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20.000 Days on Earth

Stylishes, amüsantes und mitreißendes Nick Cave-Portrait

Die Dokumentation mit verspielten Elementen schildert den fiktiven zwanzigtausendsten Tag Nick Caves auf der Erde.

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Als Nick Cave noch in Berlin wohnte, ging er eventuell gern in die Turbine in der Rosenheimer Straße. Jemand, der ihm extrem ähnlich sah, tauchte jedenfalls fast jedes Wochenende in vollem Nick Cave-Ornat in dem Club auf, in dem Motte, bevor er seinen Techno-Doktor hinlegte, alle möglichen Non-Techno-Platten auflegte. Es ging aber mindestens in einer dem Autor damals bekannten Mädchenclique das Gerücht, es handle sich bei der Person, die immer wieder in der Turbine erschien, in Wirklichkeit nicht um Nick Cave, sondern um dessen blöden Bruder, der gar keine Musik machen würde, und auch sonst total langweilig wäre. Der Typ würde in einem miesen Rattenloch wohnen und angeblich Maler sein, aber nur mieses Zeug kritzeln.
Vielleicht hat Nick Cave den Bruder selbst erfunden. Gegeben hat es ihn jedenfalls nie. Eine Notwendigkeit sich zu tarnen gab es allerdings auch nicht. Im West-Berlin der 80er Jahre wäre es verpönt gewesen Szeneprominenz zu belästigen. Das hätte das eigene Image übel beschädigen können. Aber die Idee, einen langweiligen Doppelgänger zu erfinden passt zu jemandem, der erst mit seiner Familie nach Brighton zieht, in den verregnetsten Badeort Europas, um dann ein Tagebuch zu beginnen, dessen Inhalt vor allem darin besteht, sich über das Wetter zu beschweren: die „Weather Diaries“.
Mit 20.000 DAYS ON EARTH kommt im Oktober ein halb-fiktiver Dokumentarfilm über Nick Cave ins Kino. Nun sind Rock-Dokumentationen an sich ein so idiotisches Genre, dass die besten – THE RUTLES – ALL YOU NEED IS CASH und THIS IS SPINAL TAP – Parodien sind. Selbst an den RUTLES und SPINAL TAP haben aber Beatles- bzw. Metal-Fans am meisten Spaß. Auch 20.000 DAYS ist ein Film für Nick Cave-Fans. Was der Film anderen Rock-Dokumentationen voraus hat, ist dass Cave immer schon, auf eine sehr ernstzunehmende Art und Weise, auch eine hinterhältige Parodie seiner selbst war, und dass die Filmemacher damit raffiniert spielen.
Der Film schildert den fiktiven zwanzigtausendsten Tag Nick Caves auf der Erde. Ein altmodischer, aber geschmackvoll verchromter Reisewecker klingelt morgens um sieben in Caves Schlafzimmer, wo der Sänger und Schriftsteller bereits mit offenen Augen vor sich hin grübelt. Caves Stimme beginnt aus dem Off zu erzählen: Am Ende des 20. Jahrhunderts habe er aufgehört ein Mensch zu sein. An seinem sorgfältig mit großen Werken drapierten Schreibtisch tippt er, perfekt gekleidet, in eine altmodische Schreibmaschine, als ihn ein Anruf einer anonym bleibenden Assistentin, die ihm die Termine des Tages durchgibt, erreicht. Management des großen Kunstunternehmens, das Nick Cave heißt: Therapeut, Lunch mit Warren Ellis, Archiv. Zwischendurch erscheinen die Geister von Blixa Bargeld und Kiley Minogue in Caves Auto. Vermutlich ist alles ein Fake.
Im Gespräch mit einem sensiblen Therapeuten-Lookalike spricht Cave über seine Kindheit, seine Eltern und über seinen bewussten Entschluss, Rockstar zu werden. Schnell kommt er zu einem Punkt, der zum eigentlichen Leitmotiv des Films wird. Während der besten Konzerte finde eine Art Verwandlung statt, sagt Cave, eine Transformation, die das eigentlich Geheimnisvolle an der Musik sei, und der Grund, warum er immer wieder dazu zurückkehre.
Cave erzählt von einem Konzert mit Nina Simone, deren „Sinnerman“-Beat die Bad Seeds für ihren Song „Supernatural“ schon einmal adaptierten. Mit übler Laune habe die sich zu Beginn eines Konzertes an den Bühnenrand gestellt, das Publikum verbissen niedergestarrt, sei dann schwankend ans Klavier getreten und habe einen gewaltigen Akkord so brutal in die Tasten gedonnert, dass ihm der Atem gestockt habe. Eine Stunde später habe Dr. Simone gemeinsam mit dem Publikum am Bühnenrand getanzt. Das sei die Art von Transformation, die Cave anstrebe, eine Form von Magie der Bühne.
Wenn er über diese, wie er sagt „magische“ und „geheimnisvolle“ Verwandlungskraft spricht, ist Cave absolut ernsthaft, leidenschaftlich und total glaubwürdig. Nick Cave und sein langjähriger partner in crime Warren Ellis sprechen beim Lunch über das gleiche Thema, und Ellis erzählt von einem Konzert des „Killers“ Jerry Lee Lewis. Der Killer habe kaum noch laufen können, aber bei „Great Balls of Fire“ sei er so unter Strom geraten, dass er einfach auf das Piano steigen musste. Drei Leute hätten ihn herunterholen müssen.
Verwandlung ist Caves großes Motiv. Zuerst habe er sich, früh, als Rockstar erfunden, erzählt er Schauspieler Ray Winstone, der im Video zu Caves „Jubilee Street“ auftritt. Als Rockstar, den man mit einem Strich malen könne. Jetzt geht es um die Verwandlung durch die Musik, auf der Bühne, auch durch die Worte, die er singt. Jede kleinste Idee ist dafür wichtig. Cave schreibt nicht mehr am Computer, weil die Verlockung zu groß ist, Ideen zu löschen. Ein zweiter Strang des Films zeigt die Entstehung der Songs „Higgs Boson Blues“ und „Push the Sky away“ vom letzten Album von Nick Cave and the Bad Seeds, von ersten Ideen bis hin zum fertigen Song, live präsentiert mit Band, Streichern, Kinderchor, ekstatisch beseelten Fans und einem überlebensgroßen Nick Cave in vollster Glorie. Zuletzt singt er „Jubilee Street“, entfesselt: „I´m transforming. I´m vibrating. I´m glowing. I´m flying. Look at me now.”

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Nick Cave – 20.000 Days on Earth
Großbritannien 2014, 95 min
Sprache: Englisch
Genre: Essayistischer Film, Musikfilm
Regie: Iain Forsyth, Jane Pollard
Drehbuch: Nick Cave, Iain Forsyth, Jane Pollard
Kamera: Erik Wilson
Schnitt: Jonathan Amos
Musik: Nick Cave, Warren Ellis
Verleih: Rapid Eye Movies
Darsteller: Nick Cave
FSK: 6
Kinostart: 16.10.2014

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