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Sigmund Freud – Freud über Freud

Intellektueller und historischer Prozess

David Tebouls exzellenter Dokumentarfilm besteht ausschließlich aus Selbstzeugnissen und Korrespondenzen Freuds, die Tebouls assoziativ mit Archivaufnahmen und Familienfilmen der Freuds verbindet.

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Die Entdeckung des Unbewussten durch Sigmund Freud geschah zugleich mit der Erfindung des Films. Wann Freud den ersten Film gesehen hat, ist nicht sicher. Die Familie Freud begann jedenfalls, selbst zu filmen, sobald Schmalfilme verfügbar waren. David Tebouls exzellenter Dokumentarfilm besteht ausschließlich aus Selbstzeugnissen und Korrespondenzen Freuds mit seinen Töchtern Anna und Lucie Freud, Freund*innen und Mitarbeiter*innen wie Lou Andreas Salomé, Marie Bonaparte, Wilhelm Fließ und Carl Gustav Jung. Freuds eigene Texte verbindet Teboul mit assoziativen Archivaufnahmen, die den Film selbst in eine Art tastenden Traum von 20. Jahrhundert verwandeln, und später mit Filmaufnahmen, die Anna Freud und Marie Bonaparte gedreht haben.
Tebouls facettenreicher Film stellt Freuds Sprache und Denken in den Mittelpunkt, und Freuds präzises, lebendiges Erzählen fasziniert ebenso wie sein stets forschendes Nachdenken. Teboul stellt Freuds Überlegungen in den historischen Kontext, vielleicht sogar etwas überdeutlich, etwa wenn der Film den Todestrieb als unmittelbare Folge der Kriegserfahrung versteht, obwohl Freuds intellektueller Prozess den Gedanken eher von seinen Überlegungen zum Masochismus herleitet. Teboul stellt die Eigenständigkeit der Entwicklung von Freuds Denken und der Psychoanalyse hinter deren Historizität zurück, aber sein Film erzeugt dadurch ein geistiges Zeit-Bild des 20. Jahrhunderts. Bilder von einer Massengymnastik-Schau zeigen die „moderne“ Zurichtung der Körper und deuten auf die Massenornamente des Faschismus hin, sie kommentieren aber auch den Kontrast zwischen Freuds Nachdenken über die psychischen Bedingungen von körperlichen Symptomen und der bürgerlichen Kontrolle insbesondere von Frauenkörpern – und soldatischen Körpern. Eine faszinierende und berührende Biografie, aber keine Einführung in die Psychoanalyse.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Sigmund Freud, un juif sans Dieu
Frankreich/Österreich 2020, 97 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: David Teboul
Drehbuch: David Teboul, François Prodromidès
Kamera: Martin Roux, Richard Copans
Schnitt: Caroline Detournay
Musik: Mathieu Lamboley
Verleih: Film Kino Text
Kinostart: 05.05.2022

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