteins Entscheidung, den gesamten Film in Nah- und Porträtaufnahmen zu filmen sind wir hautnah dabei, wie das Loch in ihr, ihrer Tochter und ihrer Decke immer größer zu werden droht.
If I HAD LEGS, I'D KICK YOU ist der radikale Gegenentwurf zu aktuellen „Therapieserien“ wie Shrinking und A Man on the Inside, in denen jedes Problem eine Lösung hat und ein psychologisches Gespräch nicht nur den Figuren, sondern auch uns zu neuen Einsichten verhelfen soll. Linda sieht sich mit Problemen und Fragen konfrontiert, auf die weder ihr Therapeut (Conan O’Brien) noch jemand anderes eine Antwort weiß, die sie selbst immer weiter aufbauscht und die sie schließlich zu zerquetschen drohen. Erschreckend authentisch, und überraschend erfrischend.
Lukas Hoffmann

REFLETS DANS UN DIAMANT MORT
Wettbewerb
Seit ihrem ersten Langfilm AMER (2009) hat das Regie-Duo Helène Cattet und Bruno Forzani grob alle vier Jahre einen Film herausgebracht. Ihre Filme wurden zwar auf Festivals nominiert, gewannen aber hauptsächlich nur in technischen Kategorien. Dies ist nicht gänzlich überraschend. Ähnlich wie der kürzlich verstorbene David Lynch machen Cattet & Forzani sehr individuelle, intensive, polarisierende Filme. Sie schaffen jeweils eine Hommage an ein Filmgenre, konzentrieren und fragmentieren die dazugehörige Bild- und Tonsprache und die narrativen Versatzstücke dann aber zu einem (so Bruno Forzani) „orgasmischen“ Filmerlebnis. REFLECTIONS IN A DEAD DIAMOND (REFLET DANS UN DIAMANT MORT) bedient sich bei den europäischen Spionagethrillern der 1960er.
Auf der Oberfläche handelt er von den alternden Geheimagenten John D (gespielt vom Veteran des italienischen Genrekinos Fabio Testi), der in seinem Hotelzimmer an der französischen Riviera aufs Meer schaut, Bitter trinkt und an seine attraktive (und wesentlich jüngere) Zimmernachbarin denkt. Seine besten Zeiten liegen in jeder Hinsicht hinter ihm und mit der Zimmermiete ist er auch im Verzug. Da verschwindet seine Nachbarin plötzlich und spurlos, oder war es seine charmante Mitagentin, die auf einen Kunstsammler angesetzt war? Oder handelt der in Nuklearmaterial? Oder in Öl? Obwohl, ganz spurlos ist sie nicht verschwunden: Jede Paillette von ihrem Kleid war eine Kamera, mit denen sie Nachrichten für John hinterlassen hat. Der alte John fühlt sich wieder an sein junges Ich (Yannick Rennier) erinnert und nimmt die Spur auf. Es könnte einer der vielen alten Erzschurken sein, die er in seiner Karriere bekämpft hat, vielleicht sogar die mysteriöse Serpentik, eine tödliche Schönheit, deren Körper bis auf die Augen in enges schwarzes Leder gehüllt ist, und ihre Opfer mit einem Giftring tötet.
Aber warum ist sie noch so jung wie John sie erinnert, wenn er jetzt alt ist? Ist er überhaupt ein Geheimagent oder alles nur eine Illusion? Ist er vielleicht ein Schauspieler und das was er erinnert nur der Stoff eines alten Comics, ähnlich wie der italienische „Danger Diabolik“? Es gibt immer wieder Hinweise in eine Richtung oder eine andere, nur damit dann alles wieder über den Haufen geworfen, und auf eine völlig neue Fährte umgeleitet wird. Und: Wer die bisherigen Filme des Duos kennt, wird schon ahnen, dass es letztlich zu keiner schlüssigen Erklärung für das kommen wird, was man gerade gesehen hat.
Frenetisch geschnitten, mit Bildern, die die extreme Großaufnahme und die Hyperrealität lieben, während der Atem der Protagonist*innen, das Sirren der Messer und das Knarzen der Lederoutfits sich lautstark in den Retro-Soundtrack mischen. Der Film ist nur 87 Minuten lang, enthält aber Sinneseindrücke, die bei einem gemächlicherem Ansatz einen mindestens doppelt so langen Film füllen könnten.
Durch und durch eine Geschmacksfrage wird auch dieser Film wieder polarisieren, und wahrscheinlich nicht den goldenen Bären gewinnen. Aber ob ich in der zweiten Woche des Festivals noch einen Film sehen werde, der mich mit einem umfassenderen cineastischen Glücksgefühl zurücklassen wird? Auch da habe ich Zweifel.
Christian Klose

Hysteria
Panorama
Ein ganz normaler Dreh in Deutschland: Elif hat ein Praktikum bei ihrem Idol Lilith ergattert, einer berühmten Produzentin und emotionale Stütze beim neuen Film von ihrem Mann Yiğit. Wie Elif hat Yiğit türkische Wurzeln, genießt in der Kunstwelt aber gewisse Privilegien. Das wird relevant, als am Filmset ein Koran verbrannt wird – und Yiğit darauf besteht, das Material zu verwenden. Dagegen regt sich massiver Widerstand bei den Statisten, die Yiğit spontan in einem Wohnheim für Geflüchtete rekrutiert hatte. Und dann verschwinden die Aufnahmen.
Praktikantin Elif steht schon bald im Zentrum der brisanten Entwicklungen, denn als Hausgast von Lilith und Yiğit ist es ihre Aufgabe gewesen, die Filmrollen sicher im Sekretär zu verstauen. Wer hat Interesse daran, dass das Projekt scheitert, und wer ist womöglich in geheimer Mission unterwegs? Die Intrigen im Filmteam lassen sich kaum nacherzählen – und das macht diese bitterböse Gesellschaftsstudie auch aus. Rassistische Stereotype werden gekonnt reproduziert, um sie dann zu entlarven.
HYSTERIA ist der zweite Film von Mehmet Akif Büyükatalay, dessen Debüt Oray 2019 auf der Berlinale als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde. Mit seiner Produktionsfirma filmfaust produzierte und schrieb er unter anderem den Dokumentarfilm LIEBE, D-MARK UND TOD über die türkische Musikszene in Deutschland – 2022 Gewinner des Panorama-Publikumspreises bei der Berlina
Hysteria sucht noch einen Verleih und hätte ein großes Publikum mehr als verdient. Allein für das grandiose Finale lohnt es sich und für die Entdeckung von Devrim Lingnau als Elif, eine der zehn European Shooting Stars 2025. Eine erfrischende Performance gibt hier auch Nicolette Krebitz, die als Berlinale-Star vom diesjährigen Eröffnungsfilm DAS LICHT hier in einer subtileren, aber nicht weniger schlagkräftigen Rolle für die feinen Untertöne sorgt.
Anna Hantelmann

KÖLN 75
Berlinale Special
1973 ist Vera Brandes (Mala Emde) gerade mal 16 Jahre alt, und sie liebt Jazz. Als sie nach einem Konzert mit dem britischen Jazzer Ronnie Scott rumhängt und der sie spontan fragt, ob sie seine Deutschlandtour buchen will, sagt sie zu. Die Telefonate führt sie heimlich abends in der Zahnarztpraxis ihres Vaters, und nach ersten Misserfolgen beginnt sie, sich als britische Agentin auszugeben. Die Zeit ist analog und unkompliziert, niemand kann ihre Rufnummer sehen oder ihre Identität mal schnell im Internet überprüfen.
KÖLN 75 erinnert an britische Komödien vom Anfang des Jahrtausends: Poppig und im Schnelldurchlauf erzählt der Film, wie Vera mit ihrer Agentur Erfolg und mit ihren Freund*innen Spaß (aka Drogen, Sex, Musik, Widerstand) hat. Bald kann sie sich ein eigenes Büro leisten, die Schule leidet, und mit den Eltern kriselt es. Dann fährt sie zu den Jazztagen nach Berlin und sieht Keith Jarrett am Klavier. Für Vera ist die Begegnung eine Erleuchtung – und für den Film irgendwie auch: John Magaro spielt Jarrett mit einer Konzentration und Präsenz, die der Geschichte eine Dringlichkeit verleiht, die sie vorher nicht hatte. Vera weiß: Sie muss diesen Mann nach Köln bekommen, und zwar ins Opernhaus.
Der Gegensatz zwischen der mittlerweile 18-jährigen Vera, die im Overdrive managet und hibbelt und dem stillen Jazzer Jarrett, der mit leiser Stimme um Ruhe bittet und an chronischen Rückenschmerzen leidet, spitzt sich zu, um so näher das berühmte „Köln Concert“ rückt. Ein Konzert, dessen Aufnahme zur meistverkauften Jazz-Solo-Platte der Welt wurde, und das um ein Haar gar nicht stattgefunden hätte – die Oper hat anstelle des bestellten „Börsendorfer Imperial“ nur den Probeflügel bereitgestellt, und Jarrett weigert sich, zu spielen.
Manchmal merkt man Ido Fluks KÖLN 75 den Debütfilm an: Es gibt mehrere Enden und mehr erzählerische Ideen als Platz haben. Neben einer Rahmenhandlung gibt es auch noch einen Erzähler, einen US-amerikanischen Musikjournalisten, der einen Artikel über den wortkargen Jarrett schreiben soll und die musikalische Einordnung vornimmt. Spätestens ab der Hälfte hat Fluk seine Erzählfäden aber gut im Griff, und obwohl von Anfang an klar ist, dass das historische Konzert stattfinden wird, fiebert man mit, wenn es darum geht, an einem Freitagabend in Köln noch einen Flügel oder zumindest einen Klavierstimmer aufzutreiben.
Hendrike Bake

KÖLN 75
Berlinale Special
Und dann ist es auch noch der falsche Flügel. Kein Bösendorfer Grand Imperial, sondern so’n Probenschrott, verstimmt, mit klemmenden Tasten, einem kaputten Pedal. Und natürlich viel zu klein, um mit seinem Klang das Opernhaus in Köln richtig zu füllen.
Vera Brandes hat das Ganze organisiert: Keith Jarrett, am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper, abends um 23 Uhr, weil bis 22 Uhr Alban Bergs „Lulu“ gegeben wird. Brandes wird von Mala Emde gespielt, wie immer mit voller Energie, mit allen Höhen und Tiefen der emotionalen Tonleiter, vor allem aber mit größter Leidenschaft – diese Leidenschaft ist es ja auch, was ihre Vera antreibt, die Leidenschaft, etwas zu machen, das auf jeden Fall anders ist als die vom Vater anvisierte bürgerliche Laufbahn als Zahnärztin. Vera Brandes hat eine große Klappe, sie akzeptiert kein Nein, macht sich ihre Welt, wie es ihr gefällt. Klaut ein Eis, gibt es dem Jazzer Ronnie Scott, der sie als Promoterin engagiert. Sie organisiert Konzerte, Jazz in Köln; und, vielleicht ihr größtes Werk, global gesehen: Sie holt Keith Jarrett, und sie überredet ihn zu spielen, trotz Mist-Klavier, und es wird ein Welterfolg, das Album mit seiner Live-Solo-Improvisation, „The Köln Konzert“.
Ido Fluk macht daraus eine Art Historienkomödie; witzig, flott, nah genug an der Wahrheit, um authentisch zu sein, und weit genug davon entfernt, um die Möglichkeiten des Filmischen wirken zu lassen. Alles beginnt mit einem Fluch: Du bist die größte Enttäuschung meines Lebens, deklariert Vater Brandes, der Dentist, an Veras 50. Geburtstag. Die daraufhin zurückspult, ein False Start. Was das ist, erklärt im Tonstudio ein Jazzintellektueller, Michael Watts, stilecht auf englisch, anhand von The Cramps und Bob Dylan. Neuanfang, und dann landen wir 1973, und Vera, die Teenagerin, dreht auf.
Der Film dreht mit, springt, hüpft vor Freude an seinem Thema und an sich selbst, durchbricht die Vierte Wand, porträtiert ganz ausgelassen die Jugend der 70er. Und verlässt immer wieder Veras Geschichte, das ist der eigentliche Clou: Immer wieder funkt Michael Watts rein, der Jazzjournalist, selbstgefällig und so’n bisschen mansplainend, aber das ist natürlich ironisch. Führt durch die Räume der Jazzgeschichte, damit wir überhaupt wissen, worum es geht – von Big Band-Kompositionen bis zu Jarretts reinen Soloimprovisationen, in denen er entrückt, innerlich entleert, hyperkonzentriert und völlig entspannt aus dem Nichts seine Melodien erfindet. Und irgendwann springen wir für eine lange Zeit ganz zu Jarrett, beziehungsweise zu Watts, der ihn begleitet, auf der Autofahrt nach Köln, und ihm so ganz nahe kommt für eine ach so wichtige Rerportage, und Vera ist erstmal abgemeldet, allerdings: vielleicht stimmt das ja auch gar nicht, was der Film, was Watts uns hier erzählt…
Immer wieder geht es um das Sotunalsob, um das Sichverstellen; anders wäre Vera nie ins Geschäft gekommen, wenn sie sich nicht einen zumindest punktuellen seriösen Anstrich gegeben hätte; und Jarrett ist im klapprigen Auto unterwegs, um Geld zu sparen, weil er sich sonst seine große Europatour nicht leisten könnte. Gibt aber natürlich vor, standesgemäß mit dem Flugzeug unterwegs zu sein.
Es ist im Film keine Jarrett-Musik zu hören, sondern Nachgeahmtes. Nachgespieltes. Das ist nur konsequent für diesen Film, in dem Fluk fröhlich und frei spielt, mit dem Medium, mit seinen Protagonistinnen, mit dem Publikum. Dieses Spielerische ist vollkommen angemessen seiner Protagonistin Vera und seinem Gegenstand Jarrett gegenüber. Wobei: Um den geht es ja gar nicht. Sondern sozusagen um das Making of seines berühmten Konzerts. Und das würde über 3,5-millionenfach verkauft.
Harald Mühlbeyer

La tour de glace
Wettbewerb
In ihren Filmen schafft Lucile Hadjihalilovic Welten, die weniger durch die Abbildung der Welt Bezug zur Realität haben, als dass sie Bewusstseinszustände vorführen, und die Realität sich in ihnen spiegelt.
In LA TOUR DE GLACE, (dt. Der Eisturm) ist das Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen ein Ausgangspunkt. Aber schon die erste Erzählebene, die Geschichte des Waisenmädchen Jeanne, die das Waisenhaus auf einem hohen, verschneiten Berg verlässt und in die Stadt hinuntersteigt, hat ebenfalls märchenhafte Elemente. Jeanne hinterlässt auf dem Berg ein kleines Mädchen, die sie liebt, und der sie eine „Zauberperle“ von ihrem Armband schenkt. Auf der Flucht stürzt Jeanne und verliert das Bewusstsein, erwacht aber wieder. Das ist die erste Bifurkation, denn ab hier kann es sowohl sein, dass Jeanne auf dem Berg erfroren ist, und der Rest ihren Weg in ein Jenseits zeigt. Zugleich lebt sie weiter, und spürt ihrem Traum nach.
Jeanne las auf dem Berg das Märchen von der Schneekönigin vor, aber nicht die Teile, in denen es um Kai geht, der leichtsinnigerweise seinen Schlitten an den der Schneekönigin bindet, und dessen Herz nach zwei Küssen der Königin zu Eis wird, so dass er alles vergisst, auch die kleine Gerda, die ihn liebt und sein eisiges Herz wieder zum Schmelzen bringen muss. Jeanne geht es nur um die Schönheit, Klarheit und Kälte der Schneekönigin selbst, und um die Herrlichkeit ihres vom Nordlicht beschienenen Palastes. Sie besitzt nur zwei Objekte aus ihrer Kindheit: die Kette mit den „Zauberperlen“ und eine Postkarte, die einen Eislaufring zeigt. Jeanne findet in der Stadt tatsächlich den Eislaufring, auf dem eine junge Frau, Bianca, besonders schön tanzt. Jeanne, die keinen Platz zum Schlafen hat, kriecht in ein Kellerfenster und schläft dort auf einem Haufen glitzernden Stoffes ein. Am nächsten Tag sieht sie durch einen Verschlag die Schneekönigin (Marion Cotillard) selbst. Sie ist im Studio gelandet, in dem ein Märchenfilm gedreht wird, mit dem launischen Star Christina van den Berg als Schneekönigin. Jeanne gibt sich als Statistin aus, nennt sich „Bianca“ und begegnet Christina, die beginnt sie zu protegieren. Christina spielt aber nicht nur die Eiskönigin, sie hat tatsächlich deren Charakter.
Hadjihalilovic erzählt in immer neuen Rahmungen und Doppelungen von der Sehnsucht nach einem Herz aus Eis. Die Film-im-Film-Szenen erinnern an osteuropäische Märchenfilme, DIE SCHNEEKÖNIGIN etwa wurde 1967 in der Sowjetunion von Gennadi Kasanski in einem ähnlichen Stil mit deutlich erkennbaren Kulissen verfilmt. Hadjihalilovic inszeniert, vom Eisring ausgehend, immer neue Bühnen.
Es gibt aber eine Figur, die dieses theatrale Spiel mit Bühnen und Rahmungen durchbricht: eine Ausstatterin, der Jeanne im Studio begegnet, ist der reale, freundliche Gegenpol zum mysteriösen, kalten Star Christina und zu der Traumwelt, in der Jeanne lebt. Sie trifft Jeanne am Morgen, sich am Buffet bedienend, und weiß sofort, dass das Mädchen nicht zur Produktion gehört, bietet ihr aber einen Ausweg: „Bist du Statistin?“. Als Jeanne vor dem Studio von Christina versetzt wird, warnt sie Jeanne: „Das hat sie vergessen. Das ist eben Christina.“ Kein Mysterium, einfach eine freundliche Person, die vor dem eitlen Spiel einer unfreundlichen Person warnt und dem Film eine Ebene jenseits der so schönen wie bedrohlichen Märchenwelt hinzufügt.
Jeanne muss ihre Sehnsucht nach der Schneekönigin und ihre Traurigkeit überwinden, ohne vollständig die Verzauberung aufzugeben. Davon erzählt der Film in spektakulären Bildern.
Tom Dorow

Deutsche Retrospektive der 1970er
„Wild, schräg, blutig“, so lautet der Titel der diesjährigen Berlinale-Retrospektive: „Deutsche Genrefilm der 70er“. Nun laufen nicht die wirklichen Genrefilme, die damalige Konfektionsware, Sexreports, oder die späten Heinz Erhardt-„Willy“-Filme, oder Klamauk, in dem Karl Dall mitspielt; es ist auch keine „Sigi Götz Entertainment“-Filmschau. Wir sind schließlich immer noch auf der Berlinale, wo die Filmkunst großgeschrieben wird, das heißt: Es laufen in der Retro großteils weniger Genrefilme als Genrespiele, von nicht nur handwerklich, auch künstlerisch versierten Regisseuren, die mit den Standard-Versatzstücken ihr eigenes Ding machen; Filme, die man auch als Kunst betrachten kann, ohne größere Abstriche an den eigenen Anspruch machen zu müssen. Und trotzdem schräg und wild sind und ab und zu blutig.
Das ist vollkommen in Ordnung so, weil die Filme auf jeden Fall lohnen, weil sie Einblick geben in diese Zeit zwischen dem Filmaufbruch der 60er (Oberhausener Manifest) und dem Kommerz der 80er (Eichinger). Die kann man gut und gerne alle sehen – zum Beispiel „BLUTIGER FREITAG“, Rolf Ohlsen 1972: Das ist sowas wie ein Komplementärfilm zum gegenwärtigen Tim-Fehlbaum-Film „SEPTEMBER 5“, er beruht auf einem Fall von 1971: Erstmals ein Banküberfall mit Geiselnahme in der BRD, und eine total überforderte Polizei, das ist wirklich passiert in München, und ein paar Monate später, beim Olympia-Attentat, da waren die Ordnungshüter auf ähnliche Weise, und noch immer, überfordert… Bei Ohlsen wird das zu einem wirklichen Gangsterreißer, mit Raimund Harmstorf in der Hauptrolle, ein absoluter Knaller.
„DEADLOCK“, von Roland Klick 1970, ist ein Gangsterfilm in Italowesternform mit einem Schuss Becket drin, Verbrecher in der Wüste, ein Koffer Geld, und das Warten, das Zermürben, das Kämpfen gegeneinander. Gedreht im Niemandsland eines lauernden Krieges, Jordanien in Sichtweite, beschützt von der israelischen Armee – mitten in einer der brenzligsten Regionen der Weltgeschichte, damals vor 55 Jahren wie heute. Das fließt nicht in die Filmhandlung mit ein, und doch, ein ganz nervöses, flirrendes Ding ist das geworden, entrückt und handfest zugleich.
Oder „MÄNNER SIND ZUM LIEBEN DA“, von Eckhart Schmidt 1970, in dem irgendwie Fantasy-Science Fiction nach Schwabing geworfen wird: Schöne Frauen entsteigen dem Wasser, sie verführen Männer, die beim Beischlaf auf Däumlingsgröße schrumpfen. Die werden ins Köfferchen gesteckt, denn auf Atlantis herrscht Männermangel… Eine grandiose Schwabingkomödie, die mit den Geschlechtern und ihren Rollen in der Gesellschaft Pingpong spielt, lockerleichtsommerlich (nicht übel bei diesem Winterwetter!). Eine verliebt sich, und das natürlich in einen dieser typischen Sixties-Hallodris, die mit Lust und Spaß die Verweigerung leben. Klar ist die Frauenemanzipationsthematik in diesen Film eingeflossen, aber vor allem die Gegenkultur, die sich den Autoritäten entzieht und der Obrigkeit entgegenstellt: Der Typ will alles, außer bürgerlich zu arbeiten; lieber verklagt er die Stadt wegen der Baustelle vor seinem Fenster. Aussicht auf Erfolg natürlich bei minus 273, aber, so sagt er sinngemäß: Man muss die nerven, wo und wie es nur geht.
Harald Mühlbeyer

LIKE A COMPLETE UNKNOWN
Berlinale Special Gala:
Nur mit seinen abgetragenen Klamotten am Leib, einer Schachtel Zigaretten in der Tasche und seiner Akustikgitarre in der Hand kam Bob Dylan (Timothée Chalamet) im Winter 1961 in New York an. Ohne Freunde, ohne Familie und ohne Vergangenheit. Seinen neuen Bekanntschaften erzählte er, er sei mit einem Zirkus unterwegs gewesen, dass er eigentlich Robert Allen Zimmermann heißt, verschweigt er sogar den treuesten seiner neuen Weggefährt*innen. Als er ins West Village kam, um sein Idol Woody Guthrie (Scoot McNairy) im Krankenhaus zu besuchen, war er für den Rest der Welt noch ein völlig Unbekannter – A Complete Unknown.
Und Regisseur James Mangold legt in seinem Biopic nur wenig Wert darauf, diesen Umstand zu ändern. Wer noch nichts über Bob Dylan weiß, wird auch nach dem Film nicht viel schlauer sein. Im Gegensatz zu Mangolds Johnny Cash Biopic WALK THE LINE von 2005 ist A COMPLETE UNKNOWN eher ein Konzertfilm, der sich vor allem über seine vollständig ausgespielten Songs und die durch Kostüm- und Setdesign erzeugte Atmosphäre trägt.
Bereits von den ersten Minuten an fiktionalisiert Mangold die Lebensgeschichte Dylans: Folk-Musiker Pete Seeger (Edward Norton) sitzt an Woodys Krankenbett, nimmt Dylan bei sich auf und verschafft ihm erste Konzerte im West Village. Suze Rotolo, Dylans frühe verlobte - die beispielsweise auf dem Cover zu The Freewheelin’ Bob Dylan zu sehen ist - heißt hier Sylvie Russo (Elle Fanning), scheint nie mit ihm liiert zu sein und konkurriert auch weit über das Jahr 1964 hinaus noch mit Joan Baez (Monica Barbaro). Wie Mangold im Interview mit Variety verriet: A COMPLETE UNKNOWN ist kein Wikipedia Eintrag. Stattdessen spielt Chalamet den fiktionalisierten Bob Dylan so, wie er von der Öffentlichkeit und seinen Weggefährt*innen wahrgenommen wurde: Als abweisenden und intransparenten Einzelgänger, der lieber neue Songs spielt als seine alten Hits, der die öffentliche Aufmerksamkeit zu hassen scheint und der seine Vergangenheit täglich neu erfindet. Statt eine für Biopics typische Heldenreise zu erzählen, wagt Mangold einen eigenen Ansatz und lässt das „Bio“ einfach liegen: Historische Großereignisse ziehen auf den Fernsehbildschirmen vorbei und ein Zeitsprung ins Jahr 1965 schluckt die Entwicklung vom Protestsänger zum mürrischen Rockstar. Stattdessen stehen die mitreißenden Konzertszenen im Mittelpunkt, die Dylans Songs zuweilen ausschnittweise anspielen, sie aber häufiger in ihrer ganzen Länge zur Geltung kommen lassen.
Vielleicht steht A COMPLETE UNKNWOWN in einigen Jahren neben Filmen wie der ROCKY HORROR PICTURE SHOW oder STOP MAKING SENSE, wird im Kino mitgesungen und von einer eingeschworenen Fangemeinschaft alljährlich zelebriert. Ich wäre dafür auf jeden Fall zu haben.
Lukas Hoffmann

MICKEY 17
Berlinale Special
Mickey Barnes (Robert Pattinson) ist ein liebenswerter Loser. Seine Gutgläubigkeit macht ihn zum leichten Opfer. Als ihn sein Freund Timo (Steven Yeun) davon überzeugt, dass Macarons der Hit in der Welt von Morgen werden, sieht er sich wenig später mit einer Firmenpleite und dem härtesten Gläubiger der Stadt konfrontiert. Mickey und Timo haben keine Wahl: Sie müssen die Stadt verlassen und suchen sich den am weitesten entfernten Ort aus, den sie finden können: Niflheim. Der mediengeile Senator Kenneth Marshall (Mark Ruffalo) sucht Kandidaten für eine Kolonie auf dem fernen Planeten. Der Andrang ist groß und Mickeys einzige Chance, an Bord zu kommen, ist, sich als „Expendable“ (Entbehrlicher) zu melden. Sein Gehirn wird in eine Datenbank übertragen und sein Körper zum entbehrlichen Werkzeug.
So wird Mickey schon bald als Versuchskaninchen für allerlei wissenschaftliche Experimente genutzt und nach seinem Ableben einfach neu gedruckt. Er trägt so unter anderem dazu bei, einen Impfstoff für einen tödlichen Virus zu entwickeln, der die Atmosphäre von Niflheim kontaminiert – auch wenn das einige schmerzhafte Tode von Mickey zur Folge hat. Als Mickey 17 von einer Erkundungsmission nicht zurückkehrt, wird er für tot erklärt und neu gedruckt. Allerdings schafft er es zurück zur Basis und steht unvermittelt seinem Klon gegenüber.
Wie schon sein postapokalyptischer Trip „SNOWPIERCER“ ist auch „MICKEY 17“ ein herrlich ätzender Kommentar auf (politische) Machtstrukturen im Gewand eines Science Fiction-Films. Bong Joon Ho, der für „PARASITE“ zuletzt mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, ist ein Meister darin, Gesellschaftskritik in Genrefilme zu verpacken. Das gelingt ihm auch mit „MICKEY 17“ mit viel schwarzem Humor und absurden Ideen. Robert Pattinson gibt als 18-facher Hauptdarsteller absolut alles und ein glänzend aufgelegter Mark Ruffalo bietet eine herrliche Politikerparodie, irgendwo zwischen seinem Jammerlappen Duncan Wedderburn aus „POOR THINGS“ und Donald Trump.
Lars Tunçay

MICKEY 17
Berlinale Special
Bong Joon Hos Techno-Faschismus-Satire MICKEY 17 erzählt von Mickey (Robert Pattinson), der sich mit einem Macaron-Laden bei einem Kredithai verschuldet hat und, um von der Erde zu verschwinden, bei der windigen Expedition eines Pop-Politikers Kenneth Mashall (Mark Ruffalo) und seiner Gattin Ylfa (Toni Collette) zum Planeten Niflheim als “Expendable” einsteigt. Mickeys Funktion ist es, als eine Art menschliche Laborratte immer wieder zu sterben, um sofort danach wieder einen neuen Körper ausgedruckt und seine Erinnerungen aus einem Ziegelsteinspeicher eingespeist zu bekommen.
Mickeys Geschichte lässt es einem zunächst kalt den Rücken herunterlaufen. Ähnliche Menschenversuche sind von Sigmund Rascher und Josef Mengele in Nazi-KZs tatsächlich unternommen worden. Hier werden sie allerdings von einem fröhlichen Business-Pragmatismus begleitet. Ein hübsche Dame erklärt Mickey, wie sein Körper und seine Seele digitalisiert werden, und dann kann es losgehen. Komplikationen treten erst auf, als Mickey 17 einen Tod wider Erwarten überlebt und sich zurück in die Basis schleppt, wo Mickey 18 bereits in seiner Koje ein Nickerchen macht.
Am Ende führt das natürlich alles zum großen Kampf von Gut gegen Böse, in dem auch die indigenen Bewohner des Planeten, eine Art intelligenter Riesenasseln, eine wichtige Rolle spielen. Die Geschichte gerät in etwas genretypischere Bahnen, bevor es zum Showdown zwischen Mickey 17, Mickey 18, deren Freundin Nasha (Naomi Ackie), den schurkigen Marshalls und den wütenden Asseln kommt. Bong ist kein subtiler Regisseur, lieber lässt es es ordentlich krachen. Toni Colette und Mark Ruffalo als TV-Politiker geben mit sichtlichem Vergnügen die ultimativen Schmierlappen und selbst bei der Berlinale-Pressevorführung gab es Szenenapplaus, nur weil Dasha den großen Kolonisator als „Arschloch“ beschimpfte. MICKEY 17 ist eine sehr unterhaltsame Erfahrung. Die sehr jungen Französinnen neben mir identifizierten den Film als „a masterwork“. Das ist wohl mehr dem Überschwang geschuldet, aber Spaß macht der Film.
Tom Dorow

HOT MILK
Wettbewerb
Ein ungleiches Mutter-Tochter-Paar verbringt den Sommer weit weg vom heimischen England an der spanischen Küste: Rose will ihre ungeklärten Leiden vom Wunderdoktor Gomez behandeln lassen, Sofia endlich ihr Anthropologie-Studium beenden. Die Sonne glüht, der Wind bläst, der angekettete Hund nebenan hört nicht auf zu bellen – und die Nervenkostüme der beiden Frauen werden immer dünner. Während Rose ständig neue Krankheiten zu haben meint und ihre Gebrechlichkeit zelebriert, fängt die ihr sonst so zugewandte Sofia an gegen ihr Krankenpflegerin-Dasein zu rebellieren. Eines Tages trifft sie die Touristin Ingrid am Strand und beginnt mit ihr eine obsessive Liaison. Ingrid gleicht mit ihren Wüstenoutfits und verheißungsvollen Versprechen einer Fata Morgana. In einem Moment verspricht sie, Sofia zu Weihnachten zu sich nach Deutschland zu holen, im nächsten Moment küsst sie die Männer, die zufällig auch in ihrem Hippie-Bungalow vorbeikommen. Die Unaufgeregtheit, mit dem queeres Begehren hier thematisiert wird, ist erfrischend. An dem Wettbewerbs-Beitrag der ersten Berlinale unter der offen lesbischen Leiterin Tricia Tuttle fällt auf, dass die zwei Frauen in all ihrem erotischen Flimmern keine Show für einen männlichen Blick (male gaze) bieten. Das verwundert nicht – schließlich führte auch Rebecca Lenkiewicz Regie, die zuletzt das Drehbuch zum MeToo-Dramas SHE SAID lieferte. In der Romanadaption von HOT MILK nimmt Lenkiewicz sich Freiheiten raus, die auf der Leinwand fast besser funktionieren als in dem verträumt-experimentellen Roman selbst. Dessen südafrikanische Autorin Deborah Levy ist bekannt als autofiktionale Chronistin von Frauenleben, ihrem eigenen wie dem anderer. Ein Frauenfilm also? In jedem Fall ein starker weiblicher Cast mit Emma Mackey (bekannt aus Sex Education), Fiona Shaw und Vicky Krieps, die eine komplexe, unkonventionelle Dreieckdynamik erzeugen. Nicht zuletzt geht es – auch bei Pseudo-Wunderdoktor Gomez und Sofias abwesendem Vater – um gebrochene Figuren, die versuchen, ihre eigenen freien Entscheidungen in Würde zu treffen, und dabei immer wieder scheitern.
Anna Hantelmann

SCHWESTERHERZ
Warum kennen wir so viele Opfer sexueller Gewalt, aber so wenige Täter? Diese Frage stand für sie am Anfang, erklärt Sarah Miro Fischer bei der Berlinale-Premiere ihres Debütfilms. Der erzählt eine Geschwistergeschichte, die eine Seite im MeToo-Diskurs beleuchtet, die sonst nur wenig Aufmerksamkeit bekommt. Rose und ihr älterer Bruder Sami gehen zusammen durch dick und dünn: Nachdem Roses Ex-Freundin sie endgültig vor die Tür setzt, zieht sie noch in derselben Nacht bei Sami ein. Ist das nicht ein bisschen eng, fragt die Mutter der beiden. Sami verneint – und tatsächlich stört ihn seine Schwester auf seinem Sofa so wenig, dass er eines Nachts sogar eine Bekanntschaft mit nach Hause bringt. Eine Woche später erhält Rose Post von der Polizei: Sie soll eine Zeugenaussage machen, genau diese Bekanntschaft wirft Sami eine Vergewaltigung vor. Wie Rose der schwerwiegenden Anschuldigung gegen ihren Bruder begegnet, sich darum windet und dreht, zur Polizei zu gehen, öffnet den Raum für große moralische Fragen. Die Vergewaltigung selbst zeigt SCHWESTERHERZ nicht, der Fokus liegt auf der Geschwisterbeziehung. Längere Einstellungen – das Zusammenspiel von Mimik und Geräuschkulisse – lassen das wachsende Unbehagen zwischen Bruder und Schwester spürbar werden. Bis Sami zusammenbricht und Rose sich entscheiden muss, ob sie Verantwortung übernimmt. Dabei sorgt die Performance von Marie Bloching als Rose für die Nuancen und die durchgehende Ambivalenz, die dieses Dilemma benötigt. Immer wieder wird sie in ihrer eigenen körperlichen Verletzlichkeit bzw. Unversehrtheit gezeigt, an alltäglichen Orten, wie der Aktzeichen-Bar, wo sie ein Date hat, der gynäkologischen Praxis, in der sie arbeitet, oder dem Enthaarungsstudio, wo sie Samis Bekanntschaft schließlich selbst aufsucht. Was bleibt, ist der Eindruck, dass Grenzüberschreitungen immer und überall passieren – und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen, wenn sie von unseren Nächsten ausgehen.
Anna Hantelmann

WELCOME HOME, BABY
Die Panorama-Sektion der Berlinale ist die Bühne für moderne, tagesaktuelle und unkonventionelle Erzählungen. Sie ist außerdem die einzige Sektion, in der die Besucher*innen des Festivals selbst abstimmen und einen Publikums-Preis vergeben dürfen. Und was wäre in der Rolle des Eröffnungsfilms für diese Sektion geeigneter als ein neuer Genrebeitrag aus Deutschland und Österreich?
In Welcome Home Baby erzählt Regisseur Andreas Prochaska, der sich seit dem Kurzmitteilungs-Horror IN 3 TAGEN BIST DU TOT erstmals wieder an einen Genrefilm wagt, eine Geschichte von familiären Ursprüngen, unfreiwilliger Schwangerschaft und den unscheinbaren Machtverhältnissen in etablierten gesellschaftlichen Strukturen.
Judith (Julia Franz Richter) ist Notärztin in Berlin. Zusammen mit ihrem Mann Ryan (Reinout Scholten van Aschat) führt sie ein normales, wenn auch hektisches Leben in der Hauptstadt. An ihre leiblichen Eltern, die sie als Kind abgegeben haben, kann sie sich kaum erinnern, und eigene Kinder kommen für das junge Paar nicht in Frage. Als sie die Nachricht über das Ableben ihres Vaters erreicht und sie ein Haus erben soll, an das sie nicht die geringste Erinnerung hat, sieht sie sich gezwungen, ihre eigene Vergangenheit zu bewältigen und sich den Dämonen in ihrem österreichischen Heimatdorf zu stellen. Dort angekommen wird sie nicht nur mit bizarren Träumen von brennenden Frauen konfrontiert, sondern muss sich auch mit den beinahe ausschließlich weiblichen Dorfbewohner*innen auseinandersetzen, die Judith und ihre Vergangenheit besser zu kennen scheinen als sie selbst. Die Tage verschwimmen, Erinnerungen werden zu Fragen und trotz Ryans Vasektomie scheint Judith schwanger zu werden. Das Dorf und seine Bewohner*innen scheinen sie langsam in sich aufzunehmen - „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“.
Das klischeehafte Dorfleben, wo jeder jeden kennt und die Nachbar*innen zur platonischen Tanten und Onkel werden, entwickelt sich zum sich immer wiederholenden Albtraum. Gerti Drassl und Maria Hofstätter drehen die dörfliche Gastfreundschaft mit ihrem Spiel geschickt auf links und Andreas Prochaska zeichnet dazu eindrucksvolle Bilder von Fachwerkhäusern, Wäldern und Gewölben, die uns die Idylle der ländlichen Heimat madig machen wollen. Bei WELCOME HOME, BABY steckt der Horror im Kaffee und Kuchen.
Lukas Hoffmann

WELCOME HOME, BABY
Panorama
Der Wald steht Kopf, eine Frau zündet sich an. Verstört, verstörend. Dann eine Regennacht in Berlin, Rettungswagen, eine Notärztin, Sturzgeburt im Treppenhaus. Feuer, Wasser, Mutterschaft, das sind die Pole, um die Andreas Prochaskas WELCOME HOME, BABY kreist, ein Horrorfilm, der von Anfang an alles daran setzt, das Publikum in Alarmstimmung zu bringen. Judith, die Ärztin, hat in Österreich ein Landhaus geerbt, ihr leiblicher Vater ist gestorben, den sie nicht gekannt hat, der sie weggegeben hatte, als sie noch klein war. Sie kehrt zurück in den Ort ihrer Geburt, und es ist einer dieser Orte, von denen man nicht mehr wegkommt, höchstens unter allergrößtem Opfer und Schmerz. Ihr Mann Ryan ist dabei, er entwickelt Fotos, und er wird sich selbst auch entwickeln, vom Berliner, der auf Hochzeiten fotografiert, zum Jäger im Traditionsjanker. Es ist der Einfluss des Hauses, des ganzen Dorfes – der Gemeinschaft der alten Frauen dort, eine Art Matriarchat, oder vielleicht Hexenbund, die in Judith die sehen, die wieder zurückkehrt, die die Tradition erneuert.
Es ist ein veritables Folkhorrorstück, was Prochaska abliefert, irritierend und unheimlich, gerade, weil die Frauen erstmal solche verschrobenen Schachteln sind, die von früher erzählen, die für Judith ihr Heim herrichten wollen, die, übergriffig wie sie sind, deren Familienplanung ansprechen, sie ist ja jetzt in dem Alter, wo sie sich nicht mehr allzuviel Zeit lassen sollte. Aber diese Frauen sind stark, sie wissen, was sie wollen, und Judith verliert sich mehr und mehr. Zeitsprünge, Lücken in ihrem Dasein, plötzlich ist sie im Wald, plötzlich in einem See, Visionen, Erinnerungen, Flashs, vielleicht Halluzinationen. Und meist ist es dunkel, Prochaska spielt mit den allgegenwärtigen Schatten, ab und zu mit Schocks, immer mit dem Schrecken, dem Judith anheimfällt. Mit den Umwälzungen der ungewollten Schwangerschaft, die sie durchmacht.
Die Mittel kennt man, es sind die der Grauenerzeugung im Film, Prochaska setzt sie gezielt und punktgenau ein, und vor allem sorgt man sich, ob es dem Film gelingt, letztlich alles befriedigend zusammenzuzurren. Es klappt, denn Prochaska nutzt den Trick des Uneindeutigen, lässt den Horror stehen, spielt aber mit dem Schizo-Psychotischen, das Judith (vielleicht) von ihrer Mutter geerbt hat, die einfach verschwunden ist damals; oder: vielleicht ist alles schlicht Metapher für die Umwandlung von Judith von der Frau zur Mutter.
Wahrscheinlich sollte man nicht mit scharfem feministischen Seziermesser an den Film herangehen, einerseits die Selbstermächtigung Judiths, die mit der Psychokraft der Mutterschaft die Bande der Tradition, des Vergangenen auf- und zerbricht; andererseits der unbedingte Wille des Matriarchats, dieses Kind zu haben, um es aufzuziehen, ist schließlich nach dem alten Spruch ein ganzes Dorf nötig…
Auf jeden Fall ein gelungenes Genrestück, wild, schräg, auch blutig. Die aktuelle Erweiterung der diesjährigen Berlinale-Retro.
Harald Mühlbeyer

KEIN TIER, SO WILD
Berlinale Special
Burhan Qurbani hatte 2020 mit BERLIN ALEXANDERPLATZ den Döblin-Roman ins Berlin des 21. Jahrhunderts verlegt und in der Geschichte des Franz Biberkopfs Parallelen zu den Erfahrungen der Menschen gezogen, die nach der Reise über das Mittelmeer in Berlin ein neues Leben anfangen müssen. Sein neuer Film KEIN TIER, SO WILD basiert auf dem Shakespeare-Drama RICHARD III, wobei hier aus Richard Rashida wird, und die „körperliche Unvollkommenheit“, die sie „entstellt“ die Tatsache ist, daß sie eine Frau im Milieu der arabischen Clans ist, die sich durch Intelligenz und Ambition statt durch glamouröse Schönheit auszeichnet. Gerade wurde auf ihren Befehl hin die Oberhäupter des Lancaster-Clans getötet, was ihrer Familie York den Sieg in einem langen Bandenkrieg brachte, da befiehlt ihr ihr großer Bruder Imad, dass sie den gewonnenen Frieden durch eine Heirat mit Ali Lancaster besiegeln soll. Nur immer gehorchen, dienen und sich unterordnen will Rashida nicht, und beginnt deswegen zu intrigieren, bis fast alle männlichen Familienmitglieder im Grab, und sie selbst an der Spitze des kriminellen Imperiums ist. Zur Seite steht ihr, ganz Shakespeare-konform, ihre geliebte Amme, mit Rat und Tat, wobei man unter „Tat“ das geübte Töten aller zu verstehen hat, die Rashida aus dem Weg geräumt braucht.
„Sisters als doing it for themselves“ ist die Devise und als ersten Schritt übernimmt Rashida, ganz wie Richard, das Verführen der Witwe des ermordeten Lancaster-„Königs“ selbst. Und je weiter sie aufsteigt, desto sichtbarer wird ihre Exekutive, eine Gang aus Straßenmädchen, während die bärtigen Schränke im Anzug verschwinden. Wobei von Anfang an neben der Amme und der Mütter der Clans auch Elisabet, die eingeheiratete und konvertierte deutsche Frau von Imad, als Macht hinter dem Thron dargestellt wird, die es zu besiegen gilt. Es geht nicht nur darum, daß sich Rashida als Frau in einer Männerdomäne beweist, oder darum, daß weder die Yorks noch die Lancasters von den Kartoffeln (Elisabets Familie heißt natürlich Müller) akzeptiert werden. In der ersten Szene zeigt sich, dass der Wunsch nach der Krone sie schon als kleines Mädchen begleitete.
Bis sie diese in Händen hält, spielt der Film in einer Reihe von durchdesigneten aber realistischen Räumen, die direkt aus einem Gangster-Rap-Video stammen könnten, bevor ihre Siegesfeier alles in ein riesiges Zelt verlegt, unter dessen Dach die Theaterkulisse einer ausgebombten Landschaft Schauplatz ihrer brutalen Herrschaft wird.
KEIN TIER, SO WILD ist wie ein extremes Theaterstück, das letztlich aber an seiner eigenen Ambition scheitert. Es stecken viele interessante dramaturgische und Designideen darin, die Besetzung stellt sich der Herausforderung, die „larger than life“-Charaktere mit Leben zu füllen und den Geist des elisabethanischen Theaters auf den modernen Gangsterfilm zu übertragen. Letztlich wird aber viel mehr angeschnitten als dann für die dramatische Handlung und Charakterentwicklung relevant ist. Das Medium Film erlaubt es Kenda Hmeidan als Rashida das Publikum direkt in ihre Pläne einzuweihen und zu Kompliz*innen zu machen, wie es Laurence Olivier und Ian McKellan als Richard schon taten. Statt Ambition oder dem Wunsch, sich zu beweisen, scheint sie aber vom puren Hass aus alles und jede*n getrieben zu sein, oder eben der Freude daran, wild zu sein wie das Tier als das sie sich gesehen fühlt. Sie kann nicht zur Ruhe kommen und genauso kennt der Film keine Atempause, sei es visuell oder auf dem Soundtrack, der übersteuerte Bässe mit arabesken Frauenchören verbindet. Was es letztlich alles soll, wer weiß? Aber eine gnadenlosere Shakespeare-Adaption dürfte es erstmal nicht geben.
Christian Klose

DAS LICHT
Wettbewerb
Die letzten Berlinalen sind bei der Eröffnung gefühlt auf Nummer Sicher gegangen und haben Filme gezeigt, die zwar nicht besonders aufregend waren, aber auch nicht direkt ärgerlich. Meist gab es einen internationalen Star und die Hoffnung, dass nach dem soften Start interessantere Filme folgen würden. Demgegenüber sorgt DAS LICHT von Tom Tykwer für einen unterhaltsam Auftakt: Ganz egal, ob man den Film als großen Wurf, überkonstruierte Katastrophe oder ambitioniert gescheitertes Chaos einschätzt, DAS LICHT ist ein Film, über den geredet werden wird, schon allein weil Tykwer so viele Themen verhandelt und verbindet: Klimakatastrophe, Flucht und Trauma, Postkolonialismus, White Guilt, alte weiße Cis-Männer und -Frauen, Greenwashing, Rassismus und Anime, Technik spielt eine Rolle, von VR-Computerspielen über ubiquitäre Handys bis zu einer magischen Lampe, ach, und ein Musical ist DAS LICHT auch noch.
Im Zentrum steht die linke, weiße deutsche Kernfamilie, die aber schon ziemlich zerfasert ist. Tim Engels (Lars Eidinger) ist ein eloquenter Marketingtyp, der einer überhippen Hochglanzfirma beim Greenwashing hilft und am liebsten barfuß oder nackt herumläuft. Die ehrliche Empörung seiner Tochter liefert ihm das Material fürs nächste Werbevideo, Hashtag #wir. Milena (Nicolette Krebitz) ist meist gar nicht da, sondern managet in Kenia ein soziokulturelles Projekt, was vor allem heißt, dass sie zunehmend verzweifelt hinter Geld her telefoniert. Während die beiden permanent reden, sagen die Teenager-Zwillinge am liebsten so wenig wie möglich. Jon (Julius Gause) spielt in seinem Messie-Zimmer VR-Games, und Tochter Frieda (Elke Biesendorfer) zieht mit ihrer non-binären Fridays for Future-Blase kuschelnd durch die Clubs der Stadt. Und schließlich ist da, jede zweite Woche, der kleine Dio (Elyas Eldridge), ein Kind von Milena und dem Kenianer Godfrey.
In einer anderen Wohnung der Stadt sitzt Farrah (Tala Al-Deen), die aus Syrien nach Deutschland geflohen ist, und wartet auf etwas, und als die Familie Engels eine neue Haushälterin sucht, macht sie sich auf den Weg. Sie wird schnell zum Ankerpunkt für alle Familienmitglieder. Sie spielt mit Jon VR-Spiele, tröstet Milena, hört Frieda und Tim zu, und früher oder später sitzt jedes der Familienmitglieder vor jener seltsamen Lampe, mit der Farrah eine Art spirituelle Heilung betreibt.
Damit nimmt Farrah geradezu prototypisch eine Rolle im Film ein, die unter anderem Spike Lee als „magical negro“ beschrieben hat – eine Nebenfigur, die einer marginalisierten Gruppe angehört und oft über spezielle magische Fähigkeiten, aber wenig eigene Geschichte verfügt, und deren hauptsächliche Funktion im Film es ist, den meist weißen Hauptperson zu helfen, ihre Probleme zu überwinden. Im Gegensatz zu den neurotischen Engels wirkt Farrah fast übermenschlich mit sich im Reinen. Die Trope ist allerdings so offensichtlich, dass sich fast schon die Frage stellt, ob Tykwer die Konstruktion absichtlich verwendet und versucht hat, sie durch Überhöhung zu brechen. Zudem verfolgt Farrah mit ihrer Lampenmagie auch eine eigene Agenda.
DAS LICHT sieht gut aus, ist schnell montiert und bewegt sich die meiste Zeit in einem Modus, der sich zwischen An-der-Grenze-zu-Satire und Psychodrama bewegt. Immer wieder bricht der Film aber auch in Theatralik aus. Jedes der Familienmitglieder erhält eine eigene Musicalnummer, die ihr oder sein zentrales Problem umreist, im Umfeld der Jugendlichen kommen Animationen zum Einsatz, und Farrah besucht ihre Familie, die es nicht nach Deutschland geschafft hat, in einem seltsam abstrakten grauen Raum, der an eine Gefängniszelle erinnert. Es ist ein Ort, der aus dem Setting des Films – ein sehr wiedererkennbares Berlin im Regen - radikal herausfällt. Was ist dieser Ort? Wie kommt sie dort hin? Warum sind ihre Kinder auch dort?
Wie oft bei Tom Tykwer ist in DAS LICHT dabei alles mit allem und alle mit allen verknüpft. Der Sturm, der zu Beginn des Films durch die Erzählung fegt, trifft alle, egal, wo sie sind: Tim auf seinem Fahrrad, Milena im Flieger und die Vorgängerin von Farrah im Herzen. Der Regen, der, untypisch für Berlin, von der ersten bis zur letzten Szene auf die Personen herunterschüttet, weicht die Grenzen auf und macht sie durchlässig. In der spirituellen Dimension die Tom Tykwer aufmacht, scheint DAS LICHT vor allem die Frage zu stellen, was eine weiße Mittelschichtsfamilie und eine geflüchtete syrische Familie - kosmisch gesehen - miteinander verbindet. Die Antwort, die er darauf gibt, und die hier nicht gespoilert werden kann, ist eine wirklich wilde Metapher.
Bei allem filmischen Zinnober ist die Frage vermutlich ernst gemeint, ist DAS LICHT der Versuch, einen Film zu drehen, der sich nicht nur um weiße Mittelschichtsbefindlichkeiten dreht, sondern versucht, diese in einem globalen Kontext zu verorten. Nichtsdestotrotz bleibt das Gefühl zurück, dass schließlich doch alles Weltgeschehen, und nicht zuletzt die Ertrunkenen im Mittelmeer, darum kreisen, dass Tim und Milena aus Schöneberg keinen Sex mehr haben.
Hendrike Bake

DAS LICHT
Wettbewerb
Seinen jungen Mitarbeiter*innen gegenüber gibt Tim Engels (Lars Eidinger) sich gern als liberaler Freigeist. Der Werbetexter entwickelt gerade einen neuen Claim, der sich an eine weltoffene Generation richtet und inszeniert sich als Teamleader, der selbstbewusster wirkt als er es eigentlich ist. Seine Frau Milena (Nicolette Krebitz) kümmert sich derweil in Kenia um ein Entwicklungsprojekt in den Townships. Unterpriveligierte Kinder und Jugendliche bringen Theaterstücke auf die Bühne. Ein Projekt, das wirklich etwas bewegt, sagt Milena, und trotzdem droht die Förderung ihres Ministeriums weg zu brechen, weshalb sie im Dauerstress ist. Die Paartherapie treibt Tim und Milena eher auseinander, als sie einander näher zu bringen. Unterdessen haben ihre beiden 17-jährigen Zwillinge Frieda (Elke Biesendorfer) und Jon (Julius Gause) daheim ihre ganz individuellen Probleme.
Geredet wird zuhause kaum, wenn denn überhaupt mal alle zuhause sind. So fällt es auch erst am Morgen danach auf, dass ihre Haushälterin Maja einen Schlaganfall hatte und auf dem Küchenfußboden liegt. Das versetzt dem Familiengefüge einen ersten Ruck und bringt Farrah (Tala Al Deen) in ihr Leben. Die gelernte Psychologin floh aus Syrien nach Deutschland und könnte hier als Arzthelferin arbeiten. Doch sie sucht sich explizit die Familie Engels aus, um bei ihnen zu putzen. Farrah wird zur Schulter, an die sich die Kinder anlehnen können, zum offenen Ohr für die Probleme der Eltern. Daneben verfolgt sie aber ihre ganz eigene Agenda.
Welche das ist, offenbart Tykwer erst im finalen Akt seines fast dreistündigen Werks. Bis dahin sind wir mit den Figuren bereits durch alle Höhen und Tiefen einer familiären Beziehung gegangen. Tykwer, der hier auch wieder das Drehbuch verfasste, projiziert gesellschaftliche Verwerfungen auf den familiären Mikrokosmos und spiegelt sie zurück. Nach fünf Jahren mit der Serie „Babylon Berlin“, die mit ihrem Blick auf die Wurzeln des Faschismus auch viel Gegenwärtiges hat, wollte er wieder eine Geschichte im Hier und Jetzt erzählen und Figuren schaffen, die ihm nah sind, sagt er. Das gelingt dank eines hervorragenden Ensembles und dem Mut zum Stilbruch mit Tanz- und Gesangseinlagen und Comicsequenzen, die an seinen international größten Erfolg „Lola rennt“ erinnern. „Das Licht“ verlangt viel vom Publikum, ist aber eine Bereicherung, gibt man sich ihm vollends hin.
Lars Tunçay