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Je suis Charlie

Hommage, Manifest, Mahnruf

Der sehr persönliche Dokumentarfilm JE SUIS CHARLIE erzählt von der Vorgeschichte der islamistischen Anschläge vom Januar 2015, bei denen in der Redaktion der französischen Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und in einem jüdischen Supermarkt 16 Menschen ermordet wurden und erinnert an Zeichner und Mitarbeiter, die ums Leben kamen.

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2006 veröffentlichte das Satiremagazin Charlie Hebdo in einer Solidaritätsaktion die umstrittenen Mohammed-Karikaturen, die zuvor in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten erschienen waren und weltweit zu gewalttätigen Protesten von Muslimen geführt hatten. Den Titel der Ausgabe zierte ein Bild des weinenden Propheten und die Überschrift „C’est dur d’être aimé par des cons“ (Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden). Der Dachverband französischer Muslime verklagte die Zeitschrift daraufhin wegen Beleidigung. Die Filmemacher Daniel und Emmanuel Leconte, ein Vater-Sohn-Team, drehten damals einen Film über die Macher des Magazins und den Prozess, der beispielhaft die Sache der Meinungsfreiheit vs. den Schutz religiöser Gefühle verhandelte und zugunsten der Meinungsfreiheit entschieden wurde.

Mit ihrem aktuellen Film JE SUIS CHARLIE (L’HUMEUR À MORT) reagieren die Lecontes nun auf die Anschläge vom 7. und 8. Januar 2015, bei denen islamistische Attentäter zunächst die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und später einen jüdischen Supermarkt überfielen und 16 Menschen ermordeten. Ihr Film ist offenherzig persönlich, sehr bewegt und sehr bewegend. Weniger Dokumentarfilm als politisches Manifest, Hommage und Mahnruf. Immer wieder beschwören die Regisseure die Erinnerung an das Gemeinschaftsgefühl und die Betroffenheit, die Millionen von Franzosen nach den Anschlägen am 11. Januar auf die Straßen von Paris trieben, um der Toten zu gedenken und die Meinungsfreiheit zu verteidigen, fast so als wollten sie dieses Gefühl der Solidarität und des liberalen Selbstverständnisses wach halten.

JE SUIS CHARLIE ruft die Vorgeschichte der Attentate ins Gedächtnis – die Debatte um die Mohammed-Karikaturen und die Position, die Charlie Hebdo in ihr einnimmt - und geht dann noch einmal Tag für Tag detailliert den Ablauf der Ereignisse in den Januartagen des letzten Jahres durch. Überlebende, darunter die Zeichnerin Coco, die an jenem Tag den Terroristen die Tür öffnete und der Mitgeschäftsführer Eric Portheault, der auf den Boden gekauert überlebte, erzählen, wie sie den Überfall erlebt haben, aber auch von der Zeit danach. Von der Welle der Solidarität, aber auch von den ersten Gegenstimmen, die sich nur wenige Tage nach den Morden gegen die Zeitschrift wenden. Und von der achtseitigen Januarausgabe, die die Verbliebenen in einer unglaublichen, möglicherweise auch kathartischen, Anstrengung zusammenstellen.

Es gibt viele erschütternde, erhellende und rührende Momente in JE SUIS CHARLIE. Am eindringlichsten waren für mich die Aufnahmen, die diese Rest-Redaktion an der Arbeit zeigen. Sie spiegeln die Aufnahmen der Redaktionsarbeit, die die Lecontes acht Jahre früher für ihren ersten Film gemacht haben und sie vermitteln einen Eindruck vom Mikrokosmos Charlie Hebdo. Die Zeichner und Texter, die sich zum Teil seit Jahrzehnten kennen, sitzen gemeinsam in einem Raum und debattieren, zeichnen und texten. Entwürfe werden nebeneinander an die Wand gepinnt, die besten ausgesucht und in eine Reihenfolge gebracht. Luz eröffnet die Sitzung mit den Worten: „Wie immer versuchen wir, mit unseren kleinen Zeichnungen von allem zu erzählen, was in dieser Welt seltsam und bizarr ist. Wir stecken in dieser seltsamen und bizarren Welt fest und müssen einen Weg herausfinden.“ Sogar in diesem traurigen Spiegelbild, in dem viele der wichtigsten Protagonisten fehlen, ist noch die Freude an der gemeinsamen Arbeit, am Witz und der Debatte, zu spüren, die das Magazin ausmachte.

JE SUIS CHARLIE nimmt sich auch die Zeit, an die einzelnen Zeichner und Mitarbeiter, an Charb, Cabu, Tignous, Wolinski und die anderen, die in diesem Kreis nun fehlen, in Archivaufnahmen, Erinnerungen von Kollegen und natürlich Cartoons zu erinnern. Für die Lecontes - das merkt man deutlich - ist ihr Tod auch ein sehr persönlicher Verlust.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: L'humeur à mort
Frankreich 2015, 90 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Daniel Leconte, Emmanuel Leconte
Drehbuch: Daniel Leconte, Emmanuel Leconte
Kamera: Damien Girault
Schnitt: Grégoire Chevalier-Naud
Verleih: Temperclay Filmverleih
FSK: oA
Kinostart: 07.01.2016

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