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Feature, Festivals

Bericht vom 77. Cannes Filmfestival

Pamela Jahn berichtet von der Croisette

Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes finden in diesem Jahr vom 14. bis 25. Mai 2024 statt. Unsere Autorin Pamela Jahn ist vor Ort, um von der Croisette über die Filme des diesjährigen 77. Jahrgangs zu berichten.

THE SECOND ACT

Veröffentlicht am 16.5.2024

Quentin Dupieux eröffnete in diesem Jahr das Festival - ein vielversprechender Auftakt. Seit seinem Erstling RUBBER (2010) hat sich der französische Autor und Regisseur als Spezialist für absurde schwarze Komödien mit minimalistischen Vorgaben etabliert. In THE SECOND ACT lässt er Léa Seydoux, Vincent Lindon, Louis Garrel und Raphaël Quenard als Schauspieler auftreten, die ständig zwischen den ihnen zugeteilten Rollen und ihren Star-Identitäten hin- und herwechseln. Das raffiniert inszenierte «Spiel im Spiel» ist über weite Strecken äußerst amüsant anzusehen.

Garrel verkörpert David, einen grüblerischen Pariser mit komplexer Persönlichkeit. Noch bevor der Film seine wahre Prämisse offenbart, hat er bereits eine komplizierte Dreiecksbeziehung in Gang gesetzt: Obwohl seine neue Liebschaft Florence (Seydoux) in ihn vernarrt ist, versucht David, sie stattdessen seinem Freund Christian (Quenard) aufzudrängen. Er nimmt ihn sogar mit zum ersten Mittagessen mit Guillaume (London), Davids zukünftigem Schwiegervater. Diverse wortreiche Verstrickungen und Komplikationen sind vorprogrammiert.

Der zweite Akt thematisiert die vermeintlichen Schwierigkeiten und Vorurteile des Schauspielerberufs. Eifersucht, Sticheleien, Neid und Konkurrenzdenken nehmen in den Dialogen bald überhand. Doch im Finale seines leichtfüßigen Dramas deutet Dupieux an, dass letztlich weder der Regisseur noch die selbstgefälligen Schauspieler hinter dem Erfolg oder Misslingen einer Produktion stehen. Film ist Teamarbeit, und die eigentlichen Strippenzieher agieren im Hintergrund, so sein ernüchterndes Fazit.

Bis dahin lotet Dupieux genüsslich die Grenzen aus, wie grausam und gefühllos Schauspieler miteinander und mit anderen Menschen umgehen können, etwa wenn David und Christian über einen Kellner spotten, der mit einem zitterndem Arm das Essen serviert. Oder wenn Florence droht, Christians Schauspielkarriere zu zerstören, als er versucht, sie zu küssen. Man weiß nur zu gut, wie einfach das in Zeiten von Social Media funktioniert.

Wie nah Dupieux stets an der Realität bleibt, zeigt die Tatsache, dass der Film von einem KI-generierten Avatar inszeniert wird. Die Schauspieler müssen über ein virtuelles Meeting via Laptop erfahren, dass ihnen wegen zu hoher Ausgaben der Lohn gekürzt wird. Aber was in Dupieuxs Film am Ende tatsächlich Fakt und was Fiktion ist, liegt allein im Auge des Publikums.

BIRD

Veröffentlicht am 17.5.2024

Not macht erfinderisch - bisher ist Bug (Barry Keoghan) mit dem Motto immer ganz gut gefahren. Eine geregelte Arbeit, ein trautes Familienheim, davon hält der junge Draufgänger nicht viel. Lieber feiert er mit seinen Kumpels die Nächte durch und verbringt sein Leben im Dauerrausch am Existenzminimum. Doch jetzt will er seine neue Romanze heiraten und dafür braucht er schnelles Geld: Als Goldesel soll eine seltene Kröte herhalten, deren Schleim ein starkes Halluzinogen erzeugt.

Die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams) ist wenig begeistert von den neuesten Plänen ihres sprunghaften Vaters. Als wäre es nicht schon ätzend genug, dass sie bei ihm in einer besetzten Hausruine außerhalb von London wohnt. Alles in ihrem Teenagerdasein ist befremdlich, von Gewalt und Armut geprägt. Dabei sehnt sie sich einfach nur nach ein paar Freunden, ein bisschen Halt und Geborgenheit. Oder wenigstens frei zu sein, wie die Vögel, die sie mit Staunen beobachtet, das wär's.

Der exzentrische Bird (Franz Rogowski) scheint Baileys zartes Gemüt hinter ihrer rebellischen Fassade zu erkennen - und zu teilen. Wie aus dem Nichts taucht er plötzlich vor dem Mädchen auf. Bailey ist dem Fremden gegenüber zunächst skeptisch. Aber bald entsteht zwischen ihnen eine Nähe. Denn wie sie selbst ist auch Bird ein Streuner, ein Außenseiter, eine sensible Seele auf der Suche nach der eigenen Identität.

In ihrem ersten Spielfilm seit AMERICAN HONEY (2016) setzt Andrea Arnold auf bewährte Kontraste: Die sozialrealistischen Dramen der britischen Regisseurin haben stets etwas Wildes, Unberechenbares an sich; gleichzeitig sind sie untermauert von einer unerschütterlichen Empathie. Arnold brennt für ihre Protagonist:innen, und sie weiß um die prekären Verhältnisse, in denen sie agieren. Liebe und Chaos liegen dicht beieinander in den harschen Alltagsrealitäten, von denen sie erzählt.

Auch Bird ist von diesem ambivalenten Geist geprägt. Schnelle Schnitte, ein pulsierender Soundtrack und Robbie Ryans rastlose Kamera bestimmen den Rhythmus des Coming of Age-Settings - bis sich ein unerwartet märchenhafter Zauber sanft über das Geschehen legt. Rogowski in der Titelrolle versprüht diese surreale Aura mit viel Hingabe; er hat den seltsamen Kautz, den er spielt, wie gewöhnlich fest im Griff.

Dass Arnolds Versuch, sich am magischen Realismus auszuprobieren, trotzdem nicht immer aufgeht, verstört nur kurzzeitig. Neben der beachtlichen Leistung von Newcomerin Nykiya Adams ist es insbesondere Keoghans Junkie-Vater, der hier den stärksten Eindruck hinterlässt. Ohne sich jemals in den Vordergrund zu drängen, lenkt seine ungestüme Energie den Film immer wieder in die richtigen Bahnen. Und seine Entwicklung überrascht letztlich am meisten, weil sie dank Keoghan voller unerwarteter Nuancen steckt.

MEGALOPOLIS

Veröffentlicht am 18.5.2024

Manchmal sind die Stärken eines Regisseurs nicht ohne seine Schwächen zu haben. Francis Ford Coppola ist weiß Gott nicht der einzige Filmemacher, auf den diese Beobachtung zutrifft - aber vielleicht ist er der prominenteste unter den Vertretern der Ära des New Hollywood. Mit Werken wie DER PATE und APOCALYPSE NOW hat er in den 1970er Jahren Kinogeschichte geschrieben. Dann floppte sein technisch imposantes Fantasie-Musical ONE FROM THE HEART im Jahr 1982 derart spektakulär an den Kinokassen, dass seine Produktionsfirma langfristig Pleite ging. Völlig erholt hat er sich davon nie.

Die Anstrengung ist auch MEGALOPOLIS anzumerken, 120-Millionen-Dollar-Budget hin oder her. Der Film ist eine Herausforderung, im Guten wie im Schlechten. Größenwahnsinniges Kino ohne Maß und ohne Ziel, aber mit Verve und mit Gefühl. Hinter dem Titel verbirgt sich eine Mischung aus epischer Science-Fiction-Fabel und politischer Satire, in der es hoffnungslos pathetische Einstellungen gibt. Und erstklassige Schauspieler, die bisweilen so unbeholfen in den aufwendigen Kulissen agieren, dass sie, überwältigt vom emotionalen Überbau des Unterfangens, in der Inszenierung untergehen.

Die gegenwärtige amerikanische Republik, heißt es zu Beginn, sei mit dem alten Rom vergleichbar. Der Schauplatz ist eine Art retrofuturistisches New York. Einer der einflussreichsten Player in der Stadt ist Cesar Catalina (Adam Driver), ein visionärer Architekt, der mit seinen kreativen Ideen die Welt retten und nach den eigenen Vorstellungen gestalten will. Seine neueste Erfindung ist ein innovativer Baustoff, der auf wundersame Weise stark und formbar ist. Gleichzeitig besitzt der charismatische Entrepreneur geheime Kräfte, mit denen er die Zeit stoppen kann.

Als sich Catalina in Julia (Nathalie Emmanuel), die Tochter des ihm feindlich gegenüberstehenden Bürgermeisters Cicero (Giancarlo Esposito) verliebt, entspinnt sich ein Montague-Capulet ähnlicher Konflikt, der überbordende wie tragische Dimensionen annimmt. Daneben geht der alternde Bankier Hamilton Crassus III (Jon Voight) eine verhängnisvolle Affäre mit der sensationsgeilen Fernsehmoderatorin Wow Platinum (Aubrey Plaza) ein, während sein Enkel Clodio Pulcher (Shia LaBeouf) eigene korrupte Ziele verfolgt.

Alles bedeutet alles in diesem Film und wiegt zugleich nichts. Jeder Dialog ist mit Bedeutung aufgeladen, erweist sich jedoch immer öfter als geschwülstige Plauderei. Die irre Geschichte verliert sich in der Opulenz der Bilder. MEGALOPOLIS ist voller Widersprüche und überladen mit Erwartungen an sich selbst. Coppola will zu viel und er bezahlt dafür. Dennoch, und das ist das Sympathische, ist ihm zugleich ein Film gelungen, der in seiner Anmaßung auf seltsame Weise berührt.

KINDS OF KINDNESS

Veröffentlicht am 19.5.2024

Yorgos Lanthimos nutzt die Gunst der Stunde - und Emma Stone zieht mit. Der Erfolg von POOR THINGS (2023), für den die britische Schauspielerin unlängst einen Oscar gewann, hängt noch in der Luft, da legt der griechische Regisseur bereits seinen nächsten Film vor. Stone spielt darin ebenfalls eine zentrale Rolle, wenn auch nicht gleich. Zunächst macht Lanthimos die Bühne frei für Jesse Plemons, der selten furchtloser und überzeugender aufgetreten ist als hier.

KINDS OF KINDNESS ist ein verschachteltes Triptychon, drei Filmchen in einem, mit den gleichen Darsteller*innen, der gleichen verqueren Dynamik, dem gleichen Anspruch an Verstörung und Absurdität. Drei Geschichten, in denen es um Macht und Egoismus, Verblendung und Verzweiflung geht. Nur die Namen der Protagonist*innen variieren und wie die Figuren im Einzelnen zueinander stehen.

In der ersten Episode verkörpert Plemons den Geschäftsmann Robert, der mit seiner Frau Sarah (Hong Chau) eine glückliche Ehe führt. Alles, was er hat, verdankt Robert seinem Chef Raymond (Willem Dafoe), der das Leben seines Angestellten bis ins kleinste Detail (Essen, Cocktails, Sex) kontrolliert. Pflichtbewusst fügt sich Robert der intimen Tyrannei, bis sein Boss von ihm verlangt, dass er einen Mord begeht. In dem Moment fällt seine komplette Existenz wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und an seine Stelle tritt Rita (Stone), die Raymonds neue willige Untertanin wird. Auch die anderen beiden Geschichten kippen vom Harmlosen ins Groteske, Makabre, Schamlose, ehe man sich versieht: Ein Polizist ist beunruhigt, weil er vermutet, dass seine Frau, eine Meeresbiologin, durch ein Double ersetzt wurde. Zwei Sektenmitglieder suchen nach einer jungen Frau, die angeblich Tote zum Leben erwecken kann.

Ein Teil der unheimlichen Faszination, die von Lanthimos' Film ausgeht, besteht darin, dass sich in den einzelnen erzählerischen Variationen nicht nur die Schauspieler*innen wiederholen, sondern hinter dem Horror des Alltäglichen auch bestimmte Muster und Motive unmissverständlich hervortreten. Lanthimos führt mit bisweilen drastischen Mitteln vor Augen, wie sehr die Umstände das Leben bestimmen, oder wie Menschen Gefangene der eigenen Wahrheiten und Wahnvorstellungen sind. Dabei geht er diesmal vielleicht weniger feinsinnig und in sich stimmig vor, aber mit der gleichen ungenierten Freude am Übermaß und am unmoralischen Intrigenspiel.

OH, CANADA

Zum ersten Mal stand Richard Gere für Paul Schrader 1980 vor der Kamera, damals als der titelgebende AMERICAN GIGOLO. Für ihre zweite Zusammenarbeit fast 25 Jahre später hat sich der Regisseur den Roman «Foregone» von Russell Banks aus dem Jahr 2021 zur Vorlage genommen, dessen Geschichte sich um einen alternden Regisseur dreht, der im Alter nach Versöhnung sucht.

Gere spielt Leonard Fife, einen bedeutenden amerikanischen Dokumentarfilmer, der in den 1970er Jahren nach Kanada ging, um in seiner Heimat der Einberufung zum Militär zu entgehen. Einst ein idealistischer junger Typ (in den Rückblenden gespielt von Jacob Elordi), hat sich über die Jahrzehnte in ihm viel Wut und Reue aufgestaut. Am Lebensende angekommen sucht er nun nach Absolution. Dabei helfen soll ein arrangiertes Interview, in dem Leonard versucht, bestimmte Ereignisse und Entscheidungen, die er einst traf, zu rekapitulieren und gegenüber seiner anwesenden, stets aufopferungsvollen Frau (Uma Thurman) richtigzustellen.

Wie so viele von Schraders Figuren hat Leonard unzählige Sünden, die er zu beichten gewillt ist. Doch sein Vorhaben gestaltet sich ebenso schwierig wie die Inszenierung. Angesichts der zahlreichen Sprünge in die Vergangenheit verliert sich der Film in einer verwirrenden Logik mit widersprüchlichen Zeitlinien, einem unausgeglichenen Tempo und wenig Entwicklung, weder im Hinblick auf die Figuren noch auf den Plot. Vielmehr kommt OH, CANADA einer Meditation über die Unmöglichkeit der Sühne und Vergebung gleich, die mit fortschreitender Laufzeit immer deutlicher ihre zum Scheitern verurteilte Prämisse offenbart.

Veröffentlicht am 19.05.2024

EMILIA PÉREZ

Es gibt Film, dessen bloße Existenz wie ein Wunder erscheint. Jacques Audiards EMILIA PÉREZ ist ein gutes Beispiel: Mit seinem Telenova-Plot, der Musik, den einstudierten Choreografien, dazu all die Klischees und der Kitsch, kann dieser Film, ja, dürfte er gar nicht funktionieren. Doch allen Gegenargumenten zum Trotz, ist Audiard vielleicht der originellsten und unterhaltsamsten Filme dieses Kinojahres gelungen. Wie das?

Die Frage klärt sich, sobald man im Kraftzentrum der Titelfigur gefangen ist. Denn der französische Regisseur hat sein emotional aufgeladenes Musical-Melodram über Gewalt und Geschlechterfragen in Mexiko um eine Heldin konstruiert, die mit ihrer Resilienz und entwaffnenden Herzlichkeit auch noch den letzten ungläubigen Zuschauer in die Knie zwingt, der je am Gelingen dieser kühnen Prämisse gezweifelt hat.

Emilias Auftritt lässt jedoch auf sich warten. Zunächst rückt der Regisseur, der auch am Drehbuch beteiligt war, die mexikanische Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) in den Mittelpunkt. Mit ihrem Ehrgeiz und Talent für aussichtslose Fälle hat sie sich in eine große Kanzlei hochgearbeitet, die insbesondere unter den einheimischen Mafiosis und Gangstern als sichere Anlaufstelle gilt. Richtig wohl fühlt sich Rita in ihrem viel zu schlecht bezahlten Job nicht, als ihr ein besonderes lukrativer Auftrag angeboten wird: Der skrupellose Kartellchef Juan «Manitas» Del Monte (Karla Sofía Gascón) will aus dem Drogengeschäft aussteigen und braucht Hilfe bei seinem spektakulären Vorhaben. Mittels einer Geschlechtsumwandlung will ihr Klient nicht nur dem Gesetz entkommen, sondern ein völlig neues Leben als Frau beginnen. Seine Familie soll in der Schweiz in Sicherheit gebracht werden, während Manitas sich eine neue Identität als besagte Emilia Pérez zulegt.

Vier Jahre später treffen sich Rita und Emilia in London wieder. Letztere vermisst ihre zurückgelassene Frau Jessi (Selina Gomez) und die beiden gemeinsamen Kinder, ein neuer Plan muss her. Rita soll dafür sorgen, dass die Familie wieder in die alte Heimat übersiedelt und zu ihrer angeblich entfremdeten Tante in eine stattliche Villa zieht. Anschließend engagiert Emilia die Anwältin gleich noch für ihr nächstes ehrgeiziges Projekt. Sie hat eine Organisation gegründet, die Tausende von Mexikanern dabei unterstützt, nach den Überresten ihrer von den Drogenkartellen ermordeten Angehörigen zu suchen. Immerhin weiß sie, wo die Leichen begraben sind, im wörtlichen Sinn.

Audiard will in seinem «Trans-Gangster»-Musical verschiedene Geschlechterstereotypen untersuchen, insbesondere auf die Wechselwirkung von einer männlichen hin zu einer weibliche Perspektive kommt es ihm an. «Den eigenen Körper zu verändern, bedeutet, die Gesellschaft zu verändern», singt Rita einmal. Was zunächst als Opern-Aufführung geplant war, nahm bald immer deutlichere Züge als filmisches Projekt an. Schließlich engagierte der Regisseur das französische Songwriter-Duo Clément Ducol und Camille Dalmais, die mit einer Mischung aus Sprechgesang, Powerballaden im Chanson-Stil und kraftvollen Hip-Hop-Einlagen einen sich langsam steigernden Schwung in die Handlung bringen.
Audiard selbst, der seit den 2000er Jahren mit Filmen wie THE BEAT THAT MY HEART SKIPPED oder dem Gefängnisthriller A PROPHET immer wieder das französische Kino aufrüttelt, war nie an einem Musikfilm interessiert. Nach seinem englischsprachigen Debüt mit dem Neo-Western THE SISTERS BROTHERS ist dies nun sein erster Spielfilm auf Spanisch und vielleicht die bisher schönste Abwegigkeit in seinem Schaffen insgesamt.

Veröffentlicht am 20.05.2024

BLACK DOG

Der Titel ist zunächst irreführend: Nicht ein Hund, ein ganzes Rudel ist das Problem. Die Olympischen Spiele 2008 stehen vor der Tür, und China will sich allerorts von seiner bestem Seite zeigen. Doch in heruntergewirtschafteten Industriestadt am Rande der Wüste Gobi im Norden des Landes, streunen zu viele räudige Vierbeiner herum.

Wild sind diese Kläffer, haben Tollwut oder Schlimmeres. Seit die meisten Menschen die trostlose Gegend verlassen haben, herrschen sie über das dürre Land. Ein Einfangdienst soll nun der Plage ein Ende bereiten. Für das gefährlichste Tier, einen schwarzen Whippet, haben die Behörden sogar eine stattliche Belohnung ausgesetzt.

Auch Lang (Eddie Peng) heuert in seiner alten Heimat als Hundefänger an. Gerade wurde er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen und braucht eine anständigen. Aber schon bald muss er feststellen, dass sich hinter dem Geschäft ein korrupter Schwindel verbirgt: Neben den Streunern sammeln die Handlanger von Mr. Yao (Jia Zhangke) auch die Haustiere der wenigen noch verbleibenden Anwohner ein. Auf dem Schwarzmarkt gibt es gutes Geld dafür.

Auf Profit hat es Lang jedoch nicht abgesehen. Anstatt sich die Prämie für den gesuchten schwarzen Rüden auszahlen zu lassen, beschließt er, den hageren Vierbeiner vor dem Tod zu bewahren. Ein paar Anfangsschwierigkeiten machen das Team-Building zuerst noch schwer. Aber langsam entwickelt sich ein tiefer Bund zwischen Mensch und Tier, der ohne große Worte und Gesten auskommt.

Ganz anders hielt es Guan Hu in seinen beiden letzten Werken: THE 800 und dem parallel entstandenen THE SACRIFICE - beides aufwendige Kriegsepen; Prestigeprojekte, die 2020 in China zu großen Kassenschlagern wurden. Dagegen ist von staatlich geförderter Action-Ästhetik ist in BLACK DOG keine Spur.

Guans poetisch-melancholisches Krimidrama imponiert mit einem eindrücklichen Setting und dem Willen zu einer eigensinnigen Bildgestaltung. Visuell bewegt sich der Regisseur zwischen den Konventionen eines klassischen Western und einem düsteren Neo-Noir mit Mut zur Pointe.

Vielleicht der klügste Schachzug Guans ist jedoch die Besetzung von Lang: Der taiwanesische Rom-Com-Star Eddie Peng spielt den Ex-Stuntman als intensiven, rätselhaften Typ, der wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. Das Opfer war ausgerechnet der Neffe des örtlichen Gangsterbosses. Seitdem ist Lang in der Gemeinde gleichermaßen verehrt und gehasst.

In seiner Position am Rande der Gesellschaft ist Lang einerseits ein Antiheld wie ihn das Kino allzu gut kennt. Der taiwanesische Rom-Com-Star Eddie Peng spielt den Ex-Stuntman als intensiven, rätselhaften Typ, der wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. Das Opfer war ausgerechnet der Neffe des örtlichen Gangsterbosses. Seitdem ist Lang in der Gemeinde gleichermaßen verehrt und gehasst.

In seinem Film strebt Guan eine knifflige Mischung aus rauer Wirklichkeit, Witz und emotionaler Katharsis an. BLACK DOG ist neorealistisches Kino mit viel Herz sowie einem feinen Gespür für die Gegebenheiten von Raum und Zeit.

Veröffentlicht am 20.05.2024

THE MARCHING BAND

Musik steht auch im Mittelpunkt von THE MARCHING BAND von Emmanuel Courcol, der hier eine ungeniert tragikomische Wohlfühlgeschichte erzählt: Nachdem der berühmte Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) an Leukämie erkrankt, ist seine einzige Rettung eine schnellstmögliche Knochenmarktransplantation. Doch die Chancen, einen geeigneten Spender zu finden, sind äußerst gering. Alle Hoffnung liegt auf seiner Schwester - bis sich beim DNA-Test herausstellt, dass die beiden nicht blutsverwandt sind.

Dass Thibaut als Kind adoptiert wurde, wirft den begabten Überflieger komplett aus Bahn. Er ist wütend auf seine Eltern. Erst recht, als er von der Existenz seines leiblichen Bruders erfährt: Jimmy (Pierre Lottin) ist nur ein paar Jahre jünger, kein einfacher Typ, aber aufrichtig und loyal. Er lebt in Walincourt, einer Kleinstadt im Norden Frankreichs, wo er als Chef in der Fabrikkantine arbeitet und im örtlichen Blasorchester Posaune spielt.

Auf Thibaults überraschendes Erscheinen reagiert er zuerst mit Ablehnung; am Ende hilft er ihm doch. Die Behandlung scheint anzuschlagen, und auch bei den Brüdern setzt langsam eine Art Heilungsprozess ein. Über ihre wahre Mutter zu reden, fällt Jimmy zwar immer noch schwer - sie war kompliziert und überfordert; deshalb wuchs er ebenfalls bei Pflegeeltern auf. Doch es gibt eine gemeinsame Basis zwischen dem ungleichen Brüderpaar: ihre tiefe Liebe zur Musik.

Mit viel Sympathie für seine Protagonisten stellt Courcol die Welt der kleinen Leute der sogenanntem hohen Kunst gegenüber. Seine liebevolle Inszenierung hat zwar ein paar Ecken und Kanten, setzt jedoch im Kern auf Respekt und Annäherung. In Jimmys Augen hat sein älterer Bruder das große Los gezogen; im Laufe der Handlung lernen beide zu verstehen, wie wenig es braucht, um im Leben glücklich zu sein.

Worauf das Drama hinsteuert, ist die soziale Realität: Für die Arbeiter in der Fabrik wird die Lage immer prekärer, bald nutzt auch der Streik nichts mehr. Doch da hat man längst verstanden, dass es dem Regisseur nicht all sehr um Kapitalismuskritik geht. Ebenso wenig wie um die große Tragödie: Dass Thibault im Hintergrund still und leise weiter mit seiner Krankheit kämpft, ist auch ein Aspekt, der erst am Ende wieder aufgegriffen wird.

(veröffentlicht am 21.05.2024)

THE SUBSTANCE

Dem anwesenden Kritiker-Publikum nach zu urteilen, hat Coralie Fargeats THE SUBSTANCE gute Chancen auf einen der Hauptpreise in diesem Wettbewerb. Bereits während der Vorstellung spürte man die Aufregung im Saal. Demi Moore spielt Elisabeth Sparkle, eine einst beliebte Schauspielerin, die, obwohl in die Jahre gekommen, immerhin noch eine eigene Fitness-Show im Fernsehen moderieren darf. Dann kommt der Schock: Ihr Vertrag soll nicht verlängert werden. Der schleimige Chef (Dennis Quaid) wünscht sich eine Vorturnerin, die vitaler, frischer und aufregender ist. Als der erniedrigte Hollywood-Star daraufhin ein spezielles Produkt entdeckt, das ihr eine Verjüngungskur verspricht, zögert Elisabeth nicht lange. Schon bald tauscht sie regelmäßig die Rollen mit einer perfekteren Version von sich selbst (gespielt von Margaret Qualley), die auch gleich ihren alten Job übernimmt.

Was als beißende Satire auf die herrschenden oberflächlichen Schönheitsideale beginnt, die unsere Kultur den Frauen bis heute aufzwingt, entwickelt sich bald zu einem wahren Body-Horror-Albtraum a la Cronenberg. Dabei hakt der Film munter so ziemlich jedes Klischees ab, was zunächst unterhaltsam ist. Aber Fargeat zieht den grausamen Gag unnötig in die Länge, wiederholt sich und bleibt am Ende mit ihrem Urteil seltsam oberflächlich. Allein Demi Moore ist durchgehend sehenswert, wenn sie abwechselnd entschlossen, verzweifelt und dem Wahnsinn nah agiert.

Die Regisseurin setzt dagegen auf optische Reize: Die Bilder sind von einer klinischen Kälte durchdrungen, egal wie viel Farbe bisweilen in ihnen steckt. Weiße, kahle Räume, Panoramafenster und übergroße Plakatwände runden das Setting ab. Auch die zunächst poppige Musik wird bedrohlicher, quietschender mit jedem Tag, den Elisabeth im Körper ihres jüngeren Ichs verweilt. Das Ganze, man ahnt es, endet buchstäblich im Blutbad, dadurch verspielt der Film auf langer Strecke sein Potential.

(Veröffentlicht am 21.05.2024)

THE SHROUDS

Apropos, Cronenberg. Auch der 81-jährige Kanadier präsentiert in diesem Jahr seinen neuen Film im Wettbewerb. Doch THE SHROUDS wird in dessen Gesamtwerk eher als Fußnote erscheinen. Dem Film fehlt es an Orientierung, Leben und Spannung.

Mit Vincent Cassel und Diane Kruger in den Hauptrollen beginnt das Ganze noch vielversprechend. Ein Geschäftsmann (Cassel) erfindet eine neue Technologie, um den Verlust seiner Frau (Kruger) zu verarbeiten. Das Ergebnis ist ein umstrittenes Produkt namens GraveTech, das den Hinterbliebenen über einen Echtzeit-Video-Feed Einblick auf die verwesenden Leichen ihrer Liebsten verschafft.

Was makaber klingt, entwickelt sich mühsam zu einer unausgegorenen Handlung. Anstatt auf der etablierten düsteren Stimmung aufzubauen, entscheidet sich Cronenberg dafür, eine abgedroschene Verschwörungsgeschichte über Überwachung und Sabotage zu erzählen, mit katastrophalen Ergebnissen für alle Beteiligten. Der Film ist jedoch auch weniger als Verschwörungsthriller als Kammerspiel, wodurch sich THE SHROUDS zudem von Cronenbergs früheren Psychodramen unterscheidet. Und vielleicht fehlt es dem Film auch deshalb an der für seine Werke typischen transformativen Dynamik und Erzählkraft.

Wenn hier noch von Body Horror die Rede sein kann, dann geht es Cronenberg neuerdings eindeutig weniger um den Schrecken verformter oder verwandelter Körper, sondern eher um der Alptraum der Vergänglichkeit – wohlwollend ließe sich das am ehesten so interpretieren, dass sein Film vor allem eine traurige Liebesgeschichte beschreibt.

(Veröffentlicht am 22.05.2024)

ANORA

Mit RED ROCKET setzte Sean Baker 2021 im Wettbewerb von Cannes ein Zeichen. Sein düster-witziges, schonungslos menschliches Porträt eines abgehalfterten Pornostars, der in seine texanische Heimat zurückkehrt, um dort sein spätes Glück zu suchen, wirkte auf den ersten Blick mächtiger, gewollter, in gewisser Weise «dicker aufgetragen» als seine bisherigen Werke. Daran hatte Simon Rex in der Hauptrolle keinen unwesentlichen Anteil. Der Größenwahn seiner Figur war so stark, dass sein Sturz in den Abgrund umso schmerzlicher erschien.

ANORA folgt diesem Trend, die Dinge zu beschleunigen, aufzutürmen und trotzdem verliert Baker auch hier sein ultimatives Ziel nicht aus dem Auge, nämlich immer das Menschliche im Absurden zu suchen, worauf er sich so gut versteht. Sein neues Drama ist eine turbulente, publikumswirksame Achterbahnfahrt über eine junge Striptänzerin in New York und einen ihr zu Füßen liegenden russischen Oligarchen-Sohn.

Kein Wunder, denn Anora (Mikey Madison), die lieber Ani genannt wird, ist verdammt gut in ihrem Job - strahlend, selbstbeherrscht und schlagfertig. Nicht nur durchschaut sie ihre Kunden sofort, sondern versteht es brillant, ihnen das Gefühl zu geben, in ihrer Gesellschaft perfekt aufgehoben zu sein. Zudem spricht sie fließend Russisch, was sie für Ivan aka Vanya (Mark Eidelstein) im Nachtclub zur perfekten Wahl macht. Der 21-jährige ist ein VIP-Kunde, ein reicher Schnösel, der seine Tage in der elterlichen Villa in Brighton Beach mit endlosen Partys und Videospielen vertrödelt. Dazwischen hat ausgiebigen Sex in Windeseile, bald nur noch mit Ani, für den er gerne bar bezahlt. Vom ersten Tanz an ist er von der jungen Frau verzaubert und wird entsprechend schnell übermütig. Es dauert nicht lange, bis ihre Abmachung von einer gemeinsamen Nacht in seinem Haus bis hin zu einem einwöchigen All-Inclusive-Deal reicht. Ihre gemeinsame Zeit gipfelt in einer spontanen Reise nach Las Vegas und dort kommt es, wie es kommen muss: Als sie nach New York zurückkehren, sind sie nicht mehr Kunde und Escort, sondern Ehemann und Ehefrau – sehr zum Leidwesen von Vanyas Eltern.

Ohne zu viel verraten zu wollen: ANORA ist großes Kino, ein Glücksfall, wie man so schön sagt. Unverschämt unterhaltsam, sexy - und so menschlich, dass es wehtut. Baker hat eine überdrehte Pretty-Woman-Fantasie im Stil einer Screwball-Komödie gezaubert, die von einer chaotischen Energie zu ihrem dramatischen Kern getrieben wird.

(Veröffentlicht am 23.05.2024)

GHOST TRAIL

Etwas Quälendes haftet diesem jungen Mann an. Erkennbar nicht nur in seinem düsteren, schmerzerfüllten Blick, nein, in der ganzen Statur. Ein schweres Trauma sitzt Hamid (Adam Bessa) im verkrampften Nacken, ist sein ständiger Begleiter, auch in Freiheit, genauer gesagt: in Straßburg, wo er jetzt lebt. 2015 ist der ursprünglich aus Aleppo stammende Familienvater durch die syrische Wüste vor dem Assad-Regime geflohen. Das war vor zwei Jahren, mittlerweile sollte er längst in Deutschland sein. Aber Hamid geht es nicht um einen Neuanfang. Seit seine Frau und Tochter tot sind, ist er ein ewig Getriebener, wie besessen allein von einer Mission: den Mann zu finden, der ihn und unzählige Mitinsassen im berüchtigten Sednaya-Gefängnis auf brutalste Weise gefoltert hat.

Um seinem Ziel näher zu kommen, hat Hamid sich einem geheim agierenden Netzwerk syrischer Flüchtlinge angeschlossen, das den schlimmsten Kriegsverbrechern der Diktatur auf der Spur ist. Seine Mutter, die in einem libyschen Flüchtlingslager ausharrt, ahnt von all dem nichts. Auch den französischen Behörden erzählt Hamid, was nötig ist, damit er nicht abgeschoben wird. Denn schon bald glaubt er, seinen Peiniger in einem Mann namens Hassan (Tawfeek Barhom) gefunden zu haben. Die Jagd scheint zu Ende - doch was kommt nun?

Mehr als die Frage nach Vergeltung beschäftigt Jonathan Millet, wie genau Hamid seinen Feind und dessen Umgebung wahrnimmt. Schattenjäger ist sowohl ein Film für als auch über die Sinne. Schmerzhaft nah bewegt sich die Kamera an ihrem Protagonisten, dass sie seine Haut, sein Gesicht, seinen Körper beinahe zu streifen scheint. Blicke, Stimmen, selbst die kleinsten Bewegungen wirken aufgeladen mit einer subtilen Form von Energie, die zugleich fesselt und irritiert.

Der Regisseur, geschult am Dokumentarfilm, hat vor langer Zeit selbst in Aleppo gelebt. Damals hatte der Krieg zwar noch nicht begonnen, aber seine anhaltenden Freundschaften haben Millet sensibilisiert für die Erfahrungen von Migranten aus Krisengebieten, darin liegt sein Interesse. Dass jetzt mit dem Umsturz in Syrien am 8. Dezember eine neue Ära in Syrien anbricht, macht seinen Film, der auf wahren Begebenheiten beruht, nicht weniger dringlich. Im Gegenteil. Es verschafft ihm in der aktuellen Rückführungsdebatte einen umso höheren Aktualitätsgrad.

Wesentlichen Anteil daran trägt Adam Bessa, der Hamid in jeder Einstellung die Körperhaltung und Besessenheit eines einsamen Wolfes verleiht. In ihm steckt ein Mann, der so sehr von der Vergangenheit verfolgt wird, dass für ihn keine Hoffnung auf eine Zukunft in Würde möglich scheint. Egal wo, egal wie, egal wann.
(Veröffentlicht am 24.5.2024)

THE COUNT OF MONTE CHRISTO

Im Jahr 1815, nach der Niederlage Napoleons, überschlagen sich in Marseille die Ereignisse: Der junge Schiffsoffizier Edmond Dantès (Pierre Niney) wird nach einer kühnen Heldentat zum Kapitän ernannt und kann nun endlich seine geliebte Mercédès (Anaïs Demoustier) heiraten. Doch mit dem unerwarteten sozialen Aufstieg hat er sich auch Feinde gemacht. Am Tag der Trauung wird er zum Opfer eines Komplotts, das ihn für immer hinter Gitter bringen soll.

In einem Kerker auf der Teufelsinsel Chateau d’If kommt das Leben des drahtigen jungen Mannes vorerst zum Stillstand, viele Jahre vergehen. Zeit genug, um sich von seinem gelehrten Mitinsassen Abbé Faria (Pierfrancesco Favino) in allen Künsten unterrichten zu lassen. Außerdem teilt der weise Greis ein Geheimnis mit ihm, das Dantès nach einer waghalsigen Flucht zu unermesslichem Reichtum verhilft. Mitte der 1830er Jahre kehrt er als gestandener Aristokrat in seine Heimat zurück, um jene drei Männer zu Fall zu bringen, die ihn einst um sein Glück gebracht haben. Er will Vergeltung - und er hat einen Plan.

Im Vergleich zu Gérard Depardieus finsterem Rächer in der französischen TV-Miniserie von 1998 erscheint Pierre Niney als titelgebender Graf geradezu ein Leichtgewicht. Vor zehn Jahren wurde der 1989 geborene Schauspieler in der Rolle des fragilen Modeschöpfers Yves Saint Laurent im Kino bekannt. Aber auch die verschiedenen Masken und der schwarze Umhang des von Alexandre Dumas' geschaffenen Abenteuerhelden stehen ihm gut. Nineys schlanke, kantige Statur und sein sensibler, durchdringender Blick verleihen der Figur bei aller Unberechenbarkeit und dem düsterem Kalkül gleichzeitig eine tiefe innere Verletzlichkeit und Melancholie.

Von dem Moment an, wo Dantès sich als Graf von Monte Christo ausgibt, gewinnt auch diese jüngste Neuverfilmung des beliebten Klassikers unter der Regie von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière wieder an Fahrt. Ähnlich wie bei dem Zweiteiler THE THREE MUSKETEERS: PART I: D'ARTAGNAN von 2023, für das sie das Drehbuch lieferten, ist auch diese Dumas-Adaption von dem Ehrgeiz getrieben, dem gegenwärtigen Superhelden-Overkill auf der Leinwand kontra zu bieten, mit einer klassischen Abenteuergeschichte, inszeniert mit Verve und im großen Stil. Je akribischer sich Dantès in die Details seines Plans stürzt, desto weniger Zeit bleibt, den ganzen Wahnsinn seines gefährlichen Vorhabens zu hinterfragen oder gar den zahlreichen Abweichungen vom Original nachzugehen. Am besten man versucht es erst gar nicht, sondern stürzt sich kopfüber hinein in dieses aufwendig ausstaffierte Historienspektakel. Manchmal tut solide Unterhaltung wie diese in Zeiten des Chaos ganz gut.

(Veröffentlicht am 24.05.2024)

THE SEED OF THE SACRED FIG

Allein die Tatsache, dass Mohammad Rasoulof einen neuen Film gedreht hat, ist ein Wunder. Selbst wenn das Werk schlecht wäre, was es nicht ist. Der iranische Regisseur ist in seiner Heimat mehrfach zu Haftstrafen und Hausarrest verurteilt worden. Im April wurde ihm erneut der Prozess gemacht. Die Folge: Weitere acht Jahre Gefängnis mit Auspeitschungen, dazu eine Geldbuße und die Beschlagnahmung seines Eigentums.

Es macht keinen großen Unterschied, diese Hintergründe zu kennen. THE SEED OF THE SACRED FIG ist kein Film, der die fast unmöglichen Umstände seiner Entstehung nach außen trägt. Im Gegenteil. Aber es erklärt zumindest ein Stück weit die Unbedingtheit und, ja, auch Radikalität, die sich in diesem dichten, familiären Politthriller vom Regisseur unmittelbar auf seine Figuren überträgt.

Iman (Missagh Zareh) ist gerade zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran befördert worden, als der Tod einer kurdischen Studentin in iranischem Polizeigewahrsam eine Protestwelle im Land auslöst. Der strenggläubig Staatsdiener ist selbst Vater zweier bald erwachsener Töchter (Setareh Malek und Mahsa Rostami). Doch die Brutalität und Unterdrückung im eigenen Land will er nicht sehen. Lieber steht er sicher auf der Seite des Regimes.

Allerdings stellt ihn der neue Job auf eine harte Probe: Im Zuge der andauernden Demonstrationen wird von Iman erwartet, Todesurteile abzusegnen, ohne die Beweislage zu kennen, das setzt ihn unter Druck. Derweil versuchen seine Frau Najmeh (Soheila Golestani) und ihre beiden Kinder heimlich einer jungen Frau zu helfen, die bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen auf der Straße im Gesicht verletzt wurde. Aber damit nicht genug: Als gleichzeitig Imans Dienstwaffe aus dem Nachtschrank verschwindet, die er zum Selbstschutz erhalten hat, gerät das belastete familiäre Gefüge vollends ins Wanken - und Imans Panik und Paranoia sickern immer tiefer in die langsam eskalierende Struktur des Films selbst ein.

Rasoulof nutzt in seiner packenden Erzählung alle künstlerischen Mittel, um mit ganzer Wucht und Wut gegen das autoritäre System und dessen patriarchalen Wurzeln anzugehen. Vorangetrieben von einer klug verschlüsselten, episch angelegten Bildsprache steuert THE SEED OF THE SACRED FIG unmissverständlich auf ein erschreckendes Ende zu. Beim Zuschauen stockt einem da schon mal der Atem. Der Effekt wirkt lange nach.

(Veröffentlicht am 25.05.2024)

Pamela Jahn