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Lieber Thomas

Bekenntnis zum Fragment

In ihrem Thomas Brasch-Biopic arbeiteten Regisseur Andreas Kleinert und Autor Thomas Wendrich spielerisch mit dem Faktenmaterial, wirbeln es wild durcheinander, lassen weg, dichten hinzu, über- und untertreiben.

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Vor 20 Jahren verstarb Thomas Brasch. Als er im Herbst 2001 zu Grabe getragen wurde, war er in der Öffentlichkeit nahezu vergessen. Dabei hatte er einst zu den gefragtesten deutschen Schriftstellern gehört, zeitweilig galt er sogar als der meistgespielte deutschsprachige Dramatiker. Das war Ende der 1970er, Anfang der 1980er, kurz nach seiner Übersiedelung von Deutschland-Ost nach Deutschland-West, von Berlin nach Berlin. Alles schien ihm damals zu gelingen. Die Feuilletons rissen sich um ihn, ebenso die Sender und Bühnen. Er veröffentlichte pausenlos, heimste Preis um Preis ein. Und dann erfüllte er sich seinen eigentlichen künstlerischen Lebenswunsch: Er drehte einen ersten Spielfilm. Die während der Berliner Blockade 1948 spielende, abgründig-sentimentale Gangster-Ballade ENGEL AUS EISEN feierte als bundesdeutscher Wettbewerbsbeitrag im Frühjahr 1981 in Cannes Premiere. Welch ein Triumph für den exmatrikulierten DDR-Filmstudenten! Als er im selben Jahr aus den Händen von Franz Josef Strauss den mit 50.000 Mark dotierten Bayrischen Filmpreis entgegennahm, bedankte er sich bei der Babelsberger Filmhochschule für seine Ausbildung. Und das war nicht ironisch gemeint - sondern dialektisch gedacht.

Den berühmten Eklat, den die Preisvergabe damals in München auslöste (in YouTube auffindbar), haben Regisseur Andreas Kleinert und Autor Thomas Wendrich nicht mit aufgenommen in ihre Reise durch das ungestüme, schöne, gefährliche und abgrundtief traurige Leben des Thomas Brasch. Ansonsten hat natürlich eine ganze Reihe von biografischen Zäsuren Einzug gefunden. So die Kasernierung als Kadett im Alter von 12 Jahren, das Aufbäumen gegen den Einmarsch der „sozialistischen Bruderländer“ in Prag 1968, die Auslieferung an „die Organe“ durch den eigenen Vater. Danach Haft, Bewährung in der Produktion, latente Überwachung und „Bearbeitung“ durch das Ministerium für Staatssicherheit, schließlich die Abschiebung in den Westen im Dezember 1976. Und noch später sein Aufstieg im Kulturbetrieb des Westens: Schickeria, Big Apple, immer öfter Drogen aller Art, Abstürze. Diese authentischen Stationen erscheinen bereits ohne jede Ausschmückung wie dramaturgisch pointierte Eckpunkte eines Dramas oder Romans - oder eben eines konventionellen Biopics. Doch Kleinert und Wendrich widerstanden der Versuchung, sie als bequemes Gerüst zu nutzen und sich daran entlangzuhangeln. Stattdessen arbeiteten sie spielerisch mit dem Faktenmaterial, wirbelten es wild durcheinander, ließen weg, dichteten hinzu, über- und untertrieben. Dies alles mit einer im deutschen Kino selten erlebten Lust und Laune. Ihr Film ist zwar chronologisch aufgebaut, setzt sich aber lässig über die Klischees von kausaler Sinnhaftigkeit hinweg. Der Maßlosigkeit ihres Antihelden treten sie auf Augenhöhe entgegen.

Möglicherweise hätte Thomas Brasch diesen Film gemocht. Ein größeres Lob lässt sich indes kaum denken. Denn wer sich an ihn als Mensch erinnert, weiß um sein schneidend scharfes Kritikvermögen. Er konnte gegenüber unaufrichtigen Kunstäußerungen zornig bis hin zum Zynismus sein, vernichtend im Urteil oder stumm verachtend. Er war aber gleichzeitig stets verletzbar und offen. Dieser Durchlässigkeit kommt der Film in seiner Gestalt nahe. Zunächst ist es schon mal eine gute, weil seltene Idee, ein Gedicht als Gerüst für eine erzählerische Rahmung zu nutzen. In nur sieben Zeilen spitzte Brasch in seinem Text namens „Was ich habe, will ich nicht verlieren“ die Zerrissenheit zwischen Besitz und Verlust zu, zwischen Bleiben und Gehen, Leben und Tod. Die sieben Zeilen des Gedichts ziehen sich durch die 150 Minuten des Films, erwischen einen immer unerwartet, zerschneiden die Handlungslinien, bündeln sie gleichzeitig, verbinden und trennen die scheinbar erratischen Blöcke der Szenen. Sie erinnern auch daran, dass wir uns beim Sehen in einem Kunstraum bewegen. Brasch war trotz seiner Besessenheit vom Kino vor allem und zuerst immer Dichter. Die Sprache blieb sein Zuhause. Nicht Ost-, noch West-Berlin, und erst recht nicht New York konnten ihm zur Heimat werden. Den Boden unter den Füßen verlor er erst, als seine Stimme nicht mehr gehört wurde. Sein öffentliches Verstummen spiegelte sich paradoxerweise in der manischen Niederschrift eines mehrere tausend Seiten umfassenden Manuskript über den „Mädchenmörder Brunke“. Ein absurd kurzer Auszug von 80 Seiten bleib seine letzte zu Lebzeiten erschienene Publikation.

Von all diesen Höhen und Tiefen erzählt der Film. Dass er sich an seiner Material- und Gefühlsfülle nicht verhebt, glückt durch das Bekenntnis zum Fragment. Hier wird nichts „auserzählt“, es gibt keine umständlichen Erklärungen, viele Figuren tauchen so schnell auf, wie sie wieder verschwinden. Man muss sich schon in diesen Wirbel fallen lassen, um etwas zu verstehen. Deshalb haben wir es hier auch explizit mit Kino zu tun - und nicht mit dem Teilprodukt einer möglichst breiten Auswertungskette. LIEBER THOMAS ist ganz klar Andreas Kleinerts bester Film seit WEGE IN DIE NACHT (1999). Ein Zufall, dass er damals Hilmar Thate in der Hauptrolle besetzte? Sicher nicht. Thate spielte auch in Braschs Kinodebüt eine zentrale Figur. Kleinert geht jetzt mit seiner Referenz so weit, dass er eine Schlüsselszene aus ENGEL AUS EISEN als konkretes Zitat direkt in seinen Film implantiert.

LIEBER THOMAS steckt voller solcher Überraschungen. Da ist zum Beispiel die Idee, eine wichtige Traumsequenz nicht mit den üblichen Weichblenden und sphärischen Klängen einzuläuten, sondern geradezu slapstickhaft, in Zeitraffer und mit Stop-Motion-Effekten zu inszenieren. Mehrfach kippt die eben noch realistische Atmosphäre übergangslos in ausufernde Phantasmagorien. Die heterogenen Elemente des Films werden nicht zuletzt durch die Schnittmeisterin Gisela Zick und den Bildgestalter Johann Feindt zusammengehalten - zwei langjährige Partner Kleinerts. Gedreht wurde in Schwarzweiß und Cinemascope, dem Lieblingsformat Braschs. Feindts Kamera macht die Enge weit und die Weite eng. Sie steigt in lichte Höhen, taumelt und stürzt mehrfach krachend ab. Sie umtanzt die Figuren, lässt trotz aller Empathie nie vergessen, dass es sich eben dann doch „nur“ um Darsteller handelt. Albrecht Schuch in der Titelrolle durchläuft die aufreibenden Metamorphosen bravourös; obwohl er mehrfach besessen auf die Tasten seiner Schreibmaschine einhieben muss, entkommt er weitgehend den Mustern eines genialischen Künstlerporträts. Vom präzisen Joel Basman als tragisch endenden Bruder Klaus wünschte man sich noch mehr Szenen. Und den in Parteidisziplin gefangenen Vater spielt Jörg Schüttauf stets überraschend-vielschichtig. (Er ist zudem in einer kuriosen Doppelrolle zu erleben!)

LIEBER THOMAS kann durchaus als „Männerfilm“ bezeichnet werden. Und wenn in einer Filmkritik nicht ganz auf Kritik verzichtet werden soll, dann könnte auch auf ein gewisses Zuviel an hedonistischen Momenten verwiesen werden sowie auf die an manchen Punkten doch etwas zu illustrativ geratene Musik. Doch diese Abstriche fallen wenig ins Gewicht. Alles in allem brilliert das Werk als ein Höhepunkt des jüngsten deutschen Kinos. Es erweist Thomas Brasch eine würdige Ehre. Ja, vermutlich hätte ihm dieser Film tatsächlich gefallen.

Claus Löser

Details

Deutschland 2021, 150 min
Genre: Drama
Regie: Andreas Kleinert
Drehbuch: Thomas Wendrich
Kamera: Johann Feindt
Schnitt: Gisela Zick
Musik: Daniel Kaiser
Verleih: Wild Bunch
Darsteller: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schüttauf, Anja Schneider
FSK: 16
Kinostart: 11.11.2021

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