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Feature, News

Bericht aus Cannes

Neues von den Filmfestspielen 2022

Unsere Autorin Pamela Jahn berichtet für uns im Live-Blog von den Internationalen Filmfestspielen in Cannes, die in diesem Jahr vom 17. - 28. Mai 2022 stattfinden. Weitere Information zum Programm finden sich unter https://www.festival-cannes.com/en/

CLOSE

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: CLOSE ist der geheime Gewinner dieses 75. Cannes-Wettbewerbs. Zwar hat es am Ende offiziell «nur» für den großen Preis der Jury gereicht, und Lukas Dhont muss sich die Auszeichnung obendrein mit Claire Denis teilen. Der immensen Wirkung des Werks tut das jedoch keinen Abbruch. Sein Film ist einer von der Sorte, die ihre Zuschauer fesseln, ohne jemals überdramatisch zu sein. Ein Film, dessen leisen Wucht so gewaltig ist, dass es einem förmlich den Atem verschlägt.

Die Handlung konzentriert sich zunächst ganz auf die innige Freundschaft zwischen Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele), zwei dreizehnjährigen Jungen, deren Bündnis an Brüderlichkeit grenzt und eine unschuldige, platonische Verliebtheit offenbart. Sie sind sich nah, emotional und körperlich, und das war bisher einfach nie ein Problem. Doch als die beiden Jungen zusammen in eine neue Klasse kommen und ein paar Mitschülerinnen ihr Verhältnis zueinander in Frage stellen, zieht Léo sich rasch zurück, aus Angst vor weiterem Spott. Anstatt die Pausen wie gewohnt mit Remi zu verbringen, gesellt er sich zu den anderen Kindern, spielt Fußball und Eishockey und beginnt, Remi zu meiden.

Für den sensiblen Freund bricht damit ein Welt zusammen, in der er sich allein nicht mehr zurecht zu finden scheint – und als er einen Schulausflug versäumt, ahnt man, das bald etwas Schlimmes passieren muss. Es ist der Moment, in dem CLOSE eine Hundertachtziggradwendung macht und sich dem zuwendet, was nach der Tragödie kommt. Dabei erscheint Léo weiterhin wie jedes andere Kind: Er hat neue Freunde, arbeitet für seine Eltern auf den Blumenfeldern und tut so, als hätte er seine Gefühle fest im Griff. Was bleibt, ist der Verlust der kindlichen Unschuld auf grausamste und abrupteste Weise.

Den Durchbruch schaffte Lukas Dhont bereits mit seinem Debüt, dem bemerkenswerten Transgender-Drama GIRL aus dem Jahr 2019. Und auch in seinem zweiten Spielfilm bleibt der Regisseur stets ganz nah bei den Figuren. Sein Kameramann Frank van den Eeden füllt die Bilder mit den Gesichtern der Freunde, die kaum Worte brauchen, um alles zu sagen. Wir werden Zeuge jede Geste, nehmen den Hauch jeder Emotion wahr, selbst wenn sie selbst noch nicht wissen, was genau sie gerade fühlen. Die Jahreszeiten ändern sich und die Welt dreht sich weiter, bis es nicht mehr geht.

Formal recht schlicht, aber klug und wunderschön gefilmt, geht der Regisseur mit CLOSE gefühlsmäßig einen brisanten Drahtseilakt ein, und dass der Versuch nicht scheitert, verdankt er in erster Linie seinen beiden Hauptdarstellern sowie der reifen Schlussfolgerung am Ende der Geschichte. Dhont respektiert die Befindlichkeiten, Stärken und Schwächen von Kindern in jedem Augenblick und schafft so, ohne jede Ambition, das Kino neu zu erfinden, einen ganz besonderen Film.
(Veröffentlicht am 29.5.2022)

JOYLAND

JOYLAND ist der erste pakistanische Film, der in Cannes gezeigt wird, aber das ist nicht das Besondere an Saim Sadiqs Regiedebüt. Auch die Tatsache, dass er eine Transgender-Frau in einer islamischen Republik zeigt, ist im Nachhinein wenig erstaunlich. Es ist vielmehr die ungeheure Kraft, mit der dieses zarte Erstlingswerk von der Leinwand strahlt, die einen noch lange nach dem Kinobesuch in ihrem Bann hält.

Will man die Handlung unbedingt auf ein paar Sätze reduzieren, untersucht der Film die zerstörerische Gewalt des Patriarchats in einer pakistanischen Familie, die in der Stadt Lahore lebt . Die Geschichte konzentriert sich auf Haider (Ali Junejo), einen seiner Söhne, der eine arrangierte Ehe mit Mumtaz (Rasti Farooq) führt. Die Familie möchte, dass sie ein Baby bekommt, aber sie zieht die Arbeit einem Leben als Hausfrau und Mutter vor. Haider ist das Gegenteil. Er kocht, putzt und kümmert sich rührend um seine drei Nichten. Sein älterer Bruder Kaleem (Sohail Sameer) und dessen Frau Nucchi (Sarwat Gilani) erwarten bald ihr viertes Kind und alle hoffen, dass es diesmal ein Junge sein wird, um den Familiennamen zu wahren.

Als Haider ein ungewöhnliches Jobangebot erhält, nutzt er die Chance, wenn auch nicht ohne Konsequenzen für den Rest der Großfamilie. Haiders Freund hat ihm ein Vorsprechen als Background-Tänzer in einem Erotiktheater gesichert. Er ist kein Naturtalent, aber seine schüchterne Art zieht die Aufmerksamkeit der Trans-Fashionista Biba (Khan) auf sich, die ihn ebenfalls fasziniert. Er wird eingestellt, sagt jedoch seiner Familie, dass er als Theatermanager arbeitet.

Sadiq erzählt eine wunderbare Geschichte zwischen Schein und Sein in einem Film, der voller Mitgefühl ist für seine Figuren. Die Zuneigung zwischen Haider und Biba wächst langsam, wenn sie sich im nächtlichen Schatten oder im glänzenden blutroten Schein der Backstage-Beleuchtung begegnen. Aber auch das Verhältnis zwischen Haider und Mumtaz ist von Zuneigung und Respekt geprägt. Sie sind beste Freunde, die in einer Ehe feststecken, die keiner von ihnen wolle. Bibas ständiger Kampf gegen die Ignoranz und Beleidigungen anderer in Verbindung mit Haiders Selbstfindungsprozess, lässt Raum für subtile soziale Kommentare, die niemals aufdringlich wirken. Nur soviel steht fest: Die Freiheit hat in JOYLAND einen hohen Preis, insbesondere (und zwangsläufig) für die Frauen, aber Sadiqs hinreißender, nachdenklicher Film ist sich der Opfer und der noch bevorstehenden Kämpfe voll und ganz bewusst.

(Veröffentlicht am 28.5.2022)

SMOKING CAUSES COUGHING

Man muss es gesehen haben, um es zu glauben: Benzol, Nikotin, Ammoniak, Quecksilber und Methanol bilden gemeinsam die «Tobacco Force», eine seltsame Truppe von Kriegern gegen das Böse, die ihre Gegner buchstäblich ausräuchern und sie mit Krebsviren töten. Auch ihre Widersacher sind nicht weniger skurril. Als wir die Power-Rangers in ihren siebziger Jahre Retro-Kampfanzügen kennenlernen, sind sie gerade damit beschäftigt, eine gemeine Riesenschildkröte aus Gummi zum Platzen bringen.

Als der Auftrag erledigt ist, melden sie sich bei ihrem Boss, einer schleimsabbernden Ratte mit rätselhaftem Sex-Appeal, der den Einsatz zwar schätz, aber gleichzeitig den Teamgeist der Gruppe untereinander bemängelt. Der Aufenthalt in einem abgelegenen Waldresort am See soll dazu beitragen, dass die Superhelden zukünftig wieder besser zusammenhalten. Allerdings kommen sie sich schon beim Erzählen von Lagerfeuergeschichten gegenseitig derart ins Gehege, dass eine Änderung der Lage kaum in Sicht ist, bis Chef Didier sein Sonderkommando damit beauftragt, die Welt vor einem intergalaktischen Echsenmenschen zu retten.

Wenn man sich jetzt fragt, wer sich so etwas ausdenkt, dann kann die Antwort eigentlich nur lauten: Quentin Dupieux. Der französische Autorenfilmer ist in Festivalkreisen längst bestens bekannt für seine schrägen Gesellschaftskommentare. Im Februar zeigte die Berlinale den Vorgänger, INCREDIBLE BUT TRUE, eine düstere Satire über menschliche Obsessionen im Rahmen einer Spezialvorführung. In Cannes wird sein neuester Streich SMOKING CAUSES COUGHING als Midnight Screening uraufgeführt.

Die kleinen Geschichten, die sich die Tobacco Force-Avengers beim nächtlichen Beisammensein gegenseitig anvertrauen, sind amüsant, aber sie wollen sich nicht recht einfügen in den Film. Mitunter stören sie die Superhelden-Dynamik sogar gewaltig. Abgesehen von einem selbstmörderischen Roboter und einem sprechenden Fisch, der in einer Pfanne brät, offenbart die 80minütige Groteske nur wenige nachhaltige Pointen. Obwohl Smoking Causes Coughing ein perfekt kurzweiliger Film ist, um sich die Zeit zu vertreiben, fehlt ihm die unwiderstehliche Kombination aus Skurrilem und Absurdem, Alltäglichem und Extremen, die den Arbeiten von Dupieux sonst eingeschrieben ist.

(Veröffentlicht am 26.5.2022)

MOONAGE DAYDREAM

Als Rockstar war er der Größte. Auf der Bühne lebte er sich aus - rastlos, rückhaltlos. Hier durfte er alles sein und alles spielen, mit anderen Identitäten flirten und sämtliche Grenzen überschreiten. Denn David Bowie war einer wie keiner: ein endlos kreativer Schöpfer, der die Fähigkeit besaß, sich selbst als künstlerische Figur fortwährend neu zu erfinden. Der nicht nur musikalisch seine
Wandelbarkeit zelebrierte, sondern obendrein schauspielern konnte, und der trotzdem immer auf dem Boden der Tatsachen und ganz und gar sich selbst treu blieb.

Am 10. Januar 2016 verließ Bowie viel zu früh diese Welt. Und wenn man sich Brett Morgens neuen Dokumentarfilm über den Sänger MOONAGE DAYDREAM anschaut, wird das Ausmaß des enormen Verlustes, den sein Tod nach noch greifbarer. Mit Zugang zu Bowies eigenen Archiven und bisher unveröffentlichtem Material von Live-Auftritten und Interviewmitschnitten ist die Dokumentation eine wunderbare Fundgrube für Fans und vielleicht die schönste Hommagen, die man den Ausnahmekünstler bisher gewidmet hat. Denn nicht nur die Musik steht im Vordergrund von Morgens Film, sondern vor allem auch der Mensch hinter dem Genie.

Animationen und Collagen sowie Film- und Videoschnipsel veranschaulichen Bowies Einflüsse und den Kontext, in dem er arbeitete. In frühen Abschnitten sehen wir Bowie, wie er eigenen Aussagen zufolge als Glam-Rock-Pionier das "20. Jahrhundert in Gang zu bringen" versuchte. Aber er war eben nicht nur Sänger und Musiker. Er war ein Künstler, ein Schauspieler – sowohl am Broadway als auch in einer Reihe von Kultfilmen. Sein Interesse an Theater und Tanz beeinflusste seine Live-Shows sowie die vielen Persönlichkeiten - von Ziggy bis Aladdin Sane - die er in diesem Zusammenhang entwickelte. Morgen zeigt ihn als einen Mann, der stets auf der Suche war nach sich selbst, und der durch Philosophie und ein mutiges Engagement für die Kunst seine Weisheit fand.

Biografische Einzelheiten werden nur flüchtig nebenbei erwähnt. Bowies Ehen und Sexkapaden werden weitgehend ignoriert, mit Ausnahme der Liebe seines Lebens: Iman. Auch die Drogen werden als selbstverständlich angesehen. Es scheint, als wollte der Regisseur auch postum unbedingt die Privatsphäre des Starman respektieren. Was bleibt, sind die Musik, das Phänomen und die Gewissheit, dass unsere Welt ohne einen wie ihn zunehmend düsterer, bedrohlicher und fragwürdiger zu werden scheint.
(Veröffentlicht am 25.5.2022)

HOLY SPIDER

Vor drei Jahren gewann der in Dänemark lebende Iraner Ali Abbasi mit seinem herrlich skurrilen Film BORDER den Hauptpreis in der Sektion Un Certain Regard. Damals gelang es ihm, eine seltsam wirksame Mischung aus Fantasy, skandinavischem Krimi und Romanze in einem seltsamen Märchen für die Außenseiter dieser Welt zu vereinen. Sein neuer Film ist realitätsnaher, aber nicht weniger gewagt. HOLY SPIDER basiert auf wahren Begebenheiten und handelt von einer iranischen Journalistin, die einem Serienmörder auf der Spur ist, der in der heiligen Stadt Mashhad Sexarbeiterinnen erwürgt, um die in seinen Augen "korrupten" Frauen aus der Gesellschaft zu eliminieren.

Auf den ersten Blick zeigt der Film alle Merkmale eines klassischen Crime-Thrillers, der nicht vor expliziter Gewalt und auch nicht vor freizügigen Szenen zurückschreckt, was möglich ist, weil HOLY SPIDER eine dänisch-deutsche Produktion mit mehreren europäischen Koproduzenten ist und in Jordanien gedreht wurde.
Das tatsächlich Verblüffende an Abbasis drittem Spielfilm ist jedoch, dass nach mehreren Werken, die sich unlängst mit der Todesstrafe im Iran auseinandersetzten, dieser Film sein Publikum geradezu dazu verleitet, verzweifelt zu wollen, dass die Hauptfigur am Ende gehängt wird.

Inspiriert wurde der Regisseur von Maziar Baharis Dokumentarfilm AND ALONG CAME A SPIDER aus dem Jahr 2002, der kurz nach den realen Morden veröffentlicht wurde. Aber das Drehbuch von Abbasi und Afshin Kamran Bahrami fügt den Tatsachen wichtige fiktive Figuren und Elemente hinzu, die auf der Leinwand Charakterstärke und zunehmende Spannung garantieren. Vor allem Zar Amir Ebrahimi als leidenschaftlich engagierte Journalistin, die sowohl die Morde untersucht als auch die Mängel bei den polizeilichen Ermittlungen hinterfragt, trägt diesen Film, der viel zu sagen hat über den herrschenden Sexismus und Frauenhass im Iran. Aber auch Mehdi Bajestani als Saeed, ein Maurer und Familienvater, der aus Überzeugung und mit wachsamer Entschlossenheit zum Mörder wird, bringt viel Tiefe und Einsicht mit ins Spiel, um die Banalität des Bösen auf eine Weise zu vermitteln, die unter die Haut geht.

Veröffentlicht am 24.5.2022

CRIMES OF THE FUTURE

David Cronenberg drehte CRIMES OF THE FUTURE zum ersten Mal im Jahr 1972. Das Original ist ein verstörendes Body-Horror-Szenario über eine Seuche, die alle geschlechtsreifen Frauen tötet. Der Film war transgressiv und schockierend, was man von der Neuauflage leider nicht behaupten kann, obwohl viele der Themen, die im Remake zur Sprache kommen, die gleichen sind.

Wir befinden uns in der Zukunft, in der sich der menschliche Körper verändert hat. Die Chirurgie ist zu einer Form der Unterhaltung geworden, wobei der Performancekünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) zwei ihrer hochmodernsten Vertreter sind. Saul lässt neue Organe in seinem Körper wachsen, die Caprice anschließend vor Publikum entfernt. Um das enigmatische Paar strickt Cronenberg verschiedene Handlungsstränge, die jedoch allzu oft ins Leere laufen.

In einem heruntergekommenen Büro legt ein heimliches Überwachungsteam unter der Leitung von Timlin (Kristen Stewart) und Wippet (Don McKellar) ein offizielles Organregister an, während eine illegale Untergrund-Rebellengruppe unter der Führung von Lang Dotrice (Scott Speedman) bereits ein neuartiges umweltfreundliches Vergärungssystem entwickelt hat, das sich von Plastikabfällen ernährt. Doppelagenten, Auftragskiller und hartgesottene Detektive kämpfen in dieser düsteren Unterwelt um die Macht, während Saul und Caprice ins Kreuzfeuer geraten.

Leider fehlt dem Film jeder Subtext, und Cronenberg scheint nicht zu merken, dass seine Einfälle von damals heute nicht mehr die gleiche Wirkung erzielen. CRIMES OF THE FUTURE ist dank der erstklassigen Besetzung zwar kein völlig gescheiterter Versuch einer Neubelebung seines eigenen Werks. Aber das Ergebnis ist ein bisweilen lähmender Film und der beste Beweis, dass Star-Power und ein paar bewährte Ideen auch in den erfahrendsten Händen noch lange kein Meisterwerk garantieren.

Veröffentlicht am 24.5.2022

MEN

Alex Garland hat sich bisher vor allem als Sci-Fi-Experte erwiesen. Dass er sich auch in anderen Genres auskennt, beweist er mit seinem neuen Film MEN, der in Cannes in der Nebenreihe Directors' Fortnight gezeigt wird. Darin bewegt sich der gebürtige Londoner gewissermaßen auf heimatlichem Terrain. Denn MEN ist eine Folk-Horror-Pastiche nach bester britischer Tradition, die Garland mit visuellen Tricks und einem extrem spiel- und wandlungsfreudigen Rory Kinnear in die Gegenwart holt, um sich einmal mehr seinem Spezialgebiet zu widmen: der unberechenbaren Dynamik von Geschlechterbeziehungen.

Die Kulisse ist ein abgelegenes, prachtvolles elisabethanisches Herrenhaus im englischen Hertfordshire. Harper (gespielt von der stets hervorragenden Jessie Buckley) ist aufs Land gekommen, um sich von den tragischen Ereignissen zu erholen, die ihr Großstadtleben vor kurzem erschüttert haben. Ihr Trauma hängt mit ihrem Partner (Paapa Essiedu) zusammen, der depressiv, handgreiflich und passiv-aggressiv war. Jetzt will sie nur eins: Ruhe finden, um ihre Seele zu heilen.

Doch auch in der ländlichen Idylle sind ihr die Männer nicht wohlgesonnen: Der Hausherr, von dem Harper die Unterkunft gemietet hat, ist ein seltsamer Kautz, der sie schräg anlächelt, weil sie einen der Äpfel vom Baum im Vorgarten gegessen hat. Bei einem Spaziergang im Wald entdeckt in der Ferne einen nackten Mann, der ihr nach Hause folgt und sie bedroht. Der Polizeibeamte, der den Störenfried schließlich festnimmt, wirkt dabei genauso unsympathisch, der schmallippige Priester am darauffolgenden Tag, der ihr andeutet, dass sie an ihrem Schicksal selbst die Schuld trägt.

Wie zuvor EX MACHINA and ANNIHILATION deutet auch MEN darauf hin, dass es dem Regisseur um die Erkundung tiefgründiger Themen und komplexe Sachverhalte geht, ohne dass er eine feste Aussage darüber zu treffen vermag. Dennoch gelingt es Garland über die gereizte Atmosphäre im Film von häuslicher Gewalt bis hin zu emotionaler Erpressung etliche Taktiken bloßzustellen, die Männer häufig gegen Frauen richten. Zwar geht sein Konzept am Ende nicht ganz auf, weil es zu unausgegoren und die Handlung zu einfach durchschaubar ist. Aber Kinnears chamäleonartiges Spiel und ein paar beeindruckende Spezialeffekte retten den Film zumindest ins annehmbare Mittelmaß.

Veröffentlicht am 23.5.2022

TRIANGLE OF SADNESS

Nach seinem Gewinn der Goldenen Palme für THE SQUARE im Jahr 2017, stellte der schwedische Regisseur Ruben Östlund am Wochenende sein englischsprachiges Debüt TRIANGLE OF SADNESS in Cannes vor. Die bitter-schwarze Satire, nichts anderes hatte man von Östlund erwartet, ist eine Tragödie in drei Akten: Was als flüchtige Kritik an der Modelbranche beginnt, baut sich über einen banalen Beziehungsstreit bald zu einem ausgereiften Demontage-Szenario auf, dass mit Kapitalismuskritik, Rassismus und Klassensystemen ebenso aufräumt wie mit Instagram-Influencern und den allerbesten Manieren.

Im Zentrum der Handlung steht Clark (Harris Dickinson), ein männliches Model, das seine besten und lukrativsten Aufträge bereits hinter sich hat. Seine attraktive Freundin Yaya (Charlbi Dean) dagegen ist immer noch gut im Geschäft und nebenbei als Influencerin überaus erfolgreich. Aus dem Ungleichgewicht zwischen den beiden Schönlingen entwickelt sich eines Abend beim Essen im Restaurant ein heftiger Streit, nachdem Clark wieder einmal die Rechnung alleine begleicht. Anschließend begleiten wir das Model-Paar durch eine konfliktreiche Nacht und alsbald auf eine Kreuzfahrt mit den Superreichen, die Yaya ebenfalls umsonst bekommen hat - im Austausch gegen ein paar Bilder im knappen Bikini auf Deck. Dort tummelt sich außerdem die High-Society am Pool. Man frönt dem schönen Leben, während sich der dauerversoffene Kapitän (Woody Harrelson in Höchstform) in seiner Kabine verschanzt und das Personal sämtlichen Wünschen der Gäste nachzukommen versucht. Die Gruppendynamik an Bord ändert sich mit zunehmendem Seegang jedoch gewaltig. Nachdem das Kapitänsdinner in einer Katastrophe endet, die nichts für schwache Nerven und schon gar nichts für empfindliche Mägen ist, landen die Gäste & Crew unverhofft auf einer einsamen Insel, wo plötzlich jeder für sich ums Überleben kämpfen muss.

Schade, dass TRIANGLE OF SADNESS vor allem an seiner ausschweifenden Laufzeit leidet und Östlund ausgerechnet im finalen Akt seinen Fokus zu verlieren scheint. Dennoch ist sein Film bisher einer der prägendsten und aufregendsten Höhepunkte dieses Wettbewerbs: Ein Mix aus Farce und Tragödie, Blut und Erbrochenem, Champagner und giftiger Satire auf See.

Veröffentlicht am 23.5.22

ONE FINE MORNING

Es ist bezeichnet für diesen 75. Festivaljahrgang in Cannes, dass einige der stärksten Filme in den Nebenreihen laufen, wo es oftmals weniger auf das Starpotential eines Werks ankommt als vielmehr auf Originalität, Tiefe und Scharfblick. Ein gutes Beispiel ist ONE FINE MORNING von Mia Hansen-Løve, in dem Bond-Girl Léa Seydoux die Hauptrolle spielt. Gezeigt wird der Film in der Sektion Directors' Fortnight. Seydoux, derzeit eine der angesagtesten Schauspielerinnen nicht nur des französischen Kinos, ist gleichzeitig auch in David Cronenbergs Wettbewerbsbeitrag CRIMES OF THE FUTURE zu sehen. Aber es ist in erster Linie ihre Präsenz in ONE FINE MORNING, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Vor einem Jahr hatte Hansen-Løve selbst um die Goldene Palme konkurriert, damals mit BERGMAN ISLAND, einem leicht experimentellen und selbstreferenziellen englischsprachigen Liebesbrief an den großen Meister des tragischen Films. Nun ist sie wieder zurück in ihrem üblichen bürgerlich-böhmischen Pariser Milieu, mit einem weitaus konventionelleren Stück Arthouse-Kino, aber nicht weniger Feingefühl.

Gekleidet in T-Shirt und Jeans, mit funktionellem Haarschnitt und ganz ohne Make-up, spielt Seydoux im Film die Übersetzerin Sandra, die eine winzige Wohnung in der Großstadt und ein gewöhnliches Leben mit ihrer kleinen Tochter teilt. Ihr Vater Georg (Pascal Greggory), um den sie sich zwischen verschiedenen Aufträgen kümmert, ist ein Philosophieprofessor im Ruhestand, der zunehmend an Demenz leidet und bald nicht mehr in der Lage ist, selbstständig zu leben. Kurzum müssen Sandra und ihre Großfamilie die schmerzhafte gemeinsame Entscheidung treffen, ihn in ein Pflegeheim zu bringen, mit all dem emotionalen und finanziellen Stress, der damit verbunden ist. Einen Ausgleich verschafft sich Sandra derweil mit Clément (Melvil Poupaud), einem alten Freund und Wissenschaftler, der unglücklich verheirateten ist und mit dem sie ein zärtliches Verhältnis eingeht.

Wie bei den meisten ihrer Arbeiten lassen sich in Hansen-Løves Film auch diesmal hin und wieder poetische Anklänge finden. Das fühlt sich ungewöhnlich leicht an, selbst wenn die Auteurin mit so schweren Themen wie Liebe und Verlust, Leben und Tod jongliert. Es geht um die Trauer um jemanden, der noch am Leben ist, und das Glück einer Romanze, aus der irgendwann Liebe werden könnte. Nicht daran ist neu, keine der Figuren überaus originell, und doch findet die Regisseure Momente der Wahrheit, die unter die Haut gehen. Seine Kraft gewinnt ONE FINE MORNING aus der Traurigkeit in Seydoux' Augen, der Sehnsucht in ihrem Herzen und der Authentizität, mit der sie ihre Figur kreuz und quer durch die Straßen von Paris gleiten lässt.

Veröffentlicht am 22.5.22

THE NIGHT OF THE 12TH / LA NUIT DU 12

Dominik Moll gibt sich in seinem neuen Film erstaunlich direkt. Der deutsch-französische Regisseur ist eigentlich ein Meister des Bizarren, Grotesken und Mysteriösen. Wie er das Absurde in Alltagsgeschichten aus dem Leben einbettet, ist eine Kunst, die er in Filmen wie HARRY, HE'S HERE TO HELP, LEMMING oder ONLY THE ANIMALS immer wieder unter Beweis gestellt hat. Aber Moll kann auch anders, wie in seinem historischer Thriller THE MONK, in dem sich Vincent Cassel im mittelalterlichen Spanien gegenüber dem Teufel behaupten muss. In THE NIGHT OF THE 12TH hat er sich nun eines ungeklärten Kriminalfalls angenommen und damit seinen bisher realistischsten Film gedreht.

Es beginnt mit der nüchternen Erklärung auf der Leinwand, dass dies die Geschichte eines Mordes in Frankreich ist, der wie viele andere nie aufgeklärt werden konnte: Eine junge Frau, die nachts allein nach Hause geht, wird von einem unbekannten Täter mit Benzin übergossen und anschließend in Brand gesteckt. Der Fall fällt in dem Arbeitsgereich einer Polizeiwache in Grenoble im Südosten Frankreichs. Bei den ermittelnden Kriminalbeamten handelt es sich zu einen um den konzentrierten Mittdreißiger Yohan (Bastien Bouillon), der gerade frisch zum neuen Leiter der Kriminaleinheit befördert wurde. Ihm zur Seite steht der 20 Jahre ältere Marceau (Bouli Lanners), der eine eher literarische Neigung hat und dessen bärtiges, gelebtes Gesicht und müdes Auftreten einen scharfen Kontrast zu Yohans gepflegter, sportlicher Erscheinung bilden. Während Yohan Single ist, hat Marceau Probleme mit seiner Frau, die nach jahrelangen Versuchen endlich schwanger ist – aber, wie sich herausstellt, nicht von Marceau.

Aufgrund von Molls deprimierendem Eröffnungsstatement kann er keine traditionelle Thriller- oder Krimi-Erzählung aufbauen, die auf die erfolgreiche Überführung des Täters hinsteuert. Stattdessen taucht der Filmemacher auf andere Weise in den Fall ein. Er untersucht die Atmosphäre auf der Wache und die komplexen Beziehung zwischen Männern und Frauen insgesamt, greift Themen wie Sexismus, Frauenfeindlichkeit und Rollenklischees in der westlichen Gesellschaft auf und macht einmal mehr deutlich wie viel in der Hinsicht immer noch im Argen liegt.
Das Drehbuch, das Moll mit seinem regelmäßigen Kollaborateur Gilles Marchand schrieb, basiert auf Ausschnitten aus dem Buch Une Année à la PJ von Pauline Guéna, in dem sie die Vor- und Nachteile einer Polizeidienststelle in Versailles sowie viele andere Fälle beschreibt, die ihr dort im Laufe eines Jahres begegnet sind. Abgesehen davon, dass Moll seine Handlung in die nicht selten beeindruckende und zugleich bedrückende Alpenregion verlegt, fasziniert an seinem Film vor allem die erstklassige, wunderbar nuancierte Besetzung, während THE NIGHT OF THE 12TH filmisch zwar eher unspektakulär, aber nie undynamisch oder langatmig erscheint.

Veröffentlicht am 21.5.2022

THE STRANGER

Joel Edgerton redet nicht viel, nicht in seinen Film und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Er ist einer dieser No-Nonsense-Typen, bei dem es immer ums Ganze geht, wenn er sich erst mal einem Projekt verschieben hat. In THE STRANGER, einem super düsteren Thriller von Thomas M. Wright, der in der Sektion Un Certain Regard läuft, spielt er diesmal einen wortkargen Undercover-Cop, der sich mit einem Mordverdächtigen anfreundet, um ihm in einer ausgefeilten Polizeiaktion ein Geständnis zu entlocken.

Als wir Henry (Sean Harris), kennenlernen, der vor Jahren einen Jungen entführt und getötet haben soll, trifft er zunächst auf Paul (Steve Mouzakis), einen Neuankömmling in der Stadt, dem er wortkarg, aber hilfsbereit unter die Arme greift. Im Gegenzug bietet Paul ihm an, für seine Organisation zu arbeiten. Die Sache klingt zwielichtig, dennoch nimmt Henry das Angebot zögernd an. In dem Moment kommt Edgertons Mark ins Spiel, der als Gangsterboss auf mittlerer Ebene ein bisschen Schmuggelarbeit im Angebot hat. Unsicher, aber fasziniert von Mark, macht Henry mit - und der Köder ist Haken.

Es ist eine düstere, aber äußerst spannende Prämisse, die Wright in seinem Film kompromisslos verfolgt und ausbaut. Das Drehbuch, das er ebenfalls selbst geschrieben hat, basiert auf einem Buch von Kate Kyriacous, die darin den sensationellen Fall beschreibt, der auf wahren Begebenheiten beruht. Während Mark und Henry sich anfreunden, zeigt eine parallele Erzählung die Bemühungen der Polizei, im Bereich der Entführung des Jungen zu ermitteln. Der genaue Zeitplan dieser Fahndung ist vielleicht absichtlich unklar, aber die Details sind so faszinierend wie Marks Versuch, Henrys Vertrauen zu gewinnen und wichtige Informationen aus seiner Vergangenheit zu entlocken.

Der Ton des Films reicht von düster bis finster, ist mal ironisch, und oft beobachtet die Kamera einfach nur das Geschehen. Vieles wird lediglich angedeutet, wie etwa das Trauma, das Mark hinter sich herzieht, oder die Doppelbelastung, denn nebenbei kümmert sich er auch noch um seinen kleinen Sohn. Dennoch behält Wright sein Ziel stets klar vor Augen: THE STRANGER ist ein Thriller, der von der ersten bis zur letzten Minute fesselt - störrisch, klug und mit einer bedrückenden Wahrhaftigkeit inszeniert.

Veröffentlicht am 20.5.2022

ARMAGEDDON TIME

Der Titel geht auf Ronald Reagan zurück. In ARMAGEDDON TIME beschreibt James Gray seine Kindheit in Queens, New York, zu Beginn der achtziger Jahre – der Zeit also, in der Reagan als US-Präsidentschaftskandidat feierlich verkündete, dass den USA eine moralische Katastrophe oder, wie er formulierte, ein «Armageddon» bevorstehe. Der 1969 geborene US-amerikanische Regisseur war damals kaum 12 Jahre alt. Im Film, der eher einer autobiografisch angelehnten filmischen Novelle gleichkommt, heißt er Paul und wird von dem jungen Banks Repeta gepielt.

Der schmächtige jüdische Junge hat es in der Schule schwer. Er ist in einer neuen Klasse und sein unsympathischer Lehrer hat ein Auge auf ihn geworfen. Dass er sich ausgerechnet mit Johnny (Jaylin Webb) anfreundet, einem Schwarzen Jungen, der seine Ambitionen als Klassenclown teilt, macht die Sache nicht einfacher. Aber Paul erkennt auch, dass Johnny die härteren Strafen bekommt und was Rassismus bedeutet. Zu Hause verbringt er viel Zeit mit seinem Großvater (Anthony Hopkins), der ihm liebevoll und spielerisch die Welt erklärt, während sein hitziger Vater (Jeremy Strong) oft die Nerven verliert und sich nicht anders als mit roher Gewalt zu helfen weiß. Mutter Esther (Anne Hathaway) steht irgendwo dazwischen, hat aber auch ihre eigenen Ambitionen, bis der Druck, ihren Jüngsten auf einer rigiden Elite-Privatschule unterzubringen, um ihn vor falschen Einflüssen zu bewahren, immer größer wird.

Darius Khondjis Kameraarbeit mit ihren unzähligen Braunschattierungen kann manchmal ein bisschen schwergewichtig erscheinen, und auch Gray wechselt ein paar Mal zu oft zwischen verschiedenen Tonlagen, die den Film bisweilen aus dem Gleichgewicht bringen. Die Stärke des Films liegt dagegen in dem wunderbar leichtfüßigen Zusammenspiel zwischen Repeta und Hopkins sowie in der Art und Weise, wie sich Pauls Erwachsenwerden in der nationalen Geschichte widerspiegelt. ARMAGEDDON TIME erinnert daran, dass die Versäumnisse und Probleme in der Politik heute, ihren Ursprung in den Versäumnissen und Problemen der Politik von damals haben. Selten hat sich ein historisches Coming-of-Age-Drama so kraftvoll und zeitgemäß angefühlt.

Veröffentlicht am 20.5.2022

WHEN YOU FINISH SAVING THE WORLD

Erinnern Sie sich noch an Jesse Eisenberg in THE SQUID AND THE WHALE, Noah Baumbachs bittere Komödie über den Zerfall einer Familie aus dem Jahr 2005? Darin spielt Eisenberg einen jungen Mann mit Gitarre, der zur Freude seiner Eltern ein Lied geschrieben hat. Zumindest scheint es auf den ersten Blick so, denn der Song stammt, wie sich bald herausstellt, eigentlich von Pink Floyd.

Eisenbergs Regiedebüt WHEN YOU FINISH SAVING THE WORLD operiert nun im exakt gleichen Milieu jener großbürgerlichen Welt mit ihren First-World-Problemen und Selbstbewusstseinsstörungen. Finn Wolfhard spielt Ziggy Katz, einen Teenager im High-School-Alter mit eigener Show im Internet. Zu Hause tränkt sich sein Vater in Rotwein, liest Bücher und wird weitgehend ignoriert, denn es ist seine Mutter Evelyn (Julianne Moore), die den schärfsten Kontrast bietet. Die Leiterin einer Unterkunft für Opfer häuslicher Gewalt tut so, als wüsste sie nicht, was ein Livestream ist, und hört auf dem Weg zur Arbeit klassische Musik. Sie ist eine Frau, die ihre Menschlichkeit nach außen trägt, aber nichts für ihre eigene Familie übrig hat, und die grundsätzlich keine gute Umarmerin ist.

Sowohl Sohn als auch Mutter treffen im Laufe der Handlung auf Außenseiter, die sie herausfordern und mit sich selbst konfrontieren: Im Fall von Evelyn ist es Kyle (Billy Bryk), der Sohn einer missbrauchten Frau, die im Heim wohnt. Er ist alles, was Ziggy nicht ist: freundlich, aufrichtig, großzügig und klug. Außerdem liebt er seine Mutter. Inzwischen hat sich Ziggy schwer in Lila (Alisha Boe) verliebt, eine junge Frau, die leidenschaftlich über Politik sprechen kann und in einem seltsam anachronistisch anmutenden Kunstclub ihre Gedichte über Kolonialismus liest. Lila bringt Ziggy dazu, sich zu wünschen, er hätte mehr Tiefe, und Kyle erweckt in Evelyn neue Muttergefühle. Aber natürlich ist alles längst nicht so einfach, wie es klingt.

WHEN YOU FINISH SAVING THE WORLD ist gut gemacht, unterhaltsam, harmlos und, ja, nett. Anstatt bewusst anzuecken, aufzutrumpfen oder zu rebellieren, setzt Eisenberg auf Zurückhaltung und Leichtigkeit. Für mehr als einen soliden Auftakt als Regisseur reicht das nicht. Da kann es von Baumbach noch einiges lernen.

Veröffentlicht am 19.5.2022

FINAL CUT

Ein Zombiefilm-Remake zu Eröffnung - Cannes ist immer für eine Überraschung gut. Allerdings handelt es sich bei Michel Hazanavicius’ FINAL CUT eben auch nicht um irgendeine beliebige Neuauflage. Sein Film, der bis zum Kriegsbeginn in der Ukraine im Original noch "Z" heißen sollte und im Zuge der politischen Entwicklungen in Coupez! (auf deutsch: Schnitt!) umbenannt wurde, ist eine getreue Wiedergabe von Shinichiro Uedas ONE CUT OF THE DEAD. Die Long-Take-Zom-Com hatte den japanischen Newcomer 2017 unter Genrefans schlagartig berühmt gemacht. In der französischen Version von Hazanavicius sorgen nun vor allem seine Hauptdarsteller Romain Duris und Bérénice Bejo für Furore.

Wie sein Vorgänger beginnt FINAL CUT mit einem 30-minütigen One-Shot-Film-im-Film, der eine Amateurcrew zeigt, die versucht, ihren eigenen Zombie-Film zu drehen, aber dabei fatalerweise einen Fluch entfesselt, der die Toten zum Leben erwacht. Das Ergebnis ist weniger ein B-Movie als vielmehr eine Katastrophe auf ganzer Linie, so dass der Regisseur Rémi Bouillon (Duris), dessen Motto „billig, schnell und anständig“ lautet, längst die Nerven verloren hat. Das Blut spritzt, Gliedmaßen fliegen durch die Luft, und es wird geschrien, was das Zeug hält.

Der zweite Teil von Final Cut besteht aus einer Rückblende, der die Entstehung des Films zeigt, initiiert von einer japanischen Produzenten (Yoshiko Takehara) als Live-Übertragung eines Remakes eines japanischen Kinohits. Duris, der sonst eher mit Rom-Coms oder intensiven Dramen wie Jacques Audiards THE BEAT THAT MY HEART SKIPPED in Verbindung gebracht wird, gelingt es, Bouillon das Herz eines Regisseurs zu verleihen, der sich zu früh mit zu wenig zufriedengegeben hat und endlich die Freude am Filmemachen wiederentdeckt. Bejo dagegen darf mit einer Axt um sich schlagen und ihre Martial-Arts-Künste zum Besten geben. Einige der Witze in dieser sympathischen Komödie fühlen sich dennoch ein wenig müde an. Die Stärke liegt im körperlichen Spiel der Darsteller und in den Figuren selbst, die es schaffen, aus der Karikatur herauszuklettern.

Veröffentlicht am 18.5.2022

Pamela Jahn