Für die Beerdigung seines ehemaligen Lehrmeisters kehrt Jérémie (Félix Kysyl) nach Saint-Martial im Südosten Frankreichs zurück. Während Witwe Martine (Catherine Frot) ihn herzlich empfängt, sieht Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand) in dem ehemaligen Jugendfreund einen unerwünschten Eindringling. Dass diesen mit dem Verstorbenen mehr als ein gutes Arbeitsverhältnis verband, verrät Jérémies sehnsüchtiger Blick auf ein Badehosen-Foto Jean-Pierres. Aus einer harmlosen Übernachtung werden auch schnell Tage, und als Jérémie dann noch die Kleidung seines Vaters trägt, wächst Vincents Unbehagen zu einer bedrohlichen Spannung. Die becircende Präsenz des Wiederkehrers mit den schönen großen Augen löst jedoch nicht nur bei Martine und Vincent verschwiegene Gefühle aus – auch Bauer Walter und der Dorfpriester projizieren ihre unterdrückten Sehnsüchte auf ihn. Als Grobian Vincent verschwindet, sieht sich Jérémie bald von einem beharrlichen Ermittlerduo verfolgt, das seine Geheimnisse zu lüften droht.

MISERICORDIA (lateinisch für Barmherzigkeit) spielt in einem sterbenden Provinznest, beste Bühne für skurrile Charaktere und absurde Heimlichkeiten. Auf seinen Streifzügen durch entzückende Landschaften und die Fantasie der Dorfbewohner*innen prügelt Jeremie sich im nächtlichen Wald sinnlich mit Vincent, trinkt Pastis in beklemmenden Bauernküchen oder sammelt in der Herbstsonne mysteriöse Morcheln mit dem aufdringlichen Priester. Alain Guiraudie (DER FREMDE AM SEE) lässt in seinem augenzwinkernden Genre-Mix aus Film Noir, Dorfkrimi und Erotik menschliche Begierden und Unsicherheiten aufeinanderprallen. Dabei setzt er nicht auf Sex und Action, sondern auf sich langsam entspinnende Suspense-Momente und die atmosphärischen Bilder der Kamerafrau Claire Mathon (PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN)

Clarissa Lempp