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Zweite Chance

Moralischer Melo-Thriller

Eines Tages werden Andreas und Simon - Polizisten, Kollegen und allerbeste Freunde seit ewigen Zeiten - wegen Ruhestörung gerufen. Sie treffen auf ein notorisches Junkiepärchen und finden in einer Ecke der Wohnung ein ziemlich verwahrlostes Baby. Für Simon ist der Fall traurige Routine, aber Andreas, lässt das Erlebte keine Ruhe.

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Weil sie so toll gespielt und so nuanciert inszeniert sind, sehen Susanne Biers Filme aus, wie „slices of life“, so als seien ihre Geschichten mitten aus dem Leben gegriffen. Tatsächlich sind sie aber ebenso kluge wie provokante Versuchsanordnungen. Bier nimmt ein dramatisches lebensveränderndes Ereignis, wirft es wie einen fetten Stein in den ruhigen Tümpel bürgerlicher Verhältnisse und glücklicher Beziehungen - und filmt dann die Wellen. In Biers Filmen müssen alle Beteiligten und meist auch die Zuschauer ihre Prinzipien, Moralvorstellungen und Gefühle neu sortieren, bevor wieder ein prekärer Frieden einkehrt. Das war schon in OPEN HEARTS (2002) der Fall, als ein schwerer Unfall zwei Paare mit Fragen nach Liebe, Loyalität und Schuld konfrontierte, in BROTHERS – ZWISCHEN BRÜDERN (2004), einer Geschichte um einen traumatisierten Afghanistan-Rückkehrer, und zuletzt im Oscar-Gewinner IN EINER BESSEREN WELT (2011), der Väter und Söhne in Konfliktsituation brachte, die eigentlich nur mit Gewalt zu lösen schienen. Geht ein gewaltfreies Leben in einer gewalttätigen Welt? fragte der Film und gab keine eindeutige Antwort.
In Biers neuem Film ZWEITE CHANCE, den sie zusammen mit dem vermutlich meistbeschäftigten dänischen Drehbuchautor und langjährigen Kollegen, Thomas Anders Jensen (ADAMS ÄPFEL, THE SALVATION) geschrieben hat, ist es auf den ersten Blick wieder die Außenwelt, die in die private Idylle einbricht und die Protagonisten mit Fragen konfrontiert, von denen man hofft, dass man sie sich nie stellen muss. Im Zentrum stehen Andreas und Simon, Polizisten, Kollegen und allerbeste Freunde seit ewigen Zeiten, die gerade dabei sind auseinander zu driften. Während Simon versucht, seine kurz zurückliegende Scheidung mit Alkohol und Exzessen zu verdrängen, ist Andreas in einer Kleinfamilienglücksblase abgetaucht. Haus am Meer, neugeborener Sohn, hübsche Vorzeigepartnerin, Anna. Bei Susanne Bier ist es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis dieses Glück ins Wanken gerät: eines Tages werden Andreas und Simon wegen Ruhestörung gerufen. Sie treffen auf ein notorisches Junkiepärchen, Janne und Tristan, und finden in einer Ecke der Wohnung ein ziemlich verwahrlostes Baby. Natürlich schalten sie die Sozialhilfe ein, aber da keine Zeichen für Kindesmisshandlung vorliegen und das Kind nicht unterernährt ist, unternimmt die nichts. Für Simon ist der Fall traurige Routine, aber Andreas, der immer auch an seinen eigenen Sohn denken muss, lässt das Erlebte keine Ruhe. Als ein unvorhergesehenes Ereignis ihn aus der Bahn wirft, beschließt er, selbst einzugreifen.
Es ist der Beginn einer ausgefuchsten emotionalen Achterbahn, in der es aberwitzige Schicksalsschläge und überraschende Wendungen hagelt. Genaueres zu erzählen würde den Spaß an diesem düsteren Thriller-Melo bedeutend schmälern. Vielleicht nur so viel: Die Leben von Janne & Tristan und Andreas & Anna, die so weit voneinander entfernt schienen, verknüpfen sich auf fatale Weise. Andreas wird immer verschlossener und aggressiver. Seine Frau droht, an einem unausgesprochenen Geheimnis zu zerbrechen. Eine Ermittlung wird eingeleitet und Simon und Andreas finden sich auf einmal auf entgegengesetzten Seiten wieder… Bier schöpft alle Mittel des Polizeithrillers und des Melodramas aus, um größtmögliche Spannung und maximale Emotionen heraus zu kitzeln. Ständig müssen Vorurteile überdacht und Loyalitäten neu gewichtet werden.
Dabei ist alles wieder so lebensnah gespielt und so nuanciert inszeniert, dass man der hanebüchenen Story und den durchgeschüttelten Protagonisten in allen ihren Windungen und in alle emotionalen Abgründe hinein folgt. Man könnte diese seltsame Verbindung aus Post-Dogma-Naturalismus und Exploitation-Plot manipulativ nennen, oder misslungen, oder auch großes böses Kino. Auf jeden Fall bewegt sich Susanne Bier in eine immer radikalere Richtung. Ich bin gespannt, wie das weiter geht.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: En chance til
Dänemark 2013, 104 min
Genre: Drama, Thriller
Regie: Susanne Bier
Drehbuch: Anders Thomas Jensen
Kamera: Michael Snyman
Schnitt: Pernille Bech Christensen
Musik: Johan Söderqvist
Verleih: Prokino Filmverleih
Darsteller: Bodil Jørgensen, Maria Bonnevie, Ulrich Thomsen, Nikolaj Coster-Waldau, Thomas Bo Larsen, Nikolaj Lie Kaas, May Andersen
FSK: 12
Kinostart: 14.05.2015

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