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Glück

Großstadtlichterliebe

Sascha und Maria lernen sich bei der Arbeit in einem Berliner Bordell kennen verlieben sich ineinander. Regisseurin Henrika Kull wählte für ihre Geschichte eine semi-dokumentarische Form, die reale Orte und tatsächliche Sexarbeiter*innen einbindet.

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Sascha ist Sexarbeiterin. Sie ist Anfang 40 und seit Jahren im Berliner Bordell „Queens“ tätig. Mit einem ewigen Lächeln bewegt sie sich souverän durch ihre Welt. Warten im Pausenraum, aufreihen vor den potentiellen Freiern, Sex, Wäsche waschen, dazwischen rauchen, schwatzen, mit den Kolleginnen flachsen und wieder warten. Als die neue Kollegin Maria erscheint, fühlt sich Sascha sofort angezogen von ihr. Die Mittzwanzigerin ist cool, tätowiert, trägt lange Vintage-Mäntel und einen angesagten Vokuhila-Look. Sie schreibt feministische Gedichte und ist queer. Auch Maria ist von der beliebten und lockeren Sascha angetan, und es entspinnt sich ein Flirt über Blicke und Kurznachrichten, ein Date im Imbiss und eine erste gemeinsame Nacht im „Park Inn Hotel“, weit oben über den Großstadtlichtern Berlins. Sascha und Maria sind kurz glücklich miteinander.

Maria, die aus Italien stammt, schickt ihrem Vater täglich Nachrichten. Das Geld fließe und sie plane, ganz Berlin zu kaufen. Auch in Saschas Leben gibt es eine Familie. Ihr 11-jähriger Sohn Max lebt mit dem Vater in Brandenburg, zwischen Windrädern und Patchwork-Idylle. Die Zugfahrten aufs Land bringen Sascha auch in eine Vergangenheit zurück, in der sie ihre Rolle nicht gefunden hat. Als Sascha Maria auf ein Dorffest einlädt, um ihr Max vorzustellen, gerät sie in die Mühlen dieses abgelegten Lebens. Den Anmachen der Männer tritt sie widerspenstig gegenüber, während Maria spielerisch damit umgeht und von Saschas aggressivem Gegenhalten eher abgestoßen wird. Die Souveränität Saschas wackelt mit der geballten Demonstration von Männlichkeit und Heterosexualität, und auch ihre Beziehung zu Maria gerät ins Schwanken.

Regisseurin und Autorin Henrika Kull konzentriert sich auf ihre beiden Protagonist*innen. Die Kamera von Carolina Steinbrecher kommt ihnen nahe, so nah, dass oft die Hintergründe verschwimmen, vorbeiziehen wie die Brandenburger Landschaft am Zugfenster, sich Bilder auflösen in flackernden Lichtern oder einem Gesicht. Henrika Kull recherchierte über Jahre in verschiedenen Bordellen und arbeitete in einigen selbst hinter der Bar oder als Assistenz der Hausdame. Für den Dreh kehrte sie mit den Darsteller*innen an einen dieser Orte zurück. Die Warteräume, die Kolleginnen, die Hausdame sind „echt“. Maria-Darsteller*in Adam Hoya ist selbst Sexarbeiter*in, Dichter*in, Model, Schauspieler*in und Instagram-Performer*in und war unter ihrem alten Namen Eva Collé im Doku-Kunstwerk SEARCHING EVA zu sehen.

Die Verdichtung von Realität und Spielfilm ist in GLÜCK kein prätentiöser Kunstgriff. Das semi-dokumentarische bzw. semi-fiktionale Konzept, das auch bei NOMADLAND, dem Oscar-Gewinner 2021, angewendet wurde, erhebt die Erzählung aus einer klischierten Fiktion in eine selbstbewusste Darstellung eines Milieus. Die Falle der Viktimisierung oder Romantisierung von Sexarbeit schnappt nicht zu. Katharina Behrens, als Sascha in ihrer ersten Kino-Hauptrolle, und Adam Hoya spielen die feinen Nuancen zwischen Zuwendung, Widerstand, Verletzlichkeit und Leichtigkeit, die die Figuren so charismatisch machen. Sie eignen sich ihre Körper an. Bestimmen über ihre Sexualität, in einem Job, der oft als das Ende jeder Selbstbestimmung gesehen wird. Henrika Kull wollte die subversive Kraft von selbstbestimmten Sexarbeiter*innen hervorheben. Frauen aus dem Trotz geboren, heißt es in Marias Gedicht, das im Film zitiert wird. Ein Trotz, der aus ihrer Rolle als „Ware Frau“ Kapital schlägt und die Frauen nicht zu Machtlosen macht, sondern zueinander führt, wachsen lässt und eben auch Momente des Glücks ermöglicht.

Clarissa Lempp

Details

Originaltitel: Glück – Bliss
Deutschland 2021, 90 min
Sprache: Deutsch, Englisch, Italienisch
Genre: Drama
Regie: Henrika Kull
Drehbuch: Henrika Kull
Kamera: Carolina Steinbrecher
Schnitt: Henrika Kull, Anna-Lena Engelhardt, Hannah Schwegel
Musik: Dascha Dauenhauer
Verleih: Edition Salzgeber
Darsteller: Katharina Behrens, Adam Hoya, Nele Kayenberg, Jean-Luc Bubert, Petra Kauner
FSK: 16
Kinostart: 22.07.2021

IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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