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Tár

Ikonische Anti-Heldin

Cate Blanchett spielt Lydia Tár vielschichtig und ambivalent als gleichermaßen mysteriös-ikonische Heldin und als zutiefst toxische Persönlichkeit.

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Lydia Tár wird in die Filmgeschichte eingehen wie Tony Montana oder Travis Bickle. Bereits jetzt hat die - vollkommen fiktionale - Tár eine vorzeigbare Anhängerschaft auf Social Media, und es machen sich Leute auf Twitter halb-ernsthaft Gedanken darüber, was Lydia Tár wohl zu diesem oder jenem Vorfall sagen würde, oder sie schreiben „OMG I saw Lydia Tár“, wenn sie Cate Blanchett irgendwo gesehen haben, die Tár spielt.

Das mag auch daran liegen, dass Regisseur Todd Field seine Hauptfigur außerordentlich geschmeidig in die reale Welt der E-Musik einbaut. Die Berliner Philharmoniker, die Lydia Tár dirigiert, gibt es ebenso wie die Promis, mit deren Namen sie so souverän hantiert, seien es Leonard „Lenny“ Bernstein oder Antonia Brico. In einer fast zehnminütigen Szene gleich zu Beginn des Films interviewt Adam Gopnik, der wirkliche Autor des echten New Yorker Magazins die fiktionale Lydia Tár auf einer fiktionalen Session beim New Yorker Festival über ihre Arbeit als Dirigentin und ihr Verständnis von Musik. Die Szene ist mutig (außer einem eher sachlichen Dialog passiert nichts) und komisch (die kleinen Eitelkeiten der Kulturelite sind perfekt eingefangen), und es lohnt sich zuzuhören, denn fast alles, was Tár hier äußert, wird später im Film kommentiert, widerlegt oder gespiegelt werden.

Das Interview zeigt Lydia auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Souverän hört sie zu, wie Gopnik ihre Erfolge auflistet. Charismatisch spricht sie über ihre Arbeit, flicht hier und da einen kleinen Scherz ein, erinnert an ihren guten Freund „Lenny“, und ist sich ihrer Wirkung voll bewusst. Cate Blanchett als Tár glänzt und funkelt, lässt Abgründe ahnen und eine komplizierte Lebensgeschichte, deren Details wir nie erfahren werden. Sie spielt Lydia Tár vielschichtig und ambivalent als gleichermaßen mysteriös-ikonische Heldin und als zutiefst toxische Persönlichkeit, die sich wie ein Chamäleon an ihre Umgebung anpasst, überall die Fäden zieht und mit jedem Satz manipuliert.

Das New Yorker-Interview markiert den Anfang ihres Untergangs. Wenig später sehen wir, wie sie sich in einem Uni-Seminar nahezu sadistisch über einen Studenten of Colour lustig macht, der sich aus politischen Gründen nicht für Bach begeistern kann. Die Szene ist ein Kabinettstück über Identitäts- und Kunstdiskurse, zeigt aber vor allem, dass Lydia ihr Gefühlt für Zeitgeist verliert, für die derzeit gefragteste Positionierung. Und natürlich filmt jemand mit. Während Lydia noch dabei ist, bei den Philharmonikern in Personalfragen zu intrigieren und eine neue junge Cellistin zu „protegieren“, holen sie Gerüchte über eine ehemalige Studentin ein, die sich nach einer Affäre mit Tár umgebracht hat.

Todd Field (LITTLE CHILDREN) erzählt diese Geschichte einer Demontage langsam und genau, und entwickelt dabei eine ungeheure Spannung, bei der es auf jede Kleinigkeit und jede Nuance ankommt. Er seziert präzise die Mechanismen, mit der Lydia ihre Macht ausspielt, auch in ihrer Beziehung mit Orchesterleiterin Sharon (fantastisch präsent mit kleinsten Gesten: Nina Hoss), und hat dennoch Sympathie für die manipulative Aufsteigerin aus kleinen Verhältnissen, die virtuos mit dem Habitus der Hochkultur spielt.

TÁR ist ein Thriller um Aufstieg und Fall einer Dirigentin. TÁR ist ein Horrorfilm, in dem sich das von Lydia Verdrängte in Störgeräuschen und Ticks manifestiert. TÁR ist eine Komödie über Hochkultur im Influencer-Zeitalter. TÁR ist einer der interessantesten Filme des Jahres

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: Tar
USA 2022, 158 min
Genre: Drama, Musikfilm
Regie: Todd Field
Drehbuch: Todd Field
Kamera: Florian Hoffmeister
Schnitt: Monika Willi
Musik: Hildur Guðnadóttir
Verleih: Universal Pictures
Darsteller: Cate Blanchett, Mark Strong, Julian Glover, Sydney Lemmon, Nina Hoss, Noémie Merlant
Kinostart: 02.03.2023

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