Magazin für unabhängiges Kino
Filmwecker
Filmnotiz

Neue Notiz

Vortex

A dream within a dream

Noés Film ist eine emotionale Tour de force, die sich nicht so leicht abschütteln lässt wie seine streng konstruierten früheren Filme, die, so intensiv sie inszeniert waren, auch immer etwas zu ausgedacht wirkten.

Mehr

Vortex, das ist ein Wasserstrudel, im übertragenen Sinne aber auch eine Situation, die außer Kontrolle geraten ist. Von solchen Situationen handeln alle Filme von Gaspar Noé, aber Noé sagt von VORTEX, seine anderen Filme – außer SEUL CONTRE TOUS (Der Menschenfeind) - habe er für Teenager gemacht. In IRRÉVERSIBLE, ENTER THE VOID, LOVE und CLIMAX geht es um Momente, in denen junge Leute Katastrophen heraufbeschwören, aber es geht auch um Intimität, Rausch und Lust, um Glück und den Verlust von Glück. Alle Filme von Noé lassen einen mehr oder weniger verwüstet zurück.

VORTEX handelt von einem Paar um die achtzig, gespielt von Dario Argento, dem legendären Horror- und Giallo-Regisseur und Françoise Lebrun, der Darstellerin der sexuell unabhängigen Veronika in Jean Eustaches Nouvelle Vague-Meisterwerk LA MAMAN ET LA PUTAIN (Die Mama und die Hure, 1973). Der Film beginnt mit dem Abspann: Noé nennt alle Beteiligten, die Hauptdarsteller mit ihrem Geburtsdatum: Argento 1940, Lebrun 1944. Er gönnt ihnen einen letzten Moment des Glücks. Aus dem Fenster ihrer großen Bohème-Wohnung winkt sie ihm über den Hinterhof zu: „Es ist alles fertig“. Ein Glas Wein auf dem Balkon, sie stoßen an, sie sagt: „Ist das Leben nicht ein Traum“. Er: „Ein Traum in einem Traum“. Die Kamera zeigt die Lage der Wohnung wie in einer Escher-Zeichnung: Das Gebäude links neben der Dachwohnung ist höher, ach, die ganze Stadt scheint höher zu liegen. Auf dem Gebäude nebenan befindet sich ein riesiges Wasserreservoir, das die Menschen auf dem Balkon zu verschlingen scheint. Die junge Françoise Hardy, einst die schönste Frau der Welt, singt „Mon ami la rose“, ein Lied darüber, „la plus belle“ gewesen zu sein, und alt zu erwachen. So schön, so traurig.

Das Wasser verschlingt das Paar nicht. Der Film ist allen gewidmet, deren Gehirn vor dem Herzen stirbt. In VORTEX verliert die Frau die Erinnerung und fast vollständig die Sprache.

Noé filmt das Erwachen des Paares im Ehebett. Sobald sie den Schlaf abgeschüttelt haben, teilt sich das Bild: Eine Hälfte zeigt sie, die andere ihn. Später wird auch gelegentlich der Sohn Stéphane eine Hälfte des Bildes einnehmen, der sich um seine Eltern sorgt, mit seiner Heroinsucht und der psychischen Erkrankung seiner Partnerin kämpft und seinen kleinen Sohn Kiki versorgt. Als sie aufgestanden ist, kocht sie Kaffee in der Bialetti-Kanne, auf dem Gasherd. Es sieht aus, als hätte sie kein Wasser eingefüllt. Die Flamme des Gasherds ist zu hoch. Wenn nicht Traurigkeit herrscht, regiert die Angst, es könnte etwas passieren.

Sie war Psychiaterin, er schreibt über Film und Traum, oder versucht zumindest, die Illusion, ein Buch zu schreiben, am Leben zu erhalten. Die Bohème-Wohnung ist ein lebendiges Museum ihres Lebens, überall liegen Bücher, jeder Zentimeter Wand ist mit Polit- und Filmpostern, Zetteln, Erinnerungen, Fotografien beklebt.
Seine Simulation eines wahrgenommenen Lebens wirkt angestrengt. Seit Jahrzehnten hat er eine Affäre, aber sie antwortet nicht mehr auf seine Anrufe. Er hält das berühmteste Zitat von Edgar Allen Poe, „is all we see and scheme just a dream within a dream“ für eine originelle Entdeckung. Er hatte einen Herzinfarkt, aber er muss die Schreib- und Rauch-Maschine weiterlaufen lassen. Während er noch tut, was er tut, ist sie allein und verloren. Sie bringt den Müll herunter, vielleicht will sie einkaufen gehen, aber sie bleibt vor dem Spielzeug im Fenster eines Ladens in der Nachbarschaft hängen, in dem sie sich dann verirrt. Er merkt, dass sie fehlt, spät, aber früher, als man erwartet.

Sein Leben und ihr Leben sind getrennt, und er scheint darauf zu beharren, sein Leben zu retten, auch wenn sie mit jedem Moment der Einsamkeit ihres verliert. Vielleicht war das ihr Modus Operandi über die Jahre: Jeder macht seins/ihres, dann kommt man für die gemeinsamen Momente zusammen. Aber es geht nicht mehr. Sie ist allein und verloren. Aber er ist immer noch der Einzige, der sie beruhigen kann, wenn sie weint.

Noés Film ist eine emotionale Tour de force, die sich nicht so leicht abschütteln lässt wie seine streng konstruierten früheren Filme, die, so intensiv sie inszeniert waren, auch immer etwas zu ausgedacht wirkten. Hier gibt es kaum ein Drehbuch, die wenigen Dialoge sind größtenteils improvisiert. VORTEX zieht mit in seinen Strudel, und ohne Tränen lässt er einen nicht wieder frei. Altwerden ist nichts für Feiglinge.

Tom Dorow

Details

Frankreich 2021, 142 min
Sprache: Französisch
Genre: Drama
Regie: Gaspar Noé
Kamera: Benoît Debie
Schnitt: Denis Bedlow, Gaspar Noé
Verleih: rapid eye movies
Darsteller: Francoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz, Kylian Dheret
Kinostart: 28.04.2022

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

ALLE ANGABEN OHNE GEWÄHR.
Die Inhalte dieser Webseite dürfen nicht gehandelt oder weitergegeben werden. Jede Vervielfältigung, Veröffentlichung oder andere Nutzung dieser Inhalte ist verboten, soweit die INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) nicht ausdrücklich schriftlich ihr Einverständnis erklärt hat.