ANXIETY begleitet die beiden Schwestern Małgorzata und Lucja auf einem von Alltäglichkeit geprägten Roadtrip von Polen in die Schweiz und schließlich in den sicheren Tod. Während FaceTime-Calls geführt, Lippenstifte gekauft und Termine gebucht werden müssen, und während Lucja weiterhin geneigt ist, an verheißungsvolle neue Medikamentenstudien zu glauben, ist Małgorzata krebskrank im Endstadium. Bei Locarno möchte sie assistierten Suizid begehen.

Das polnische Roadmovie exerziert die emotionalen Grenzzustände durch, die beide Schwestern aus unterschiedlichen Gründen in oft polar entgegengesetzter Weise erleben. Lucja ist eine impulsive, gefühlvolle Kosmetikerin, die weder ihre Schwester verlieren noch deren Wunsch nach einem selbstgewählten Lebensende ausschlagen will. Małgorzata dagegen ist eine berechnende, erfolgreiche Anwältin, die weder Lucja verletzen noch dahinsiechen möchte. Gehalten von diesen inneren Spannungsbögen beschimpfen sich die beiden Protagonistinnen, tanzen miteinander, flüchten und kommen zurück, entscheiden sich hin und her. ANXIETY zeigt, welches eigenartige Tor sich öffnet, wenn der Tod naht und das Leben noch in vollem Gange ist. Auch dank des sinnlichen Spiels von Magdalena Cielecka und Marta Nieradkiewicz wird das zu einem Plädoyer dafür, das Herz auf der Zunge zu tragen: Angesichts des Todes ist auch erlaubt, was sonst als unsittlich oder verstörend gilt – wenn es nur hilft, ihn als Teil des Lebens anzunehmen. Oder wenigstens das Leben noch einmal zu feiern, bevor es sich dem offenbar Unvermeidlichen beugt.

Die versöhnlichen Momente dieser Meditationsübung sind keineswegs transzendent, sondern vielmehr übermäßig diesseitig. Denn manchmal langt eben Einfaches zum völligen Glück: Sex, ein Seeblick, ein Ritt auf einem Pferd.

Christopher Suss