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Shirley (2020)

Berlinale Encounters: Furchtlos und Radikal

Deckers Film über eine fiktive Episode im Leben der exzentrischen Schriftstellerin Shirley Jackson ist ein Hochgeschwindigkeits-Spitzentanz auf dem Drahtseil, der filmische Konventionen über Bord wirft und eigentlich jederzeit abstürzen müsste, aber auf magische Weise die Spannung hält.

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Berlinale Encounters: Es hat jede Menge Vorschusslorbeeren für Josephine Deckers Film SHIRLEY gegeben, der bereits beim Sundance Festival enthusiastische Kritiken erhalten hat, ebenso wie Deckers Film MADELINE’S MADELINE von 2018. Letzterer lief nicht in den deutschen Kinos, und für SHIRLEY hat sich offenbar auch noch kein deutscher Verleih gefunden, zumindest gibt es keinen offiziellen Starttermin. Das ist ärgerlich, denn SHIRLEY ist einer der furchtlosesten und radikalsten Filme der letzten Jahre und bisher der aufregendste Film der Berlinale.

Die SHIRLEY des Films ist die Autorin Shirley Jackson, deren Kurzgeschichten und Romane zu den Klassikern des American Gothic gehören und gerade eine Renaissance als Kinofilme und TV-Serien erleben, so zuletzt im nicht ganz gelungenen WE HAVE ALWAYS LIVED IN THE CASTLE und in der Netflix-Serie THE HAUNTING OF HILL HOUSE – bereits die dritte Adaption des Stoffes, am berühmtesten ist die Version von Robert Wise von 1963 (THE HAUNTING).

Die junge Rose (Odessa Young) liest im Zug die im New Yorker veröffentlichte Geschichte THE LOTTERY von Shirley Jackson. Im Fenster spiegeln sich unscharf die strahlenden Herbstfarben Vermonts, Schatten flackern über ihr Gesicht. Sie blickt auf und strahlt ihren Ehemann (Logan Lerman) an: „Sie steinigen sie, Fred!“ Die Story über ein Dorf, das jährlich bei einer festlichen Lotterie ein Opfer auswählt, das gemeinsam hingerichtet wird, hat sie sexuell erregt, aber der Sex im Eisenbahnabteil könnte auch nur eine Fantasie sein. Rose und Fred sind auf dem Weg zum Bennington College, an dem Shirley Jacksons Ehemann Stanley Hyman (Michael Stuhlbarg) unterrichtet. Fred soll eine Assistenzstelle antreten, und für die erste Zeit wird das Paar bei Hyman und Jackson im Haus leben. Sie geraten mitten in eine Party anlässlich der Veröffentlichung von Shirleys Story im New Yorker. Shirley (furios: Elizabeth Moss) hält auf einem Sessel Hof, während Stanley, übergriffig und aufdringlich, die Gäste begrüßt. Ein Pointen-Schlagabtausch zwischen Stanley und Shirley, der so aggressiv wie erotisch wirkt, macht ihre komplexe Beziehung deutlich. Am nächsten Tag wird klar, dass Stanley eigentlich keinen Assistenten braucht, sondern eine Haushälterin, die zugleich ein Auge darauf hat, dass Shirley aufsteht, isst, schreibt, und überhaupt überlebt. Shirley hat seit langem das Haus nicht mehr verlassen und ist nur mit einer Zigarette, die Stanley ihr zwischen die Lippen schiebt, zum Aufstehen in der Lage. Zwischen Rose und der abweisenden, aggressiven Shirley entwickelt sich allmählich ein Verhältnis von magischer und erotischer Verführung und scheinbarer Vertrautheit.

Soweit die Geschichte, aber was Josephine Decker daraus macht ist nicht nur ein hinreißendes Porträt von Paardynamiken, den Lebenshöllen in Kleinstädten und den frustrierenden Erfahrungen von Frauen in den 50er Jahren. Deckers Film ist ein Hochgeschwindigkeits-Spitzentanz auf dem Drahtseil, der filmische Konventionen über Bord wirft und eigentlich jederzeit abstürzen müsste, aber auf magische Weise die Spannung hält. Eine Fakultätsparty beim Dekan des Colleges wird zu einem ekstatischen Höllenritual, Collegegirls führen seltsam erotische Tänze in Bäumen auf, während Rose ihre Hoffnungen darauf begräbt, ihr Studium fortsetzen zu können. Körperteile und Objekte erscheinen fragmentiert und oft unscharf auf der Leinwand und führen ein Eigenleben als magische Alltagsfetische. Eine subtile Bedrohung durchzieht den Film, während Rose und Shirley über eine verschwundene Studentin reden, die zur Hauptfigur in Shirleys Roman „Hangsaman“ werden soll, aber mindestens von Rose inspiriert ist, wenn die Figuren nicht identisch sind. Die düster-mythischen Folkballaden, die Stanley in seinen Seminaren analysiert, darunter Leadbellys „The Gallis Pole“ und Clarence Ashleys „The House Carpenter“, die heute noch so weltfern klingen wie zu ihrer Veröffentlichung auf Harry Smiths „Anthology of American Folk Music“ von 1952, unterstützen die Atmosphäre, in der sich erotisches Begehren, wütende Kreativität, die stickige Luft der Depression und die Wucht körperlicher Präsenz durchmischen. Deckers Film ist auch ein Plädoyer für das Außenseitertum der Außenseiter*innen, gegen das vorschnelle Urteil über die Exzentritäten kreativer Paar-Beziehungen. Ein wildes, wüstes, völlig freies Post-Gothic-Meisterwerk, das unbedingt auch in die deutschen Kinos gehört.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Shirley
USA 2020, 106 min
Sprache: Englisch
Genre: Biografie, Drama
Regie: Josephine Decker
Darsteller: Elisabeth Moss, Michael Stuhlbarg, Odessa Young

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