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Zombi Child

Hypnotische Bilder

Bonellos neuer Film ist nicht weniger politisch und elegant als NOCTURAMA, setzt den Akzent aber diesmal auf postkoloniale Fragen.

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Bertrand Bonello setzte sich bereits mit seinem letzten Film NOCTURAMA, in dem eine Gruppe junge Leute mehrere Bombenanschläge minutiös ausführt und danach in einem Kaufhaus konsumistische Freiheits- und Todesträume auslebt, zwischen alle Stühle. Ein wilder, elegant gefilmter, politischer Film über Militanz und Warenfetisch, der es niemandem recht machen wollte, aber große Zuneigung zu den wütenden jungen Bombenlegern zeigte. In Teufels Küche hat sich Bonello auch mit seinem neuen Film ZOMBI CHILD begeben. Ein weißer, französischer Regisseur dreht einen Film über die haitische Vodou-Religion und Mädchen an einem französischen Elite-Gymnasium? Bonellos neuer Film ist nicht weniger politisch und elegant als NOCTURAMA, setzt den Akzent aber diesmal auf postkoloniale Fragen.

ZOMBI CHILD erzählt zunächst die Geschichte des Clairvius Narcisse, eines haitianischen Mannes, der tatsächlich gelebt hat, und 1962 nach einer kurzen Erkrankung für tot erklärt und begraben wurde. 1980 tauchte ein Mann bei der Schwester von Clairvius auf, der sich für den Verstorbenen ausgab, und behauptete, er sei durch eine Vergiftung und Vodou-Magie in einen Zombi verwandelt worden, um auf einer Zuckerrohr-Plantage mit anderen Zombis als Sklave zu arbeiten. Den klassischen Fall reichert Bonello mit visuellen und politischen Details an. So kann Clairvius jahrelang nicht zu seiner Familie zurück, weil auch diese dann die Rache der mächtigen Plantagenbesitzer zu fürchten gehabt hätte. Er sitzt stattdessen immer wieder auf den Stufen der Ruinen des Sans-Souci-Palastes, den der haitische König Henri Cristophe nach der haitischen Revolution 1810 errichten ließ, nachdem die Revolutionsführer Toussaint Louverture und Dessaline verraten bzw. ermordet waren. Als Henri I instituierte der König im ersten souveränen südamerikanischen Staat ein Feudalsystem nach dem Vorbild des vorrevolutionären Frankreichs. Die Vodou-Religion, die bei der Befreiung der Insel von der französischen Kolonialherrschaft und Sklaverei eine wichtige Rolle spielte, hat in der Gegenwart und der nahen Vergangenheit eine ambivalente Rolle, scheint Bonello sagen zu wollen: Einerseits ist sie authentische Volkskultur, andererseits Herrschaftsinstrument und Mittel erneuter Sklaverei.
Der zweite Erzählstrang spielt an einem Elite-Mädchen-Gymnasium in St. Etienne, dem „Maison d’education de la legion d‘ honneur“. Hier lernen die Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen von Mitgliedern der Ehrenlegion und Träger hoher Verdienstorden. Es ist ein Ort mit seltsamen Traditionen und Ritualen. Die jugendliche Fanny hat mit ihren Freundinnen eine Art Literaturclub gegründet, der sich aber vorrangig mit der fast religiösen Verehrung des Rappers Damso beschäftigt. Außerdem schreibt Fanny glühende Liebesbriefe an ihren Freund Pablo, den sie in ihren erotischen Tagträumen als eine Art exotischen Faun imaginiert. Melissa kommt neu an die Schule, und das Mädchen mit haitischen Wurzeln wird schnell in Fannys Gruppe aufgenommen. Sie erzählt ihren Freundinnen, dass sie die Enkeltochter von Clairvius Narcisse ist, und dass ihre Tante Katy, bei der sie lebt, seitdem ihre Eltern bei dem verheerenden Erdbeben von 2010 umgekommen sind, eine Mambo, eine Priesterin des Vodou ist. Als Fannys Freund sie verlässt, glaubt Fanny, dass Mambo Katy ihr helfen kann.

ZOMBI CHILD ist ein vielschichtiger Film, der Fragen nach Geschichte, Kolonisation und kultureller Aneignung stellt. Die von Kameramann Yves Cape in hypnotische Bilder getauchte Erzählung des Zombi Clairvius Narcisse lässt sich auch als innere Vision dessen Enkeltochter Melissa deuten. Fannys Liebesbeziehung zu dem angehimmelten Pablo wirkt so entrückt und literarisch wie die exotistischen Phantasmen der Kolonialschriftsteller, angefangen bei Columbus. Die Mädchen hören am Gymnasium einen Vortrag des Historikers Patrick Boucheron über die Revolution und Idee der Freiheit im 19. Jahrhundert, die zugleich immer angestrebt und zugleich betrogen wurde. Aber der neuen Erfahrung wohnt immer auch ein zerstörerisches Element inne. Bonellos Film umkreist und beschwört dieses Spannungsfeld in einem so verträumten wie konzentrierten Film, der außerdem dazu einlädt, den poetischen Rap von Damso und den Vodou-Rock der franco-haitischen Sängerin Moonlight Benjamin kennenzulernen.

Tom Dorow

Details

Frankreich 2019, 103 min
Sprache: Französisch, Englisch
Genre: Drama, Fantasy
Regie: Bertrand Bonello
Drehbuch: Bertrand Bonello
Kamera: Yves Cape
Schnitt: Anita Roth
Musik: Bertrand Bonello
Verleih: Grandfilm
Darsteller: Louise Labeque, Adilé David, Katiana Milfort, Mackenson Bijou
FSK: 16
Kinostart: 08.10.2020

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