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Ein Leben

Licht und Schatten

Normandie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jeanne, die Tochter eines Landadligen, wächst behütet und glücklich auf. Nach der Hochzeit mit einem mittellosen Vicomte findet sie sich in einer lieblosen Ehe wieder. Kunstvolle Verfilmung des Romans von Guy de Maupassant.

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Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de Maupassants gleichnamigem Roman fühlt sich an wie ein bewölkter Sommertag. Der Film, das Leben, gleitet dahin. Helle und dunkle Episoden wechseln einander ab, so unvermittelt und zugleich so fließend wie Licht und Schatten einander abwechseln, wenn die Wolken an der Sonne vorbeiziehen. Und genauso, wie wir keinen Einfluss auf den Wechsel von Licht und Schatten nehmen können, so scheinen auch die Wechselfälle des Lebens über Maupassants zunächst verträumte und dann schwermütige, lebensferne Heldin hinwegzuziehen.

EIN LEBEN spielt in der Normandie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jeanne, die Tochter eines Landadligen, wächst behütet und glücklich auf. Die ersten sonnendurchströmten Bilder des Films zeigen Jeanne als junge Frau, wie sie im Garten mit ihrem Vater Gemüse umpflanzt und später mit den Eltern Backgammon spielt. Ein zufriedener Kleinfamilienkokon aus Wohlwollen, Sicherheit und kleinen Freuden. Eine Szene, an die Jeanne später immer wieder zurückdenken wird. Als ein junger, hübscher, mittelloser Vicomte am Horizont erscheint, scheint sich für Jeanne das Glück zu weiten und in eine unendliche Zukunft zu verlängern. Doch auf Sonne folgt Schatten. Nach der Hochzeit mit Julien de Lamare findet sich Jeanne allein mit ihrem neuen, kalten Mann in dem großen, kalten Anwesen wieder, in dem jetzt nur noch abends geheizt werden darf, wenn Julien von seinen Geschäften zurück ist. Einsam sitzt Jeanne am Fenster und versucht die Zeit mit Stickerei totzuschlagen. „Komm, plaudere mit mir“, bittet sie ihre langjährige Zofe Rosalie, die von der gleichen Amme großgezogen wurde. „Ich habe zu tun, Madame“, kommt die Antwort. Jeanne, die nichts zu tun hat und keine Gesellschaft mehr, beginnt zu ahnen, dass sie den falschen Mann geheiratet hat und ein falsches Leben führen wird.

Stéphane Brizé (DER WERT DES MENSCHEN) erzählt von diesem Leben in lose aneinander gereihten Szenen, die sich immer ein Stück neben den großen Dramen abspielen. Als Jeanne entdeckt, dass ihr Mann sie betrügt, sehen wir sie kurz bevor sie sein Schlafzimmer betritt und dann wieder, blass und still, bei der großen „Aussprache“ mit dem Pfarrer, den Eltern und dem untreuen Ehemann, bei der alles wieder unter den Tisch gekehrt wird. Sie alle, die Autoritäten, die Lebenstüchtigen, bestimmen, und Jeanne leidet. Während sich nach und nach Katastrophe auf Katastrophe häuft, scheint Jeanne unfähig, darüber hinwegzukommen, dass das Leben nicht in den friedlichen Bahnen ihrer Kindheit weiterläuft.

Wunderschön gefilmte und kadrierte Bilder von Tristesse wechseln sich in EIN LEBEN ab mit lichtdurchfluteten Szenen von fröhlichen Tagen. Aus der Gegenwart flüchtet sich Jeanne in sonnige Erinnerungen an ihre Eltern und an die Verlobungszeit, später findet sie eine Freundin, eine kostbare Erinnerung schon im Moment des Entstehens. Allen diesen Momenten wohnt etwas so Verträumtes inne, dass man beginnt, an ihrer Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Hat Jeanne tatsächlich so im See mit Julien gebadet, oder ist das vergangene Glück lediglich eine Fantasie, ein Fluchtort im Elend? Immer wieder sieht man Jeanne in die Ferne blicken: aus dem Fenster, über das Meer, in den Regen. Szenen, die nahelegen, dass die Erzählung dazwischen sich auch komplett in Jeannes Gedanken abspielen könnte.

In einem delikaten Balanceakt erzählt EIN LEBEN von einem Frauenleben im 19. Jahrhundert, das von Konventionen, Denkverboten und Klassenzugehörigkeit so sehr geformt ist, dass es einem Gefängnis ähnelt – und zugleich davon, wie sehr das Leben, jedes Leben, auch das ist, was man denkt, fühlt und träumt: eine Geschichte, die man sich erzählt, während sie passiert.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: Une Vie
Frankreich 2017, 119 min
Genre: Drama, Liebesfilm
Regie: Stéphane Brizé
Drehbuch: Florence Vignon, Stéphane Brizé
Kamera: Antoine Héberlé
Schnitt: Anne Klotz
Verleih: Film Kino Text
Darsteller: Yolande Moreau, Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Swann Arlaud, Nina Meurisse
Kinostart: 24.05.2018

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