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Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Dilemma

Rabiye Kurnaz, türkische Hausfrau und Mutter und in juristischen und politischen Dingen ahnungslos, kämpft fünf Jahre lang mit Hilfe eines deutschen Menschenrechtsanwalts um die Freilassung ihres Sohns aus dem Gefangenenlager Guantánamo.

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Wenn die Geschichte nicht nachprüfbar wäre, würde man den Plot von Andreas Dresens neuem Film für zu schön um wahr zu sein halten. Rabiye Kurnaz, türkische Hausfrau und Mutter und in juristischen und politischen Dingen ahnungslos, kämpft fünf Jahre lang mit Hilfe eines deutschen Menschenrechtsanwalts um die Freilassung ihres Sohns aus dem Gefangenenlager Guantánamo, zieht bis vor den Supreme Court der USA und ist schließlich erfolgreich. Murat Kurnaz wird entlassen, von allen Vorwürfen freigesprochen und lebt seitdem unbehelligt als Sozialarbeiter in Bremen. Das ist ein Stoff für Hollywood, die klassische Geschichte vom scheinbar chancenlosen Underdog, der am Ende gegen alle Widerstände triumphiert. Andreas Dresen und Drehbuchautorin Laila Stieler erzählen die Geschichte aus der Perspektive von Murats Mutter Rabiye und Anwalt Bernhard Docke, ihren unermüdlichen Kampf gegen Unrecht, juristische Fallstricke und die Ignoranz deutscher Behörden. Vor allem aber erzählen sie eine herrliche Komödie über die unverhoffte Freundschaft der beiden, wunderbar gespielt von Meltem Kaptan und Alexander Scheer.

Ich wollte ja sehr kritisch sein, weil mir das schon in der Vorberichterstattung alles viel zu schön vorkam. Und dann hat mich der Film doch gewonnen, ich habe mich doch etwas verliebt in die fulminante türkische Löwenmutter und ihren stieseligen deutschen Anwalt, es ging nicht anders. Der Berlinale-Preis für die beste Hauptdarstellerin an Meltem Kaptan ist mehr als verdient, sie gibt dem Film sein Energiezentrum und haut Pointen raus, dass es eine Freude ist. Man hätte auch Alexander Scheer den Nebenrollen-Preis geben können, die Sache lebt von ihrem Zusammenspiel, ihrer Power, seiner Präzision, ihrer Naivität, seiner aufopfernden Beharrlichkeit. Dresens Film ist herzerwärmend, witzig und es tut gut, auch mal eine so gekonnt gemachte Geschichte über gute Menschen zu sehen. RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH ist kein Film über Guantánamo, es ist die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft. Das ist das Schöne und das ist das Problem und die Kritik daran. Man fühlt sich so überaus wohl im Kino, dass das Thema seinen Schrecken verliert.

Das Grauen, das Guantánamo bedeutete, die Entrechtung, Folter und sadistische Quälerei bleiben durch die gewählte Erzählperspektive draußen, dringen nicht ein in den Kosmos dieses Films. Ein einziges Mal gibt es einen kurzen Ansatz in die Richtung, da läuft in Washington im Hotelfernseher die Enthüllungsnachricht über Folter in Guantánamo und den Protagonisten dämmert, dass es Murat dort noch schlechter geht als sowieso schon angenommen. Und was macht das Drehbuch mit diesem Moment? Es nimmt ihn zum Anlass für einen der witzigsten Dialoge des Films, ein Meisterstück der Situationskomik, wieder muss man lachen und wieder muss man sich keine echten Sorgen machen, denn man ist ja bei Rabiye und Bernhard, und bestimmt wird am Ende alles gut.

Das grundsätzliche Problem ist ein ähnliches wie bei PERSISCHSTUNDEN, wo ein KZ-Häftling überlebt, indem er sich als Perser ausgibt, eine Sprache erfindet und schlauer ist als die blöden Nazis. Indem man einer Figur beim Überleben zuschaut, wird das Massensterben drumherum erträglich und der Film trotz des Holocaust-Themas ein befriedigendes, gut unterhaltendes Kinoerlebnis. Auch Roberto Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN kommt einem in den Sinn, auch so ein „schöner KZ-Film“, den man wegen seiner Komik und Wärme genießen kann. So groß ist das Gefälle zwischen Gegenstand und Machart bei Dresen nicht. Trotzdem ist die Frage, ob man dem Thema gerecht wird mit einem so wohltuenden, tröstlichen Film, ob das nicht eine unfassbare Verharmlosung ist, ob man in einem Film über Guantánamo nicht zumindest in ein paar Momenten mal das Grauen spüren müsste. Ein Film wie dieser wird viel mehr Publikum finden und vielleicht dadurch mehr Bewusstsein schaffen, kann man dagegen wieder argumentieren, auf einen schlimmen Film über Guantánamo hat gerade niemand Lust. Das stimmt. Und Filmen vorschreiben, was sie dürfen und was nicht, das darf man schon mal gar nicht. Trotzdem bleibt es ein moralisches Dilemma. Und ich kriege es nicht gelöst.

Susanne Stern

Details

Deutschland/Frankreich 2022, 100 min
Sprache: Deutsch, Türkisch, Englisch
Genre: Drama
Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Laila Stieler
Kamera: Andreas Höfer
Musik: Johannes Repka
Verleih: Pandora Film
Darsteller: Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Cornell Adams, Anthony Cook, Henry Appiah
FSK: 6
Kinostart: 28.04.2022

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