Magazin für unabhängiges Kino
Filmwecker
Filmnotiz

Neue Notiz

Miles Davis – Birth of the Cool

Musik und Stil

Stanley Nelsons Film über Miles Davis ist eine der besseren Musikerbiografien der letzten Jahre, ohne dass sie sich formal unbedingt von anderen unterscheidet.

Mehr

“Ich möchte mich so fühlen, wie Miles Davis spielt” sagt die Autorin Farah Griffin in Stanley Nelsons exzellentem Dokumentarfilm MILES DAVIS – BIRTH OF THE COOL. Wer würde das nicht gern? Kaum ein anderer Musiker ist so unmittelbar identifizierbar. Es reicht einer dieser klaren, entweder gedämpften, oft vibrationslosen Töne, die immer klingen als würden sie direkt über einem Abgrund schweben, als wären sie immer kurz davor zu zersplittern oder zu implodieren, oder einer der messerscharfen ungedämpften Töne, die in die Stille schneiden: Das kann nur Miles sein, mit all seiner Eleganz, Präzision, unsentimentaler Romantik und Wut.

Regisseur Stanley Nelson hat vor MILES DAVIS – BIRTH OF THE COOL zahlreiche politische Dokumentarfilme gemacht, darunter den mit zwei Emmys ausgezeichneten FREEDOM RIDERS über Bürgerrechtsaktivist*innen, die in den 60er Jahren die Rassentrennung durch gemeinsame Bus- und Zugfahrten bekämpften, aber auch Filme über die Black Panthers und über den Mord an Emmett Till. Sein Film über Miles Davis ist eine der besseren Musikerbiografien der letzten Jahre, ohne dass sie sich formal unbedingt von anderen unterscheidet. Es gibt Fotocollagen, die historische Ereignisse und Zeitkolorit vermitteln, viele Fotoporträts und Filmaufnahmen von Miles Davis, eine Off-Erzählung mit Texten aus Miles Davis‘ Autobiografie und viele Talking Heads. Die Musik selbst könnte mehr Raum bekommen, Nelson legt stets nach wenigen Sekunden Text über die Stücke und schiebt Davis‘ eigentliche Kunst in den Hintergrund, aber immerhin lässt Nelson die richtigen Leute reden, und alle haben tatsächlich etwas zu sagen. Und so klappert der Film nicht nur die wichtigsten künstlerischen und biografischen Stationen in Davis' Leben ab, sondern zeigt auch die kulturelle Relevanz von Davis‘ Musik und Stil: die Ablehnung jeder Spur von „Minstrelsy“ im Bebop, also allem, was an die rassistischen „Blackface“-Shows des 19. Jahrhunderts erinnerte, in denen das Stereotyp der immer fröhlichen, tanzenden und singenden, naiv-tumben Schwarzen vermittelt wurde. Dann die Entstehung einer neuen, eleganten, selbstbewussten Schwarzen Männlichkeit im Rassengrenzen überschreitenden Cool-Jazz, die sich in den totschicken und sündhaft teuren Brooks-Brothers-Anzügen, die Davis trug, ebenso spiegelte wie in den urbanen, soundorientierten Arrangements seit den Aufnahmen zu „Birth of the Cool“ von 1949. „Birth of the Cool“ war auch die erste der epochalen Kooperationen von Davis mit dem Arrangeur Gil Evans, die klassische Musik und Jazz zu neuen Klangwelten verbanden. Miles Davis erste Ehefrau, die Tänzerin Frances Taylor, weckte bei Davis die Begeisterung für Flamenco, die zu „Sketches of Spain“ (1960) führen sollte, seine zweite Ehefrau, die feministische Funk-Musikerin Betty Davis, die mit Sly Stone und Jimi Hendrix befreundet war, inspirierte Davis zu den Jazz-Rock-Funk-Experimenten seit „Bitches Brew“ (1970).

Nelsons Film verschweigt nicht die dunklen Seiten von Davis‘ Geschichte, die Alkohol- und Kokainsucht oder die Arroganz, mit denen er Musikerkollegen behandelte (Archie Shepp: „He said: Who are you? Shepp? Fuck you! You can’t sit in with me!“). Aber er zeigt auch den alltäglichen Rassismus, dem Davis in den USA ausgesetzt war. Weniger deutlich wird der Film, wenn es um Davis‘ Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen geht. Frances Taylor berichtet zwar von einem Schlag ins Gesicht, nachdem sie bei einem Clubbesuch angemerkt hatte, dass Quincy Jones ein attraktiver Mann sei. „Das war der erste, aber unglücklicherweise nicht der letzte“, sagt Taylor. Aber Nelson lässt die Interviews mit Davis‘ Partnerinnen auf einem versöhnlichen Schlussakkord enden. „Ich bereue nicht, ich vergebe nicht, aber ich liebe“ sagt Frances Taylor, die Davis auch gezwungen hatte, ihr Engagement bei der ersten Broadway-Produktion von „West Side Story“ aufzugeben. Angesichts der zahlreichen Geschichten über Davis Gewalt gegen Frauen, die im Film nicht erwähnt werden, wirkt das im Film wie eine Absolution.

Miles Davis war eine komplexe Persönlichkeit und eine kulturelle Ikone. Wenn der Schlagzeuger Lenny White sagt: „Wir wollten nicht nur spielen wie Miles Davis, wir wollen Miles Davis sein“, sieht das von heute aus betrachtet vielleicht ein wenig anders aus. Aber der Wunsch, sich so fühlen, wie Miles Davis gespielt hat, das lässt sich kaum vermeiden. Ein paar Töne aus „Sketches of Spain“ oder „Kind of Blue“ und jeder Widerstand schmilzt.

Tom Dorow

Details

USA 2019, 113 min
Sprache: Englisch
Genre: Dokumentarfilm, Musikfilm
Regie: Stanley Nelson
Schnitt: Lewis Erskine, Natasha Livia Mottola, Yusuf Kapadia
Musik: Miles Davis
Verleih: Piece of Magic Entertainment
FSK: oA
Kinostart: 02.01.2020

IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

ALLE ANGABEN OHNE GEWÄHR.
Die Inhalte dieser Webseite dürfen nicht gehandelt oder weitergegeben werden. Jede Vervielfältigung, Veröffentlichung oder andere Nutzung dieser Inhalte ist verboten, soweit die INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) nicht ausdrücklich schriftlich ihr Einverständnis erklärt hat.