Vor einem Montrealer Gericht wird ein abscheulicher Fall verhandelt. Ein Mann soll mehrere junge Mädchen brutal ermordet und Videos der Tat ins Darknet gestellt haben, in sogenannten „Red Rooms“. Im Gerichtssaal sitzen neben den verstörten Angehörigen Tag für Tag auch zwei junge Frauen. Die eine, Clementine (Laurie Babin), ist ein Groupie, fanatisch überzeugt von der Unschuld des Angeklagten. Was die andere, Kelly-Anne (Juliette Gariépy) antreibt, ist schwerer zu durchschauen. Mitleid? Rache? Langeweile? Perversion? RED ROOMS hat die Anlage zum Exploitation-Thriller, erzählt aber betont kühl und gegen die Konventionen des Genres. Die Musik, die über der Exposition liegt, ist so angenehm und beruhigend, dass man sie gut zum Nachmittagstee hören könnte. Die schockierenden Videos sind nicht zu sehen, stattdessen wird die Tat in dem minutenlangen Eröffnungsplädoyer der Staatsanwältin nacherzählt. Die Kamera verlässt den Gerichtssaal dabei nicht, hört konzentriert zu, wie die Jury und das Publikum im Saal. Ebenso gebannt verfolgt man als Kinozuschauerin die Vorgänge, sucht nach Verbindungen und Hinweisen, rätselt, wer die Wahrheit sagt und wo das hinführen wird. Die Hauptfrage ist dabei nicht, ob Ludovic Chevalier die Tat begangen hat oder nicht, sondern, was Kelly-Anne eigentlich vorhat. Wenn sie nicht vor dem Gericht übernachtet, um keine Minute des Prozesses zu verpassen, arbeitet sie als Model, Markenzeichen „edgy“/gefährlich. In ihrer Wohnung im modernen Hochhaustower hat sie einen weiten Blick über die nächtliche Stadt, aber keinerlei persönlichen Gegenstände. In ihrer Freizeit recherchiert sie dem Fall hinterher und offenbart dabei weitreichende Computerkenntnisse. Die Fragen und die eigentümliche Faszination, die von Pascal Plantes Erzählfluss ausgeht, bleiben nach dem Film hängen.

Hendrike Bake