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In den Gängen

Sehnsuchtstapeten und Warenwirtschaft

Eine Liebe im Mikrokosmos Großmarkt: Der schweigsame Christian tritt eine neue Stelle im Lager an. Kollege Bruno zeigt ihm, wie man den Gabelstapler fährt. Marion scheint ihn zu mögen, ist aber verheiratet.

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Ob es Miltitz als Ort wirklich gibt, oder ob es sich hierbei um eine Drehbucherfindung handelt, lässt sich zum Glück schnell googlen. Der Name steht im Film als Endstation auf einem Nachtbus. „Ortsteil von Leipzig“ spuckt Wikipedia aus und verortet Thomas Stubers ansonsten inszenatorisch wenig an sozialem Realismus interessierten Film IN DEN GÄNGEN schnell in einem konkreten Teil Ostdeutschlands. Und siehe da: Stuber selbst kommt aus Leipzig, braucht Miltitz sicher nicht zu googlen und hat eine Kurzgeschichte des in Leipzig aufgewachsenen Clemens Meyer zu einem Langfilm gemacht, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feierte.

Diese Realitätsabgleiche scheinen deshalb sinnvoll, weil IN DEN GÄNGEN zu Beginn wie ein Märchen daherkommt, und es einige Zeit braucht, bis seine Figuren den gigantischen Großsupermarkt, in dem sie alle arbeiten, überhaupt einmal verlassen. Mit dem Bus, dem Fahrrad oder dem Auto geht es dann in die kleinen Wohnungen oder größeren Eigenheime der Umgebung. Doch erst einmal bleiben wir in der Welt von Konserven, Süßwaren, Tierfutter, Waschmittel, Feinkost und Tiefkühlwaren – eine Welt, in der Kollegialität zählt, die Staplerfahrer*innen ihre kleinen Konflikte austragen und die Zuständigkeiten genau wie die Fachbereiche ansonsten geklärt sind.

Kameramann Peter Matjasko findet große Bilder für die kleinen Angestellten und gibt dem Kosmos der Lohnarbeit dabei etwas Majestätisches. Zwischen Warenwirtschaft, Sortierung und Maschinenhydraulik geraten Sehnsuchtstapeten von entfernten Paradiesen in den Fokus und die Kunden und Kundinnen in den Hintergrund. Nachts ertönt klassische Musik im Supermarkt, ansonsten herrscht oft ein Rauschen auf der Tonspur in einer Welt, die nur das Kunstlicht, und somit keine Tageszeiten kennt. Erinnerungen an die Filme von Andreas Dresen und seinen bemüht naturalistischen Blick auf den Osten könnten hier nicht weiter entfernt sein.

Drei Figuren bilden das Handlungsdreieck des Films und sind mit drei der interessantesten Schauspieler*innen des zeitgenössischen deutschen Kinos besetzt. Christian (Franz Rogowski) ist der Erzähler des Films. Sein Blick auf Marion (Sandra Hüller) ist auch der Blick der Kamera. Wenig und spät erfahren wir über seine Geschichte vor der Probezeit im Markt. Seine Verschlossenheit, martialische Tattoos auf dem ganzen Körper und der erste Absturz in einer Kneipe lassen auf eine Vorgeschichte schließen, in der Christian am Abgrund tanzte. Marion, sein love interest, gibt sich anfangs keck und flirtend. Später schwankt ihre Stimmung genau wie ihre Präsenz im Markt, und wir lernen, dass sie verheiratet ist. Dann wäre da noch Bruno (Peter Kurth), der gute Kollege, der Christian einarbeitet und die Geschichte des Filmes letztlich doch zu einer sehr klaren ostdeutschen Nachwendegeschichte macht.

Es ist schön, dass uns Thomas Stuber lange nicht mit einer Betroffenheit belästigt, die eine ostdeutsche Arbeiterklasse in einem Spannungsfeld aus Kleinbürgerlichkeit und Perspektivlosigkeit bemitleidenswert erscheinen lässt. Stattdessen präsentiert sich hier mal ein überhöhtes, mal ein reduziertes und nicht zu Ende erzähltes Bild von Menschen, deren Bezugssystem ausgerechnet der grenzenlose Konsum ist, beziehungsweise dessen Organisation. Da darf es dann auch ruhig mal etwas kitschig werden, denn Clemens Meyers Milieustudie basiert auf Menschen, die er kennt, und findet ihren Weg sehr leise und ohne klare Anklage zu einer ostdeutschen Realität, die man so im deutschen Film wohl noch nicht gesehen hat.

Man kann sich sicherlich über vieles streiten, zum Beispiel darüber, ob wir Sandra Hüller abnehmen, in einem Supermarkt zu arbeiten, oder ob diese Inszenierung nicht etwas zu romantisch mit ihren Bildern des Kapitalismus umgeht. Dass es IN DEN GÄNGEN dabei aber sehr konsequent schafft, sich nicht anzubiedern und eine Form findet, der es gelingt, zwei Stunden zu fesseln, ist hingegen unbestreitbar. Genauso wie die Existenz von Miltitz, einem Ortsteil von Leipzig.

Toby Ashraf

Details

Deutschland 2018, 125 min
Genre: Drama
Regie: Thomas Stuber
Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber
Kamera: Peter Matjasko
Schnitt: Kaya Inan
Verleih: Zorro
Darsteller: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold
Kinostart: 24.05.2018

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