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Wege des Lebens – Roads Not Taken

Talfahrt ins Unterbewusste

Leo leidet an Hirnatrophie, einer Art von Demenz, im fortgeschrittenen Stadium. Während seine Tochter versucht, eine Art Alltag aufrecht zu erhalten, vermischen sich in seinem Kopf Vergangenheit und Gegenwart, Träume und Visionen, Zeiten und Orte zu einem endlosen Strom aus Bildern und Gefühlen.

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Wenn der Kopf nicht mehr mitmachen will, wird das Leben zum Kampf. Dann kommt plötzlich alles zusammen: Vergangenheit und Gegenwart, Träume und Visionen, Zeiten und Orte vermischen sich zu einem endlosen Strom aus Bildern und Gefühlen, die sich nicht mehr, oder nur in einem riesigen Kraftakt bruchstückhaft artikulieren lassen. So geht es Leo (Xavier Bardem), der unter Hirnatrophie, einer Art von Demenz, im fortgeschrittenen Stadium leidet. Den Alltag bestreitet er unter der Bettdecke in seinem kargen New Yorker Apartment. Um das Nötigste kümmert sich die Haushaltshilfe, während seine Tochter Molly (Elle Fanning) dafür sorgt, dass Leo seine Arztbesuche einhält, auch wenn sie dafür eigentlich keine Zeit hat, weil sie gerade selbst kämpfen muss, wenn auch nur um ihren Job. Dennoch bleibt sie bei ihrem Vater, versucht vergeblich, ihn in Bewegung und wenigstens für winzige Augenblick zur Vernunft zu bringen. Aber Leo ist schon zu weit weg, hat mit der Gegenwart abgeschlossen, in die Sally Potters Film die Zuschauer immer wieder zurückholt. Diesen Realitätschecks überlegen sind die Rückblenden und Talfahrten in Leos Unterbewusstsein, in denen er mal als Schriftsteller in Griechenland, mal als Mann an der Seite seiner ersten großen Liebe, Dolores (Salma Hayek), mal als um seinen verunglückten Sohn trauernder Vater auftritt, und dabei immer wieder vom Weg abkommt, andere Richtungen einschlägt, die ihn schließlich in eine moralische Sackgasse führen.
Molly bleiben diese Einsichten gänzlich verborgen. Sie ist so irritiert wie die Zuschauer, die Potter nach 85 Minuten mit einem großen Fragezeichen im Hinterkopf aus dem Kino entlässt. THE ROADS NOT TAKEN ist ein Fragment aus Bildern, Eindrücken, Visionen und dem, was sich im Leben nicht mehr ungeschehen machen lässt. Es ist ein in seiner abstrakten Form nur bedingt einfühlsamer Film, der distanziert und sich permanent selbst verliert. Wenn man jedoch weiß, dass Potters Bruder ebenfalls jung an Demenz erkrankte, wird einem die Hilflosigkeit in Mollys Umgang mit ihrem Vater noch einmal auf ganz andere Art und Weise gewahr. Dann möchte man der Regisseurin am Ende sogar fast ihr etwaiges Schwelgen in trostloser Melancholie und im Theatralischen (vor allem in der Musik) verzeihen.

Pamela Jahn

Details

Originaltitel: The Roads Not Taken
Großbritannien 2020, 85 min
Sprache: Englisch, Spanisch
Genre: Drama
Regie: Sally Potter
Drehbuch: Sally Potter
Kamera: Robbie Ryan
Schnitt: Sally Potter, Emilie Orsini, Jason Rayton
Musik: Sally Potter
Verleih: Universal Pictures
Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, Branka Katic
FSK: oA
Kinostart: 13.08.2020

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IMDB

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