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Wolfskinder

Verloren in einer postapokalyptischen Welt

Sommer 1946, Eine Gruppe deutscher Kinder in den ostpreußischen Wäldern.Verlassen und zurückgeworfen auf sich selbst, angewiesen auf schonungslose Überlebensstrategien, bewegen sie sich durch eine postapokalyptische Welt.

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Ein kleiner Junge sitzt im Baum. Weiter vorne steht sein großer Bruder inmitten einer sattgrünen Landschaft am Wasser. Kindheit und Natur. Eine Idylle. Der Kleine fixiert ein Vogelnest, in dem ein paar Eier liegen. Er greift frech danach, nimmt sie vorsichtig heraus, und steckt sie ein. Doch ausgerechnet jetzt wird er unachtsam. Auf seinem verunglückten Weg zurück nach unten werden die Eier im Beutel beschädigt. Was wie ein dreister Kinderstreich aussah, entpuppt sich im nächsten Moment als existenzielle Notwendigkeit. Hans, der Ältere, läuft zum kleinen Fritzchen, und gemeinsam machen sie sich gierig über die verbliebenen Eierreste im Innern der Tasche her. Sie scheinen gar nicht aufhören zu können, als wollten sie auch den letzten Tropfen aus den Fasern zu saugen und lecken. Als ginge es um ihr Leben. Und es geht um ihr Leben.

Regisseur Rick Ostermann erzählt in WOLFSKINDER vom Überleben einer Gruppe deutscher Kinder in den ostpreußischen Wäldern des Sommers von 1946. Verlassen und zurückgeworfen auf sich selbst, angewiesen auf schonungslose Überlebensstrategien, bewegen sie sich durch eine postapokalyptische Welt inmitten der unberührten Waldgebiete Litauens. Getrieben vom ewigen Hunger und Durst, dem Wetter ausgeliefert, und im allgegenwärtigen Kampf gegen die eigene körperliche Schwäche, und die der Weggefährten, leben sie mit dem Wissen, zwischen den Fronten dieses Nachkriegschaos jederzeit sterben zu können. Ihr Ziel ist kaum mehr als eine unscharfe Utopie: Ein Bauernhof. Ein Funken von Zivilisation. Vielleicht sogar eine neue Familie.

Ostermann inszeniert die Geschichte dieser verlorenen Generation mit Eindringlichkeit und selbstverständlicher Härte, die durch die entsättigt-ausdrucksstarken Bilder von Kamerafrau Leah Striker an zusätzlicher Intensität gewinnt. Die jungen Protagonisten scheinen in einem ahistorischen Vakuum zu existieren, das außerhalb der Zeit liegt, obwohl das Schicksal von tausenden dieser Kinder doch eine unmittelbare Folge der historischen Kausalitätskette aus Sieger und Besiegten darstellt. In WOLFSKINDER spielen aber Dualismen wie Schuld und Unschuld, Täter und Opfer für die Handelnden keine Rolle mehr, was nicht heißt, dass hier Geschichtsrelativierung betrieben würde. Vielmehr erzählt der Film vom Ende der Ideologien, von einem unmittelbaren Ur-Zustand, von der Grausamkeit des Zufalls, und von der Abwesenheit der Zukunft.

Dabei verlässt sich WOLFSKINDER hauptsächlich auf die Mimik und Gestik seiner sechs jungen Protagonisten. In einer Welt, in der ein lautes Geräusch oder der Klang der falschen Sprache den Tod bedeuten kann, sind ausufernde Dialoge und langatmige Erklärungen überflüssig und unangemessen. Ihre schmutzigen, geschundenen Gesichter, die Striker immer wieder in Großaufnahmen festhält, wirken teilnahmslos und gleichgültig, nur ihre Augen lassen manchmal die gepeinigten Seelen erahnen, die sich hinter all dieser felsenharten Abgeklärtheit verstecken.

Das Langfilm-Debüt des Regisseurs ist ein außergewöhnliches Stück deutsches Gegenwartskino, das sein historisches Sujet mit einem konsequenten Stilwillen und einer zielgerichteten Inszenierung verbindet, die ständig neue Paradoxien produziert. Die überwältigende Schönheit der Natur wird von ihrer grausam-gefühllosen Überlebenslogik übermalt, der wertvolle Zusammenhalt der (Zweck-)Gemeinschaft bietet eine äußerlich offenkundige Angriffsfläche durch ihr schwächstes Glied. Die Vorarbeit hatte Ostermann bereits 2008 mit seinem Kurzfilm STILL geleistet, der in mehreren Szenen von WOLFSKINDER nachhallt. Dass der Filmemacher zuvor, unter anderem, als Regieassistent für Matthias Glasner (DER FREIE WILLE, GNADE) gearbeitet hat, scheint ebenfalls Spuren hinterlassen haben, die sich hier wiederfinden – die unerbittliche Unausweichlichkeit des Geschehens, das Ausgeliefertsein in der Welt, und die konstante Unsicherheit darüber, die Gesamtsituation richtig einzuordnen und zu deuten.

Jens Mayer

Details

Deutschland 2014, 91 min
Genre: Drama, Historienfilm
Regie: Rick Ostermann
Drehbuch: Rick Ostermann
Kamera: Leah Striker
Schnitt: Antje Lass
Musik: Christoph Kaiser, Julian Maas
Verleih: Port au Prince / barnsteiner-film
Darsteller: Jürgen Vogel, Jördis Triebel, Til-Niklas Theinert, Levin Liam, Helena Phil, Vivien Ciskowska, Willow Voges-Fernandes
FSK: 12
Kinostart: 28.08.2014

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