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Manchester by the Sea

Trauma und Alltag

Eines Morgens erreicht den verschlossenen Lee, der in Quincy als Hausmeister arbeitet, die Nachricht, dass sein Bruder Jo an einem Herzinfarkt gestorben ist. Lee bricht in die Hafenstadt Manchester-by-the-Sea auf, mit der ich eine traumatische Vergangenheit verbindet.

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Noch kennt kaum jemand in Deutschland den Namen Kenneth Lonergan. Das wird sich mit MANCHESTER BY THE SEA ändern. Lonergan, der hauptberuflich als Bühnenschriftsteller arbeitet, begann seine Filmkarriere mit dem Drehbuch zu REINE NERVENSACHE (ANALYZE THIS, 1999). Mit YOU CAN COUNT ON ME (2000) drehte er wenig später seinen ersten eigenen Film, und für seine Mitarbeit am Drehbuch von Scorseses GANGS OF NEW YORK erhielt er 2001 einen Oscar. Es folgte das Mammutprojekt MARGARET (2011), ein gigantischer finanzieller Flop, der sechs Jahre und vier Schnittfassungen brauchte und dann nur in einigen wenigen Kinos in New York und London zu sehen war, und nun eben MANCHESTER BY THE SEA.

Lonergans Filme und Theaterstücke sind ein Genre für sich, angesiedelt irgendwo zwischen Melodrama und Mumblecore. Sie erzählen große, melodramatische, ja herzzerreißende Schicksale – und das auf die allerunaufgeregteste Weise. Lonergan interessiert, wie die Dinge nach dem Desaster weitergehen und wie sie in der Wirklichkeit laufen. Nicht wie das Trauma entsteht ist entscheidend, sondern wie es – jede Minute jeden Tages - in das individuelle Leben einfließt. Deshalb räumt Lonergan den Schockmomenten selbst wenig Raum ein. In seiner ersten Regiearbeit YOU CAN COUNT ON ME erzählt er von einem Bruder und einer Schwester, die als Kinder beide Eltern in einem Autounfall verloren haben. Das traumatische Ereignis findet ganz zu Beginn des Filmes statt und nimmt keine zwei Minuten in Anspruch. Jahre später, als beide Kinder längst erwachsen sind, besucht Terry seine Schwester Samantha und deren Sohn Rudi in ihrer Heimatstadt. Detailliert schildert Lonergan, wie die drei miteinander umgehen. Eigentlich läuft es nicht so schlecht, aber immer wieder kommen Brüche und Kanten zum Vorschein, Unsicherheiten und Momente unnötig erscheinender Härte. In MARGARET wird die 16-jährige Lisa Zeugin eines Unfalls, den sie selbst mit zu verantworten hat. War die Tochter einer Schauspielerin schon vorher ein explosiver Teenager, dreht sie jetzt völlig frei, und setzt Himmel in Hölle in Bewegung in einem zum Scheitern verurteilten Versuch, das ungeheuerliche Ereignis irgendwie ungeschehen zu machen. Drei unordentliche, geniale Stunden lang beobachtet Lonergan sie dabei. Am Ende gibt es keine Erlösung, aber die Gewissheit, dass alle ihr Leben so weiterführen werden wie bisher. Kopflos, ohne zuzuhören oder inne zu halten.

Ähnlich wie YOU CAN COUNT ON ME handelt auch MANCHESTER BY THE SEA von der Rückkehr in eine emotional kontaminierte Kleinstadt. Doch während YOU CAN COUNT ON ME und MARGARET mit dem Ur-Trauma anfingen, das dann wie ein Schatten über den Charakteren lag, sieht man in MANCHESTER BY THE SEA lange Zeit nur den Schatten: In Lee Chandlers Hausmeisterwohnung im Souterrain eines Wohnblocks in Quincy ist nur das Nötigste lieblos hineingestellt. Seine Arbeit verrichtet Lee zuverlässig, jedoch so abwesend und wortkarg, dass sich die Mieter regelmäßig über seine Ruppigkeit beschweren. Aber auch die Kündigungsdrohung des Verwalters prallt an ihm ab. Casey Affleck spielt Lee in einer oscarwürdigen Performance als verschlossenen Handwerker-Typen, den nichts erschüttern kann, nicht weil er zu schüchtern oder zu cool ist, sondern weil es ihn einfach alles nicht kümmert. Es sei denn, jemand kommt ihm zu nahe, dann kann es sein, dass Lee unversehends explodiert. Eines Morgens erreicht Lee die Nachricht, dass sein Bruder Jo an einem Herzinfarkt gestorben ist und Lee bricht in die Hafenstadt Manchester-by-the-Sea auf, in der er sich noch linkischer bewegt als ohnehin schon. Was immer es ist, dass ihn umtreibt, es ist hier passiert.
Mit kleinsten Nuancen bauen Lonergan und sein souveräner Cast eine ungeheure emotionale Spannung auf. Jede Begegnung, die Lee hat, scheint aufgeladen mit einem verheerenden Wissen, an das niemand rühren möchte. Fast sind die Abgründe umso spürbarer, umso mehr die Gespräche im Alltäglichen bleiben. Als Lee erfährt, dass Jo ihm in seinem Testament das Sorgerecht für seinen 16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) übertragen hat und ihn damit auch zu einer Rückkehr nach Manchester-by-the-Sea drängt, ist er geschockt, zieht aber dennoch erstmal bei Patrick ein, zu dem er, das legen Bilder aus früheren Tagen nahe, einst eine innige Onkel-Neffe-Beziehung hatte. Während Patrick und Lee ganz sachte wieder an ihr altes Verhältnis anzuknüpfen beginnen, legen Rückblenden nach und nach offen, was dazu geführt hat, dass Lee es kaum aushält in dem hübschen Städtchen am Atlantik, in dem er ständig in Gefahr ist, seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) zu begegnen.

MANCHESTER BY THE SEA ist unglaublich traurig und zugleich tröstlich. Lonergans Charaktere haben außergewöhnliche Schicksalsschläge zu verkraften. Aber ihre Tragödien interessieren Lonergan nicht so sehr wie die Art, wie diese Erfahrungen, und damit letztlich alle Erfahrungen, unsere Art zu leben, zu lieben, Dinge zu entscheiden und Beziehungen zu gestalten, beeinflussen. Sein Thema ist das Weiterleben. Welches der richtige Weg ist, welches der überhaupt mögliche, und welches der vielleicht richtigste der überhaupt möglichen Wege, ist ständig im Fluss und für jeden Menschen jederzeit anders.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: Manchester By The Sea
USA 2016, 135 min
Genre: Drama
Regie: Kenneth Lonergan
Drehbuch: Kenneth Lonergan
Kamera: Jody Lee Lipes
Musik: Lesley Barber
Verleih: Universal Pictures International
Darsteller: Michelle Williams, Casey Affleck, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Lucas Hedges
FSK: 12
Kinostart: 19.01.2017

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IMDB

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