Neue Notiz
Midsommar – Director's Cut
MIDSOMMAR ist ein virtuoses Riff über bekannten Akkorden, ein Remix von einst mächtigen Hochkulturmotiven, die hier soweit auf ihren Pop-Faktor heruntergekocht und durcheinandergequirlt werden, dass eine Art Folk-Free-Jazz-Horror entsteht.
Ari Aster hat sich bereits mit seinem ersten Horrorfilm HEREDITARY zwischen alle Stühle gesetzt, sein neuer Film MIDSOMMAR wird vermutlich ähnlich aufgenommen werden: Ein Hit bei der Kritik, aber zu brutal für das Arthouse-Publikum und zu seltsam und selbstironisch für die Jump-Scare-gewöhnte Horrorgemeinde. Wie erwartet sind die ersten Online-Ratings zu MIDSOMMAR entweder überschwänglich oder vernichtend, aber während bei HEREDITARY vor allem das überraschende – und sehr komische Ende – gehasst wurde, gilt MIDSOMMAR seinen Feinden als langweilig und vorhersehbar.
Nun ist MIDSOMMAR mit seinen überdeutlichen Anleihen beim britischen Folk-Horror der sechziger und siebziger Jahre tatsächlich über weite Teile vorhersehbar. Der Film ist eine offensichtliche Hommage an THE WICKER MAN (1973), die Geschichte der glücklichen Insel Summerisle, dessen Lord (Christopher Lee) einen Kult, der auf der Darstellung britischer Religion in Julius Caesars „De Bello Gallico“ beruht, gegründet hat: „Einige Stämme haben riesig große Götzenbilder aus Weidengeflecht, deren Glieder sie mit lebenden Menschen anfüllen; diese werden dann von unten nach oben angezündet und so die Unglücklichen dem Feuertod geweiht“. Es wird Menschenopfer geben, was denn sonst, wenn amerikanische Ethnologie-Studenten einen merkwürdigen Fruchtbarkeitskult in Schweden besuchen? Wenn MIDSOMMAR also vorgeworfen wird, vorhersehbar zu sein, so ist das nicht falsch, aber für diesen Film völlig unwichtig. Die Tradition des Folk-Horror hat selten die spannendsten, aber einige der unterhaltsamsten, zugleich humorvollsten und düstersten, aber auch psychologisch interessantesten Filme hervorgebracht. MIDSOMMAR ist ein virtuoses Riff über bekannten Akkorden, ein Remix von einst mächtigen Hochkulturmotiven, die hier soweit auf ihren Pop-Faktor heruntergekocht und durcheinandergequirlt werden, dass eine Art Folk-Free-Jazz-Horror entsteht. Das beginnt bereits mit einer vierteiligen Bildtafel vor dem eigentlichen Film, gemalt von dem Brooklyner Künstler Mu Pan, die mittelalterliche Altarmotive aufgreift, aber auch an Moritaten-Fahnen erinnert. Wenn man die Auflösung kennt, wird auf Mu Pans Gemälde die ganze Schauergeschichte illustriert, aber auf den ersten Blick ist das Bild ein Rätsel. MIDSOMMAR ist nur zum Teil episches Theater, zum größten Teil ist es eine Moritat, die den Schrecken überdeutlich ausmalt.
Ari Aster hat, bevor er MIDSOMMAR drehte, eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts gelesen, James George Frazers „The Golden Bough“, zuerst von 1906 bis 1915 als 12-bändige Ausgabe herausgegeben und als meterlanger Wissensklotz von jeder europäischen Bibliothek erworben, seit 1922 in einer einbändigen Ausgabe mit rund 600 Seiten ein populärwissenschaftlicher Bestseller. James Joyce, T.S. Eliot, D.H. Lawrence, William Butler Yeats und zahlreiche andere Autor*innen haben aus Frazers ausschweifender ethnologischer Studie über Fruchtbarkeitsrituale und Königs- und Götteropfer geschöpft. Ohne Frazers Werk sind weder C.G. Jungs Ideen vom den Archetypen denkbar, noch der Aufstieg esoterischer Bewegungen seit den sechziger Jahren. „The Golden Bough“ war der Anstoß zu der Idee, dass die „zivilisierte Welt“ auf verdrängten „primitiven“ Ritualen beruht, ein wichtiger Meilenstein literaturwissenschaftlicher Motivforschung, eine koloniale Fantasie und Rechtfertigung, aber auch ein Anstoß zu einem neuen Interesse an „natürlichen“ Religionen und Lebensformen und einer zirkulären Zeitvorstellung. Vor allem aber ist „The Golden Bough“ eine Sammlung von schauerlichen Geschichten, Ritualen, Motiven, Legenden und Anekdoten, aus denen sich großartige Garne spinnen lassen. Dass der große Einfluss von Frazers Buch vielleicht vor allem sensationalistische Gründe gehabt haben könnte, ist ein Verdacht, den offenbar auch Ari Aster hatte. In MIDSOMMAR gibt es einige Szenen, die wie direkte Illustrationen von berühmter Post-Frazer Literatur aussehen. Aus den Zeilen 'That corpse you planted last year in your garden, "Has it begun to sprout? Will it bloom this year?" (“Die Leiche, die du vor’ges Jahr deinem Garten setztest, Schlägt sie schon aus? Wird sie dieses Jahr erblühn?“) in T.S. Eliots „The Waste Land“ (1922) werden in MIDSOMMAR zwei Beine, die aus einem Blumenbeet ragen. Hochkultur als grelle Pop-Groteske.
Es gibt auch einen Plot und eine Rahmengeschichte: Die Ethnologie-Studentin Dani erhält eine grauenhafte Nachricht und findet in ihrer Trauer wenig Unterstützung bei ihrem Uni-Freund Christian und dessen Kumpeln. Hinter Danis Rücken haben die eine Exkursion nach Nordschweden geplant, um eine abgeschiedene heidnische Gemeinde zu studieren. Natürlich fährt Dani dann doch mit, sehr zum Missfallen der Jungs-Gang. Nur der schwedische Kommilitone, der selbst aus der Gemeinschaft stammt, ist verdächtig begeistert. Aber wichtiger als die Story sind die Details und das Vergnügen am Ausmalen des Grotesken: das minutiöse Design des Dorfes und der Gemeinschaft, das unnatürlich strahlende Licht, unter dem der Schrecken sich entfaltet, die Zeichnungen an den Wänden der Gemeinschaftshütte, das Runenbrimborium, der wilde Mix aus Ritualen, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben: Warum sollte im Juli um einen Maibaum getanzt werden oder die Mittsommernacht gefeiert werden? Warum gelingt es niemandem, das Fest zu verlassen?
MIDSOMMAR ist ein grotesker Pop-Tanz über Versatzstücken der westlichen Kulturgeschichte, aber auch der klassischen Moderne, als das Interesse für Ritus und Kult zunächst literarische, später auch politische Formen annahm. Unter dem Kulturgetöse lauerte ein Wüten der Welt gegen sich selbst. Ari Aster kocht das herunter auf Ornamente, Spaß und Schockeffekte und setzt den hochkulturellen Mythos des letzten Jahrhunderts in das richtige Milieu für das aktuelle. Aber MIDSOMMAR ist ja nur ein Horror-Vergnügen, und Aster kündet als nächstes eine romantische Komödie an.
USA 2019, 171 min
Genre: Horror, Mystery
Regie: Ari Aster
Drehbuch: Ari Aster
Verleih: WELTKINO
Darsteller: Florence Pugh, Jack Reynor, William Jackson Harper
FSK: 16
Kinostart: 26.09.2019
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