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Warten auf Bojangles

Durchs Leben tanzen

Nach dem Roman von Olivier Bourdeaut hat Regisseur Régis Roinsard einen Film über die psychische Erkrankung eines Paares als Amour fou gedreht.

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Nach dem Roman von Olivier Bourdeaut hat Regisseur Régis Roinsard einen Film über die psychische Erkrankung eines Paares als Amour fou gedreht. WARTEN AUF BOJANGLES erzählt die Geschichte einer Krise ohne die typischen Stationen der Verelendung, ohne existentiellen Geldmangel, ohne Wohnungsverluste, ohne Dance-Clubs und Bumsschuppen und mit Champagner statt Partydrogen, im putzigen „Quirky“-Stil, der irgendwo bei Jean-Pierre Jeunets AMÉLIE anfängt und bei Wes Andersons THE FRENCH DISPATCH bereits in eine ähnliche, abstrakt-tragische Richtung geht. Untypisch ist auch die Besetzung: Romain Duris als Georges und Virginie Efira als Camille sind keine naiven Teenager oder verplanten Twens, sondern Mitte/Ende 40. In ihren manischen Eskapaden spürt man die Schwerkraft, ihr Hüpfen, Rennen und Tanzen hat nie die jugendliche Leidenschaftlichkeit und Leichtigkeit wie aus dem Elendskitsch-Superhit LES AMANTS DU PONT-NEUF (1991) von Leos Carax.

Georges und Camille treffen sich auf einem Empfang für reiche Geschäftsleute, erzählen sich gegenseitig Lügengeschichten und finden sich viel fantasievoller als den Rest der Welt, verlieren sich, finden sich, heiraten, bekommen ein Kind. Sie leben in einer gigantischen Wohnung, mit einem Kranich als Haustier und feiern täglich rauschende Feste. Sie stehen ständig am Rand der Pleite, aber ein reicher Freund rettet sie immer wieder, wenn sie die Post nicht geöffnet haben und die Realität über ihnen einstürzt. Aber Camilles Psyche beginnt zu zerbrechen, und die Episoden werden gefährlicher und gewalttätiger. Vieles wird aus der Perspektive des kleinen Sohns Gary erzählt, der dem Treiben meist glücklich staunend, immer wieder aber auch völlig verängstigt zuschaut. Camille hört immer wieder den Song „Mr. Bojangles“ in einer neuen, über-melancholischen Version des neuseeländischen Singer-Songwriters Marlon Williams. Es gehe um einen Mann, der seinen Hund verloren habe, und der nun tanzt, bis der Hund wiederkehrt, erklärt Georges seinem Sohn. Soweit die Apologie des Paares: sich durchs Leben tanzen, um die Traurigkeit der Welt zu vergessen. Der Sohn fragt am Ende: „Wie können andere Kinder nur ohne meine Eltern leben?“ „Besser, Gary, besser“, möchte man ihm zurufen.

WARTEN AUF BOJANGLES schiebt einen distanzierenden Riegel vor seine Geschichte, die dadurch nicht unmittelbar bewegt, sondern erst dekodiert werden muss. Wofür die rauschenden Feste mit allmählich weniger glamourös werdenden Gäste stehen, was der bizarre „fantasievolle“ Heimunterricht des Sohnes bedeutet, was das „Schloss in Spanien“ nach dem Verlust der Wohnung symbolisiert, erschließt sich zwar leicht, aber der Zugang ist nicht direkt emotional. Der Film wirkt im Nachhinein stärker als während des Zusehens. Die charmante Verführung, die eigentlich dem Stil des Films entspricht, misslingt hier wohl auch absichtlich. Olivier Bourdeaut filmt die Lebenslüge, die auch die Lüge eines bestimmten filmischen Stils ist. BOJANGLES ist eine Art Anti-AMÉLIE.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: En attendant Bojangles
Frankreich 2021, 124 min
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Regie: Régis Roinsard
Drehbuch: Régis Roinsard, Romain Compingt
Kamera: Guillaume Schiffman
Schnitt: Loïc Lallemand
Musik: Clare Manchon, Olivier Manchon
Verleih: STUDIOCANAL
Darsteller: Virginie Efira, Romain Duris, Marie Fontanaz, Mira Rogliano, Juliette Blanche, Orianne Daudin
FSK: 12
Kinostart: 04.08.2022

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