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Stories We Tell

In diesem Hybrid-Film, der alte Originalaufnahmen mit nachgespielten Szenen mischt, verfolgt die Drehbuchautorin und Regisseurin die Erkenntnis, dass die Wahrheit wesentlich von der Sichtweise des Erzählers abhängt.

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Die kanadische Schauspielerin Sarah Polley hat gerade erst ihren dritten Film als Regisseurin gedreht, aber bereits erhebliche Anerkennung im internationalen Arthouse-Kino geerntet. Für ihr Debüt AWAY FROM HER (AN IHRER SEITE) über eine an Alzheimer erkrankte Frau, die im Pflegeheim eine neue Beziehung beginnt, wurde Julie Christie als beste Hauptdarstellerin und Polley für das beste adaptierte Drehbuch für einen Oscar nominiert. Ihr zweiter Film TAKE THIS WALTZ mit Michelle Williams in der Hauptrolle war auch in Deutschland ein Arthouse-Erfolg und erhielt größtenteils euphorische Kritiken. Auch da ging es um eine verheiratete Frau, die sich neu verliebt.
Sarah Polleys neuer Film STORIES WE TELL, ihr erster Dokumentarfilm, sprengt die Grenzen des Genres. Ihrem Thema, der Frage, ob Liebe auf eine Person beschränkt sein muss, bleibt Polley dabei treu. STORIES WE TELL handelt von Polleys eigener Familie - von ihrer früh verstorbenen Mutter Diane, von deren Ehe zu Polleys Vater Michael, und von einer Affäre, die die lebenshungrige Schauspielerin möglicherweise während eines Gastspiels in Montreal gehabt haben könnte. Im Haus der Familie Polley war es ein running gag, dass Sarah mit den rotblonden Haaren ganz anders aussah als die anderen Kinder. Auch Vater Michael, der nach Tod der Mutter allein mit der damals elf-jährigen Sarah lebte, beteiligte sich an den Witzeleien und Spekulationen. Dann tauchen auf einmal Gerüchte auf, dass der Schauspieler Geoff Bowes ein Verhältnis zu Diane Polley gehabt haben soll…
In STORIES WE TELL rekonstruiert Sarah Polley gemeinsam mit Freunden und Familie, was sich damals zugetragen hat und wie die Beteiligten und Augenzeugen die Geschichte erlebt haben. Sie lässt ihren Vater eine Erzählung vorlesen, die er über seine Liebe zu Diane geschrieben hat. Sie lässt ihre Geschwister, Freunde und mögliche Liebhaber ihrer Mutter berichten. Sie fordert: „Erzähl mir die ganze Geschichte! So als ob ich sie nicht schon kennen würde.“ Und die Freunde und Familienmitglieder werfen sich in Pose und beginnen von Diane zu erzählen. Das tun sie so liebevoll, dass die Geschichte die von Lügen, Geheimnissen und Verwerfungen handeln könnte, zu einer Geschichte über Liebe, Familie und Respekt wird.
STORIES WE TELL ist eine Hommage an die Kraft des Erzählens. Um die Wahrheit dessen, was sich zugetragen hat, geht es letzten Endes gar nicht. Die Fakten stehen nicht zur Debatte. Die Suche nach einer Wahrheit wäre das Gegenteil dessen, worauf es in den STORIES WE TELL ankommt: auf das Fabulieren, auf die Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, auf diese ganz persönliche Wahrheit, die gar nicht anders kann als auf einer (Selbst-)Täuschung zu beruhen. In jeder Geschichte gibt es eine Erfindung - wenn nichts anderes, dann die Selbsterfindung des Erzählers oder der Erzählerin. Eine Geschichte ist eine Selbstbehauptung.
Mit STORIES WE TELL schließt Polley an eine Tradition des Fabulierens im kanadischen Kino an, die vor allem auf den in Deutschland praktisch unbekannten Regisseur Pierre Perrault, dem Orson Welles des kanadischen Dokumentarfilms, zurückgeht. Perraults Filme schildern die Rekonstruktion einer Tradition auf der Grundlage nicht gerade zuverlässiger Zeugen. In den frühen sechziger Jahren filmte Pierre Perrault in POUR LA SUITE DU MONDE beispielsweise die Erzählungen eines alten Mannes in einem Dorf in Quebec, der die alte Walfangtechnik seiner Kindheit schilderte. Die Erzählung zeugt ein Monstrum: einen Beluga-Wal, den die Dorfbewohner auf die alte Methode fangen und später in einem Aquarium bestaunen. Sarah Polleys Erzählungen erzeugen ebenfalls ein - sehr charmantes - Monstrum: nämlich einen zweiten Vater.
Auch die Bilder fabulieren in STORIES WE TELL: Sarahs Vater Michael Polley erzählt am Anfang des Films, dass seine Frau auf der Hochzeitsreise manchmal von der Filmerei mit seiner neuen Super-8 Kamera genervt gewesen sei. Dann sieht man diese wunderschönen, körnigen Super-8 Aufnahmen. Der Vater sagt, er habe immer dann weggeschwenkt, wenn man beginnt, sich für die Personen zu interessieren, und auch das sieht man. Aber irgendwann sieht man dann auch Aufnahmen von einem Gastspiel der Mutter in Montreal, bei dem der Vater mit seiner Kamera gar nicht dabei gewesen sein kann. Die Aufnahmen müssen nachinszeniert sein, aber sie sehen aus, als wäre das unmöglich. Die filmische Erzählung tarnt sich als Wahrheit, und entlarvt sich am Ende als eine weitere Erzählung, kein Abbild, sondern ein Bild, das man sich macht.
STORIES WE TELL ist ein hinreißender Film über eine Familie, die ihre Krisen mit Liebe, Kreativität und Geschichtenerzählen bewältigt. Allerdings sollte man gut Englisch können. Sonst wird es schwierig, den vielen Geschichten und raffinierten Nuancen über die Untertitel zu folgen. Aber es ist ein leicht verständliches Englisch mit einem unproblematischen Akzent.

Tom Dorow

Details

CDN 2012, 108 min
Genre: Essayistischer Film
Regie: Sarah Polley
Drehbuch: Sarah Polley
Verleih: Fugu
Kinostart: 27.03.2014

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