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The Forbidden Room

Aus dem Quell der verlorenen Filmgeschichten

THE FORBIDDEN ROOM sammelt die Plots von verlorenen und vergessen Filmen und kompiliert sie zu einer Art Babuschka-Story: Geschichten in Geschichten in Geschichten. Eine rauschhafte Hymne an das Genrekino mit seinen Heldenreisen, seinen verschwundenen Frauen, gefährlichen Verwandlungen, mythischen Reisegefährten und seiner ambivalenten Erotik.

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Guy Maddins Film THE FORBIDDEN ROOM beginnt mit einem Bibelzitat: „When they were filled, he said unto his disciples: Gather up the fragments that remain, that nothing be lost. “ John 6, 12 („Als die Menge satt war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brotstücke, damit nichts verdirbt.“) Die Fragmente, die übriggeblieben sind, hat Maddin ebenfalls aufgesammelt. THE FORBIDDEN ROOM sammelt die Plots von verlorenen Filmen und verbindet sie zu einer Art Babuschka-Geschichte: einem Plot im Plot im Plot usw.

Alles beginnt mit einem Bad. Der Film HOW TO TAKE A BATH des Regisseurs Dwain Esper, der Maddin zufolge auch der Verleiher von Todd Brownings FREAKS und des legendären Kifferfilms REEFER MADNESS ist, ist verschollen. Epser drehte in den 30er Jahren einige als Ratgeber verkleidete Exploitation-Filme, unter anderem HOW TO UNDRESS IN FRONT OF YOUR HUSBAND. Auch HOW TO TAKE A BATH war wohl vor allem ein Vehikel, um nackte Frauen zeigen zu können.

Der Dichter John Ashberry nahm sich den verlorenen Film vor und schrieb das Drehbuch zur Rahmenhandlung von Maddins Film, in dem ein sehr unordentlich gekleideter Herr großspurige und sehr komische Anleitungen zum Baden gibt, während ein anderer Herr badet. Die Badewanne wird zu einem Quell weiterer verlorener Filmgeschichten, die sich gegenseitig durchdringen, verschachteln und verdrängen. Dabei geht es in ein U-Boot, das zu explodieren droht, wenn es versuchen sollte, an die Oberfläche zu gelangen. Zudem ist der Captain verschwunden, vielleicht will er aber nur nicht gestört werden. Vorsichtig tasten sich die Unterseemänner durch Segmente der Röhre, wobei sie einem Holzfäller begegnen, der auf der Suche nach der schönen Margot ist, die von der Bande der roten Wölfe gekidnappt wurde, möglicherweise aber auch mit diesen unter einer Decke steckt, wie der Holzfäller herausfindet, als er in ihre Höhle eindringt. Mal erzählt der Schnee einem Mann, der seinem Flüstern lauscht, ein Vulkanabenteuer, mal träumt eine Tänzerin von Bananenvampiren. Zwischendurch gibt es ein Intermezzo mit einer Musiknummer der 70er-Jahre Kultband Sparks, die einen hübschen Song singt, in dem es um einen Mann geht, der von Hintern besessen ist („The Final Derrière“). Irgendwie gelangt auch alles zurück in die Badewanne.

Dass Maddins irrwitziges Projekt nicht an allen Ecken auseinanderfliegt, sondern tatsächlich erstaunlich unterhaltsam ist, liegt – neben den geschickt platzierten Pointen– an seinen stilistischen Entscheidungen, vor allem in Bezug auf Farbe und Musik. Teile des Films erinnern an das erste Technicolor-Verfahren, das aus zwei Schwarzweiß-Filmen bestand, die jeweils rot und grün eingefärbt wurden. Andere sehen aus wie viragierte Stummfilme oder moderne Technicolor-Varianten. Farbübergänge und –kontraste verbinden und trennen die Segmente und führen ebenso durch die labyrinthischen Erzählungen, wie die leitmotivisch eingesetzten Musik – Loops aus verschiedenen klassischen Stücken, ein paar Takte Schönberg-Loop hier, ein Wagner-Loop da, je nach melodramatischem Bedarf.

Geht es in THE FORBIDDEN ROOM um etwas außerhalb der Bilder- und Geschichtenproduktion als komisch-melodramatischer Rausch? Maddins Filme erinnern manchmal an die Suche des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg nach der Pathosformel in der Kunst, universellen Ausdrucksformen archetypischer Regungen. THE FORBIDDEN ROOM ist ein Kaleidoskop des Genrekinos mit seinen Heldenreisen, seinen verschwundenen Frauen, gefährlichen Verwandlungen, mythischen Reisegefährten, genialen und perversen Ärzten, magischen Auferstehungen, und seiner ambivalenten Erotik. Einen Punkt macht der Film nicht, aber einen sehr großen Kreis. Maddin nimmt ein Bad im Unbewussten des Kinos, in dem sich all diese großen Gesten breitmachen, und bittet darum, sich ordentlich damit abzuseifen. Zuallererst aber ist THE FORBIDDEN ROOM eine große Hymne an das Fabulieren des Kinos und an seine vergessenen und verlorenen Filme, die keiner mehr sehen will, wenn das Spektakel gerade einen anderen Traum durch die Kinosäle treibt.

Tom Dorow

Details

Kanada 2015, 119 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama, Komödie, Mysterie
Regie: Guy Maddin
Drehbuch: Guy Maddin, Evan Johnson
Kamera: Stéphanie Weber-Biron
Schnitt: John Gurdebeke
Musik: Galen Johnson
Verleih: Arsenal Institut
Darsteller: Mathieu Amalric, Udo Kier, Geraldine Chaplin
Kinostart: 07.04.2016

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