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Mi país imaginario

In MI PAÍS IMAGINARIO begleitet Patricio Guzmán die Revolte in Chile, die 2019 ihren Ausgang von Protesten gegen die Erhöhung der Metropreise nahm, sich aber bald gegen die noch zu Zeiten der Militärdiktatur verabschiedete Verfassung richteten.

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Patricio Guzmán begann seine Karriere als Filmemacher im Jahr 1970, als er in DAS ERSTE JAHR die Regierung des sozialistischen Politikers Salvador Allende begleitete. Chris Marker half Guzmán, eine Trilogie über die Konterrevolution 1973 fertigzustellen (DIE SCHLACHT UM CHILE, 1975-79). Mit Unterstützung der USA putschte das Militär unter General Pinochet, zwang Allende in den Selbstmord und internierte Zehntausende in Konzentrationslagern – unter ihnen auch Guzmán. Der Regisseur konnte fliehen, tausende andere wurden gefoltert und ermordet. Guzmán lebt seitdem in Paris. Das wiederkehrende Thema seiner Filme ist jedoch Chile geblieben. In über 20 Filmen erschafft er ein immer umfassenderes Bild dieses Landes, ein phantasmatisches Bild, wie der Exilant Guzmán immer wieder betont.

Zuletzt beschäftigte er sich in einer Trilogie mit den Verbindungen von Geschichte, Gesellschaft und Geografie Chiles. Interviews gehen über in Landschaftsaufnahmen, Straßenkämpfe in Naturphilosophie. Jeder Film setzt dabei einen bestimmten Schwerpunkt. In HEIMWEH NACH DEN STERNEN (2010) war es der Sand der Wüste Atacama, in DER PERLMUTTKNOPF (2015) das Wasser der Küste Patagoniens, in KORDILLERE DER TRÄUME (2019) das Gestein der chilenischen Anden. Seine essayistische Erzählung schlägt immer wieder den Bogen zur nationalen Geschichte von Utopie, Gewalt und Trauma. In KORDILLERE DER TRÄUME springt die Kamera von den Bergen zu den Pflastersteinen Santiagos, die aus ihnen gefertigt wurden, nur um nach einiger Zeit die ins Pflaster eingelassenen Gedenktafeln für unter Pinochet ermordete Angehörige zu offenbaren.

MI PAÍS IMAGINARIO schließt hier direkt an an. Zu Beginn des Films liegen Pflastersteine herausgebrochen auf der Straße. Menschen reißen den Boden auf, sammeln und verteilen die Mittel ihres Protests. Hier soll Geschichte geschrieben, nicht bewahrt werden. Auslöser der Revolte war 2019 die Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos, umgerechnet 3 Cent. Von protestierenden Jugendlichen in den U-Bahnhöfen verbreitete sich der Unmut über das ganze Land. Die Verfassung, die die Militärdiktatur unter Anleitung von Milton Freedman verabschiedet hatte, hatte genügend Elend für einen landesweiten Aufstand erzeugt. Präsident Piñera setzte das Militär gegen die eigene Bevölkerung ein, Demonstrant*innen starben, andere wurden im Gefängnis vergewaltigt.

Guzman zeigt aber nicht nur die Schrecken des revolutionären Kampfes, sondern auch seine Schönheit: Das Gedicht eines feministischen Kollektivs wird von hunderten gemeinsam rezitiert; mit Händen, Steinen und Pfannen wird rhythmisch gegen Wände geklopft; Mauern werden bemalt; nicht nur Wut, auch Kreativität steckt immer größere Massen an. Keine der Aktionen ist rein symbolisch, dieselbe Wand, gegen die Pfannen bis zu Klumpen geschlagen werden, wird später mitsamt ihrer betonierten Eisenpfeiler durch die bloßen Hände der Masse niedergerissen.

Diese Aufnahmen sind mitreißend, doch stimmen sie auch traurig: Zwei Monate nach Abschluss der Dreharbeiten wurde die neue Verfassung, für die hier gekämpft wurde, zur Wahl gestellt – und von der Bevölkerung abgelehnt. Das Verfassungskonvent unter Leitung der indigenen Linguistin Elisa Loncón hatte sich mehr auf die Konzeption der neuen Verfassung konzentriert als auf die Kommunikation – und den Einfluss rechter Propaganda auf die ländliche Bevölkerung unterschätzt. Guzmán scheint den gleichen Fehler begangen zu haben. Hatte er sich in den vorherigen Filmen noch bewusst von der Hauptstadt abgewandt, um sein Land zu verstehen, ist MI PAÍS IMAGINARIO fast ausschließlich in Santiago de Chile gedreht. Wie Viele ließ er sich vom Anblick der Massen auf den Straßen verführen – und gibt diese Anblicke als überwältigende Drohnenaufnahmen an sein Publikum weiter.

Guzmán tritt in MI PAÍS IMAGINARIO weniger als Autor in Erscheinung, was konsequent erscheint, da es sich hier nicht mehr um seinen Traum handelt, sondern um den kollektiven Traum eines vielstimmigen Landes. Ebenfalls konsequent ist, dass er nur Frauen interviewt. Die von Guzmán geteilte Euphorie des Wandels macht MI PAÍS IMAGINARIO schon bei seiner Veröffentlichung zu einem historischen Dokument. Aus dem mitreißenden Porträt einer Bewegung wird eine bittersüße Erfahrung. Und ist ein Film über eine Revolution nicht immer schon nostalgisch?

Yorick Berta

Details

Chile 2022, 83 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Patricio Guzmán
Drehbuch: Patricio Guzman
Kamera: Samuel Lahu
Schnitt: Laurence Manheimer
Musik: José Miguel Miranda, José Miguel Tobar
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 13.04.2023

Website
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