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Horse Money

Wie aus Steinen geschlagen

Zwischen Fiktion und Dokumentation angesiedelt, entfaltet sich HORSE MONEY als eine Folge von Szenen in verschiedenen institutionellen Settings spielen: Psychiatrische Anstalt, Krankenhaus und Gefängnis. Ventura und Vitalina, die wie er von den Kapverdischen Inseln in das ehemalige koloniale Mutterland Portugal eingewandert ist, erzählen und durchleben Episoden ihres Lebens, rufen die Geister verstorbener und verschwundener Freunde, Gefährten, geliebter Menschen.

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Den Anfang machen Schwarzweissaufnahmen. Jacob Riis hat sie um 1900 gemacht, in den Tenements der Lower East Side von Manhatten, als diese der am dichtesten besiedeltste Ort der Welt waren, bewohnt von Immigranten, in Umständen, die Riis unter dem Titel "How the Other Half Lives" der Welt als skandalös vor Augen führen wollte. Die Szenen aus Straßen und Wohnungen, Kneipen und Hinterhöfen, Beobachtungen und Portraits, Riis Fotografien, wie auch die große Reportage, deren Teil sie waren, gelten als wegweisender Moment der Herstellung dokumentarischer Beweiskraft. Sie stehen zum einen im Kontext neuer technologischer Möglichkeiten - Blitzfotografie machte Aufnahmen in den oft finsteren Straßen und Räumen erst möglich. Zum anderen gehören sie einer spezifischen Poetik des Realen an, einer frühen Form des investigativen Journalismus in Wort und Bild, der im Arrangement ein Mittel der Wahrheitsfindung erkennt.

So reihen sich in den ersten Minuten von Pedro Costas jüngstem Film HORSE MONEY Riis Standbilder aneinander, erzählen ihre eigene Geschichte von subproletarischem Leben vor 100 Jahren und eröffnen dem Film zugleich einen weiten ästhetischen Bezug. Das scheinbar letzte Bild der Montage-Sequenz ist ein Gemälde, Portrait eines jungen schwarzen Mannes. In das Bild kommt auf einmal Bewegung, die Kamera schwenkt zur Seite, erfasst einen Raum, der an ein Verließ erinnert und folgt einem alten Mann eine Treppe hinab, an deren Ende er ein Eisengitter öffnet und hindurch tritt. Die Szenerie - Figur und Raum, Licht und Schatten - erinnert an den expressionistischen Stummfilm. Der alte Mann heißt Ventura und ist der Held des Films, wie auch schon in COLOSSAL YOUTH (2006) und einigen Kurzfilmen dazwischen. Und wir treten mit ihm ein in einen verzweigten, verwinkelten und verschlossenen Raum erlebter Geschichte.

1997 drehte Pedro Costa den Film OSSOS in Fontainhas, einem heute geschliffenen Slum in Lissabon. Die Erfahrung des Zusammenpralls zweier Welten, eines 35mm Kunst-Kinos mit seiner Apparatur vom Drehbuch bis zur Beleuchtung, und dem Viertel und seinen marginalisierten Bewohnern und Bewohnerinnen, die zum Teil als Laiendarsteller an dem Film mitwirkten, löst eine Bewegung aus, die Costas nachfolgendes Werk maßgeblich prägt und ihn zu einem der wichtigsten Entwürfe eines zeitgenössischen politischen Kinos geführt hat. Eines Kinos, das sich einer einfachen Unterscheidung von fiktional und dokumentarisch entzieht. Costas Filme entstehen seither mit minimalen technischen Mitteln, erarbeitet über lange Zeiträume zusammen mit den Protagonisten, aus deren Leben und Geschichten, Erfahrungen und Lebensräumen Bilder geformt werden, wie Skulpturen aus Steinen geschlagen.

HORSE MONEY entfaltet sich als eine Folge von Szenen, die in ihrer großen Mehrzahl in verschiedenen institutionellen Settings spielen, zwischen psychiatrischer Anstalt, Krankenhaus und Gefängnis. Ventura und die zweite zentrale Protagonistin des Films, Vitalina, die wie er von den Kapverdischen Inseln in das ehemalige koloniale Mutterland eingewandert ist, erzählen und durchleben Episoden ihres Lebens, rufen die Geister verstorbener und verschwundener Freunde, Gefährten, geliebter Menschen. In der großartigsten Sequenz des Films erzählt ein Song der kapverdischen Band Os Tubaroes, von einer tragischen Liebe in der Arbeitsmigration, während die Kamera eine Reihe von Menschen aus dem sozialen Universum von Ventura und Vitalina porträtiert. Der historische Horizont, der am Anfang anklingt und sich im Verlauf des Films immer mehr konkretisiert, ist die Revolution, die, angestoßen durch einen Aufstand von Teilen des Militärs, 1975 das Ende der Diktatur in Portugal bedeutete. Costa beschreibt in Interviews als einen der zündenden Momente des Films, die Einsicht, dass dieser Moment für ihn selbst und den wenig älteren schwarzen Einwanderer völlig unterschiedliche Erfahrungen zeitigte: Während sich Costa als 13-jährigem Anarchisten plötzlich das ganze Leben eröffnete: Politik, Musik, Literatur und Sexualität, versteckte Ventura sich verängstigt vor den Soldaten.

Versuche eine Handlung im klassischen Sinn zu erzählen laufen bei HORSE MONEY in die Leere, zu sehr ist hier das Kollabieren zeitlicher und räumlicher Ordnungen konstitutives erzählerisches Moment. Im Akt der Vergegenwärtigung ist alles Hier und alles Jetzt. Die Atemporalität verbindet sich mit dem tragischen Lamento Venturas über den zirkulären Verlauf des Ausgeschlossenseins: Wir werden weiter aus dem dritten Stock fallen, wir werden uns weiter an den Maschinen verletzen, wir werden weiter Kopfschmerzen und Lungenprobleme haben, wir werden weiter Verbrennungen haben, verrückt werden wegen der Feuchtigkeit an den Wänden unserer Häuser. So werden wir weiter langsam sterben, das ist unsere Krankheit, wenn Du mich nicht zuerst mit deinem Messer tötest, sagt er an einer Stelle. So desorientierend die mitunter phantasmatische Eigenlogik des Films manchmal wirken mag, ist er in einer anderen Hinsicht als eine unmittelbare Form dokumentarischen Kinos lesbar: als sichtbare Spur einer (Zusammen-) Arbeit der Erinnerung, die, um wirksam zu sein, zeitliche und soziale Räume überbrücken muss, ein meisterlicher und emphatischer Akt der Sichtbarmachung.

Sebastian Markt

Details

Originaltitel: Cavalo Dinheiro
Portugal 2014, 103 min
Genre: Essayistischer Film
Regie: Pedro Costa
Drehbuch: Pedro Costa
Kamera: Leonardo Simões
Verleih: Grandfilm
Darsteller: Tito Furtado, Vitalina Varela
Kinostart: 08.10.2015

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