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The Lady in the Van

Geschichte einer Koexistenz

Als der Schrifsteller Alan Bennett in den 70ern in das Londoner Viertel Camden Town zog, gehörte zum Inventar seiner Straße bereits eine alte Vagabundin, Miss Shepherd, die mit ihrem Lieferwagen, in dem sie wohnte, von Haus zu Haus zog. Nach einigen Jahren stellte sie den Wagen in Bennetts Einfahrt ab. Dort blieb sie für 15 Jahre.

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THE LADY IN THE VAN ist so englisch wie Gardeners‘ Question Time, sheep dog trials, Five O’Clock Tea und Toast mit Bitterorangenmarmelade: gelassen, zurückhaltend, ein bisschen altmodisch, ein bisschen exzentrisch, dabei Oxford-gescheit, und durchzogen von einem leisen Humor, der um die eigene Lächerlichkeit weiß. Autor Alan Bennett erzählt in THE LADY eine, wie es im Vorspann heißt „mostly true story“. Als Bennett in den 70ern in das Londoner Viertel Camden Town zog, in dem die Gentrifizierung gerade begann, gehörte zum Inventar seiner Straße bereits eine alte Vagabundin, Miss Shepherd, die mit dem Lieferwagen, in dem sie wohnte, von Haus zu Haus zog und nach einigen Jahren, und nach Verschärfung der Parkvorschriften, mit dem Wagen in Alan Bennetts Einfahrt landete. Dort blieb sie für 15 Jahre.

Im richtigen Leben ist der inzwischen 82-jährige Bennett ein bekannter britischer Autor, der vor allem für Radio und Fernsehen arbeitet, und mit u.a. THE MADNESS OF KING GEORGE und THE HISTORY BOYS auch schon einige Drehbücher verfasst hat. Bennetts Spezialität ist ein feines Gespür für gesprochene Sprache und soziale Umstände und eine Vorliebe für den Wahnsinn, der sich unter einer bürgerlichen Fassade verbirgt. Zu seinen bekanntesten Stücken zählt „Talking Heads“, eine Serie von Monologen für Fernsehen und Bühne, in der ganz normale Leute, Hausfrauen, Krankenschwestern, Büroangestellte und Senioren, meistens aus dem Norden Englands stammend, beim Erzählen ihre geheimen Obsessionen offenbaren, die sich oft genug als Bausteine einer privaten Hölle herausstellen.

Auf den ersten Blick ist es in THE LADY IN THE VAN natürlich Miss Shepherd, die deutlich sichtbar von Obsessionen geplagt wird. Wenn Maggie Smith, die für ihre Verkörperung der Alten einen Oscar verdient hätte, in ihrem Outfit aus vielfach geflicktem Regenmantel und eingewachsen wirkenden Klamottenschichten, in einem ihrer Gefährte – Miss Shepherd hat eine Vorliebe für fahrbare Untersätze – Gloucester Crescent entlang wackelt, meint man den Geruch der Obdachlosigkeit, von selten gewaschenen Kleidern, eingetrocknetem Essen, Urin und Puder, schon von Weitem zu riechen. Über sich selbst redet Miss Shepherd nie, dafür doziert sie in einer mit religiösen Metaphern gespickten Sprache über alles Mögliche. Einmal nimmt sie den stets adrett in Pullunder und Hemd gekleideten Schriftsteller zur Seite und raunt ihm zu: „Diese jungen Männer, die abends bei Ihnen ein- und ausgehen, trauen Sie denen nicht. Sie sind bei Nacht unterwegs: Das sind alles Kommunisten.“

Bei näherem Hinsehen sind auch die anderen Bewohner der Straße nicht frei von mentalen Zwängen. Die meisten zeigen Anzeichen von bürgerlichem Schuldgefühl, dass sich vor allem in ihrem Verhalten zu Miss Shepherd manifestiert. Sie bringen gelegentlich Geschenke vorbei, die Miss S. ruppig entgegen nimmt, und sind im Übrigen aber dankbar, dass Mr Bennett sich kümmert. Eines Tages bemerkt er trocken, dass die Leute angefangen haben, ihn nach seiner „old lady“, seiner „Alten“, zu fragen, so als ob sie verheiratet wären. Dabei sind größere Gegensätze kaum denkbar. Hier die verwahrloste Alte, die auf der Straße lebt und sich täglich ihren Platz erkämpft, dabei aber in aller Wirrnis ein tadelloses Middleclass Englisch spricht. Eine überzeugte Thatcher-Anhängerin. Dort der zurückhaltende, ordnungsliebende, SDP-wählende Schriftsteller mit dem proletarischen Yorkshire-Dialekt, der tagein tagaus an seinem Schreibtisch sitzt, aus dem Fenster sieht und fein selbstironisch in sein Tagebuch notiert, wie sein Alter Ego die Rückstände beseitigt, die Miss Shepherd im Garten hinterlässt. Beide – der Schriftsteller und sein Alter Ego - werden im Film von Alex Jennings gespielt, Alan Bennett selbst tritt gegen Ende in einer kleinen Cameo-Rolle auf.

Noch nach 15 Jahren Hausgemeinschaft mit Miss Sherherd ist Bennett/Jennings überrascht, dass die Sozialarbeiter nach außen keinerlei Ekel zeigen, wenn sie ihren Van betreten. Dass er die Alte aus Barmherzigkeit aufgenommen habe, weist er weit von sich. Eher aus Konfliktscheue. Er sei nicht caring (fürsorglich) sondern schüchtern (timid). „But timid, being British, is good thing too“.

Hendrike Bake

Details

Großbritannien 2015, 104 min
Genre: Biografie, Drama, Komödie
Regie: Nicholas Hytner
Drehbuch: Alan Bennett
Kamera: Andrew Dunn
Schnitt: Tariq Anwar
Musik: George Fenton
Verleih: Sony Pictures Germany
Darsteller: Maggie Smith, Alex Jennings, Frances de la Tour
FSK: 6
Kinostart: 14.04.2016

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