FAVORITEN ist eine sorgfältige Langzeitstudie von Ruth Beckermann (WALDHEIMS WALZER) über eine Wiener Grundschulklasse, die Beckermann drei Jahre lang begleitete, bis zum Ende der Grundschulzeit und der Einteilung der Kinder auf die weiterführenden Schulen, in Österreich sind das die „Mittelschule“ und die „Allgemein bildende höhere Schule“, umgangssprachlich und im Film „Gymnasium“ genannt. In der Klasse unterrichtet Lehrerin Ilkay Idiskut ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund.

Beckermanns Film beginnt fröhlich in der zweiten Klasse. Die Kinder tanzen und singen ein Lied, bei dem sie gleich auch die Bezeichnungen der Körperteile lernen. Frau Idiskut ist es gelungen, eine vertrauensvolle Umgebung für die Kinder zu schaffen. Obwohl sie aus unterschiedlichen Kulturen kommen, gehen die Kinder freundlich miteinander um. Aber spätestens in der vierten Klasse erhöht sich der Druck. Die Kinder lernen auf- und abrunden. Melissa soll die Zahl 172 runden – eigentlich steht das auf dem Lehrplan der dritten Klasse. Aber sie versteht das alles nicht. 200 vielleicht? 173? Die Lehrerin versucht, ihr verschiedene Hilfen zu geben: Wie zählt man die Zehner … Aber Melissa wird immer aufgeregter und kann nicht mehr denken. Am Ende sagt Frau Idiskut, die durchaus eine engagierte und liebevolle Lehrerin ist: „Schade“. Ja, schade.

Zu Beginn des Schuljahres gab es schlechte Nachrichten: Der Integrations-Deutschkurs ist gestrichen worden. Eine neue Schülerin kommt mitten im Schuljahr in die Klasse, aber sie spricht kein Wort Deutsch. Dafür wird sie von den anderen Kindern gemobbt und reagiert selbst mit Aggressionen. Frau Idiskut gelingt es, die einigermaßen wieder in den Griff zu bekommen, auch weil sie fließend türkisch spricht.

Aber als sie schwanger wird, gibt es zunächst nicht einmal einen Ersatz. Frau Idiskut, die vier Jahre gegen Windmühlen gekämpft hat, weint, und die Kinder mit ihr. Kurz vor knapp geht es dann doch, die Mindestanforderungen des Systems müssen eingehalten werden, auch für migrantische Kinder. Aber von dieser Schule aus schafft es kein Kind auf das Gymnasium, jedenfalls nicht auf dem ersten Bildungsweg. Das liegt nicht an den Kindern und auch nicht an der Lehrerin.

Tom Dorow