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Haymatloz

Deutsches Exil in der Türkei

HAYMATLOZ erzählt, in Gesprächen mit deren Nachfahren, von deutschen Exilanten, die vor dem Hitlerregime in die Türkei flohen.

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Dass jetzt ein Dokumentarfilm in die Kinos kommt, der in der Türkei spielt und von der Entlassung unliebsamer Universitätsprofessoren aus ihren Ämtern handelt, mutet wie pure Ironie der Zeitgeschichte an. Nein, es geht nicht um die Gülen-Bewegung und die anti-demokratischen, innenpolitischen Maßnahmen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der nach einem Putschversuch des Militärs im Juli diesen Jahres erst den Ausnahmezustand verhängte und dann Massenentlassungen von türkischen Staatsdienern veranlasste - es geht um Reichkanzler Adolf Hitler und die (oft jüdischen) Professoren, die unter ihm das Land verlassen mussten - und in die Türkei flüchteten. Dass sowohl Hitler als auch Erdoğan ihre Maßnahmen als "Säuberungen" bezeichnen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Mit Ernst Reuter, Bruno Taut, Philipp Schwartz und Paul Hindemith, waren es namhafte Politiker, Architekten, Pathologen, und Komponisten, die vor den Nationalsozialisten in die Türkei emigrierten in einem Kapitel der "deutsch-türkischen Migrations- und Flüchtlingsgeschichte, […] die bis heute kaum bekannt ist", wie es das Presseheft zum Film treffend formuliert. Im Film HAYMATLOZ (einem türkischen Lehnwort für die staatenlosen, heimatlosen Exilanten) der türkischen Filmemacherin Eren Önsöz kommen fünf Frauen und Männer zu Wort, deren Vorfahren ab 1933 aus Deutschland in die Türkei flüchteten, und deren Kindheit zusammenfiel mit den reformistischen Plänen des Mustafa Kemal Atatürk, dem Begründer und Präsidenten der ersten türkischen Republik.
Auf gewöhnungsbedürftigen musikalischen Soundteppichen spaziert Eren Önsöz zum Beispiel mit Elisabeth Weber-Belling, Tochter des Bildhauers Rudolf Belling, oder Enver Tandogan Hirsch, Sohn des Juristen und Rechtssoziologen Ernst Eduard Hirsch nach 40 Jahren Abwesenheit durch Ankara und Istanbul und überlässt ihre ProtagonistInnen den Erinnerungen. Gerade wenn sich beim Zusehen der Verdacht einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit oder der eines allzu romantischen Bildes der Kindheitstage einstellt, fällt die Formulierung der "notwendigen Nostalgie", die für die Heimatlosen ihr "Lebenselixier" war und ist.
Zwar entstand der Film vor den Putschversuchen, jedoch nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste im Taksim Gezi Park, durch dessen merkwürdig friedvoll wirkenden Wege uns die Kamera an einer Stelle führt. "Ich habe immer eine Gegentendenz gespürt, und die lässt nach. Das macht mir Angst", sagt eine auf einer Parkbank sitzende alte Frau nachdenklich. Erstaunlich in der Tat der Vergleich zwischen dem Damals und dem Jetzt, zwischen Atatürks säkularer und am Westen orientierter Reformpolitik – unter anderem führte er 1934 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ein – und dem zunehmend autoritäreren und konservativen Führungsstil Erdoğans, der von den Kindern der Exilanten in deutlichen Worten beschrieben wird: "Das dürfte das Ende der Idee unserer Vätergeneration sein, wenn sich die Politik in der Türkei so weiterentwickelt, wie sie sich im Moment entwickelt". In diesen Momenten, in denen der Film seine durchaus notwendige Geschichtsstunde in die aktuelle Gegenwart überführt, ist HAYMATLOZ besonders stark, weil er Fragen von Heimat und nationaler Zugehörigkeit auch jenseits einer Migrationsgeschichte stellt, und man sich unweigerlich fragen muss, wie schnell sich eine Republik vom Zufluchtsland für Unterdrückte zum Unterdrückerstaat wandeln konnte. Sinnbildlich hierfür sind die Momente an einer Kunstakademie, in der eine junge Generation von BildhauerInnen das Erbe Rudolf Bellings antritt und resigniert von einer Zäsur redet: "Wir wissen nicht, was in fünf bis zehn Jahren passiert", blickt eine junge Studentin in die ungewisse Zukunft einer ganzen Generation. Erschreckend auch, dass es im Jahr 2016 noch einen Film wie diesen braucht, um ein deutsches Publikum über die Emigrationsgeschichte der Verfolgten unter der NS-Diktatur zu informieren. Umso so erfreulicher, dass er jetzt in die Kinos kommt.

Toby Ashraf

Details

Originaltitel: Haymatloz – Exil in der Türkei
Deutschland 2016, 90 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Eren Önsöz
Drehbuch: Eren Ösnöz
Verleih: mindjazz pictures
FSK: oA
Kinostart: 27.10.2016

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