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Rimini

Die Zeit steht nicht still

Michael Thomas singt und spielt den Schlagersänger Richie Bravo, der durch das winterliche Rimini zieht. Wo im Sommer die Adriaküste mit Touristen zugepackt ist, wabert jetzt der Nebel. Schnee fällt auf Palmen, und unter den Dächern der Strandhütten kauern Geflüchtete.

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In Uli Seidls RIMINI geht es eigentlich um Sehnsucht und Schlager, aber auch um ein altes Ideal eines egomanischen Künstlers, das zerbröselt. Manchmal holt die Kunst die Realität ein, und so befindet sich der Regisseur selbst derzeit in der Mitte einer Diskussion über ausbeuterische Tendenzen im Film. Am 3.9.2022 veröffentlichte das Magazin "Der Spiegel" eine Recherche über den Dreh des österreichischen Regisseurs zum RIMINI-Nachfolger SPARTA, der im Herbst auf Festivals debütieren soll. SPARTA wurde in einer kleinen Ortschaft in Rumänien gedreht, mit Laien als Neben-Cast. Seidl-typisch. Mit der Spiegelrecherche stehen Berichte der darstellenden Kinder, ihrer Eltern und Anwesender am Set im Raum, die Familien seien nicht über den Inhalt des Films aufgeklärt und die Kinder übergriffigen, teils gewaltvollen Situationen durch die Produktion ausgesetzt gewesen. Seidl veröffentlichte ein Statement dazu, das widerspricht, ohne auf die beschriebenen Situationen einzugehen.

Uli Seidls Filme schauen an die Seitenränder der Gesellschaft, in die Abgründe. Es gibt schiache Szenen, wie es in Österreich heißt. Gewalt, Sex, Einsamkeit, Wahn. Es ist nicht das erste Mal, dass Seidls Arbeit mit Laiendarsteller*innen in diesem Kontext hinterfragt wird. Die Vorwürfe zum SPARTA-Dreh sind konkret und heftig und müssen aufgeklärt werden - und das auch weiterdenkend. Dass Dreharbeiten mit Kindern und Laiendarsteller*innen oft nicht genügend überwacht, betreut und geplant werden, dafür gibt es etliche Beispiele, eines ist Sarah Polleys Erfahrung als Kinderdarstellerin in Terry Gilliams DER BARON VON MÜNCHHAUSEN.

RIMINI und SPARTA sind inhaltlich verbunden durch ihre Protagonisten und waren ursprünglich als ein Film geplant. Es geht um zwei Brüder. Der eine lebt als abgehalfterter Schlagerstar im italienischen Rimini. Der andere, ein Jugend-Sporttrainer in Rumänien, hat pädophile Gedanken. In Österreich sitzt der demenzkranke Vater im Heim. Michael Thomas singt und spielt den Schlagersänger Richie Bravo, der durch das winterliche Rimini zieht. Wo im Sommer die Adriaküste mit Touristen zugepackt ist, wabert jetzt der Nebel. Schnee fällt auf Palmen, und unter den Dächern der Strandhütten kauern Geflüchtete. Richie geht an ihnen vorbei, im Pelzmantel, die Schultern hochgezogen. Er geht in Hotels, trifft sich mit Fans. Schläft mit den älteren Frauen. Betrinkt sich und singt. Richie verkauft die Sehnsucht nach der wahren Liebe, in seiner Musik und als sexuelle Dienstleistung. Aber das Geld ist knapp, die guten Zeiten sind vorbei.

Seidls Bildsprache ist ikonisch, atmosphärisch, gleichzeitig zärtlich und harsch. Auch RIMINI lebt davon. Richies kerniger Körper im enganliegenden Goldanzug, langes, blondgesträhntes Haar steht er vor einem Panoramafenster und singt inbrünstig. Hinter den Scheiben rast der Verkehr. Die Zeit steht nicht still, und Richie kommt nicht hinterher. Seine Sprache ist rassistisch, sein Blick auf die Welt eigennützig. Als seine Tochter auftaucht, um die er sich nie gekümmert hat, will sie statt der großen Versöhnung, wie sie Richie fantasiert, einfach Geld als Wiedergutmachung. Richie beschafft es, aber versteht nicht, was seine Tochter ihm vorhält, wie alles, was nicht in seine Richie-Welt passt. Während er sich besäuft und bemitleidet, sieht er nicht die Verbindung zu den Menschen um sich, zu seiner Tochter und den Geflüchteten, die sich bald in seinem Garten einrichten. Wie ihn treibt sie die Sehnsucht nach einem besseren Leben nach Rimini. Richies Einsamkeit ist nicht die eines alternden Künstlers, sondern die eines aus der Zeit gefallenen. Für Richie Bravos ist kein Platz mehr, außer der Nostalgie.

Clarissa Lempp

PS: Ergänzung vom 5.10.: Inzwischen hat sich Ulrich Seidl auch ausführlicher zu den Vorwürfen geäussert, unter anderem in einem Interview im profil Magazin

Details

Österreich/Deutschland/Frankreich 2022, 114 min
Genre: Drama
Regie: Ulrich Seidl
Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz
Kamera: Wolfgang Thaler
Schnitt: Monika Willi
Musik: Fritz Ostermayer, Herwig Zamernik
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Darsteller: Michael Thomas, Hans-Michael Rehberg, Tessa Göttlicher, Inge Maux, Claudia Martini, Georg Friedrich
FSK: 12
Kinostart: 06.10.2022

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