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Jeder schreibt für sich allein

Schriftsteller*innen in Nazi-Deutschland

Dominik Graf begibt sich in einer fast dreistündigen Doku auf die Spuren von Schriftsteller*innen in Nazi-Deutschland.

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Die Geschichten von Künstlern und Intellektuellen, die vor der NS-Diktatur ins Exil flohen, sind vielfach erzählt worden. Weniger gut beleuchtet und moralisch uneindeutiger sind die Schicksale der Dagebliebenen. Aus heutiger Sicht ist zum Beispiel schwer nachzuvollziehen, wieso ein von den Nazis verbotener Autor wie Erich Kästner, der 1933 die Verbrennung seiner Bücher mit ansah, nicht das Land verlassen hat. Auch Gottfried Benn, Hans Fallada, Ina Seidel und viele andere blieben. Anatole Regnier wollte ihre Motivationen besser verstehen, nicht von heute urteilen, sondern den damaligen Alltag und damalige Weltsicht nachvollziehen. Das Buch „Jeder schreibt für sich allein“ ist das Ergebnis seiner Recherchen. Dominik Graf ist befreundet mit Regnier, hat den Entstehungsprozess des Buches mitverfolgt und teilweise schon während des Schreibens, teilweise danach mit filmischer Recherche darauf reagiert. Entstanden ist ein fast dreistündiger Essayfilm, der das Buch ergänzt.

Graf bedient sich einer Vielzahl stilistischer Mittel. Die Annäherung an die individuellen Biografien findet jeweils auf etwas unterschiedliche Weise statt. Das klassische Dokumentarfilm-Vokabular aus Archivbildern, Originaltexten, Filmausschnitten und Interviews mit Nachkommen der Porträtierten und mit Literaturkundigen von heute wird kommentiert und illustriert durch Szenen, in denen der Filmemacher sich die Freiheit nimmt, eigenen Assoziationen zu folgen. Symbolhafte Bilder, eine kurze, fast Experimentalfilm-artige Annäherung an den Begriff „innere Emigration“, eine phantasierte Sequenz in einem nächtlichen Buchladen. Zusammen ergibt das ein komplexes Panorama einer Zeit, die Graf als „zerklüftete Katastrophenlandschaft“ beschreibt, in der die Porträtierten sich höchst unterschiedlich positionierten. Von begeistertem Feiern der nationalen Erweckung (Benn, Johst, Vesper und andere, heute weniger bekannte NS-Unterstützer) über „Emigration aufs Land“ innerhalb Deutschlands (Fallada, Seidel) bis zum Durchlavieren in einer Art innerer Aufspaltung, mit der vermutlich Kästner die NS-Zeit überlebte, gab es viele Varianten.

Der Film präsentiert eine Fülle an Wissen und Gedanken, unternimmt aber durch seine kunstvolle, nicht didaktische Form auch eine sinnliche und emotionale Annäherung an eine andere Zeit. Das interessiert Regnier und Graf viel mehr als moralische Urteile, trotzdem wird man beim Zuschauen angeregt, intensiv über moralische Fragen nachzudenken. Letztlich ist es damals wie heute eine Frage der persönlichen Definition, was man vor sich selbst als Mitläufertum definiert, was als Überlebensgeschick und was als Verdrängung. Mir hat manchmal ein etwas psychologischerer Blick gefehlt, die Frage, auf welche inneren Gegebenheiten der Nationalsozialismus bei den Einzelnen getroffen ist, und was manche Menschen so zu innerer Abspaltung und Abschottung befähigt, während andere genau das nicht können. Aber wenn ein Dokumentarfilm so zu weiterem Nachdenken anregt wie dieser, hat er sein Ziel erfüllt.

Susanne Stern

Details

Deutschland/Frankreich 2023, 167 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf, Constantin Lieb
Kamera: Markus Schindler
Verleih: Piffl Medien
FSK: 12
Kinostart: 24.08.2023

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